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Eine Landkarte des Verlustes und der Erinnerung. Heimatstuben in Deutschland und Polen.

Frieda Strohmberg kam 1885 in Schweinfurt als Tochter des jüdischen Bankiers Karol Strohmberg und seiner Frau Amelia, geb. Silberman, zur Welt, und verbrachte ihre Kindheit in Würzburg. Von klein auf künstlerisch begabt, studierte sie in München bei Angelo Jank Malerei und zog 1906 nach Brüssel, um bei ihrer Schwester Dora zu leben und ihr Studium an der dortigen Königlichen Akademie der Schönen Künste fortzusetzen. Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitete sie eine Zeit lang als impressionistische Landschafts- und Porträtmalerin. Im Jahr 1910 erwarb sie die Zusatzqualifikation als Kunsterzieherin und wurde an die Luisenschule ins ostpreußische Allenstein geschickt, wo sie die nächsten 17 Jahre leben sollte. In der Stadt im Osten des Reichs war sie sehr aktiv in der kleinen örtlichen Künstlergemeinschaft. Sie schuf hier ihr Hauptwerk, das vor allem aus Stadtszenen und Porträts bestand, wie zum Beispiel die 1923 entstandene Ansicht des Hohen Tors oder Wysoka Brama aus dem 14. Jahrhundert, heute eines meiner Lieblingsgebäude in Olsztyn. Während ihrer Zeit in der Stadt wohnte sie in einem Mietshaus in der Langgasse, heute ul. Warmińska 25, ein Gebäude, das noch existiert. 1927 verließ sie Allenstein und zog nach Berlin, wo sie den Zahnarzt Albert Jakoby heiratete und weiter als Künstlerin arbeitete. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte das Paar 1936 nach Brüssel. Auf der Flucht vor der deutschen Invasion im Mai 1940 wurden Frieda und Albert bei einem Bombenangriff getötet.

Eines ihrer Werke, „Bildnis einer jungen Frau“ von 1917, befand sich im Besitz der Familie des Allensteiner Bürgermeisters Georg Zülch (1870–1942) und ist dank seines Sohnes Dr. Heinz-Jörn Zülch Teil der Sammlung des „Treudank“, einer ehemaligen Heimatstube und heutigem Allenstein-Museum in Gelsenkirchen.

Der „Treudank“ ist benannt nach dem ehemaligen Landestheater Allenstein, das 1925 als Dank für die nationalistische Treue der Ostpreußen bei der Volksabstimmung 1920 von der Weimarer Regierung gestiftet wurde. Heute befindet sich in dem Gebäude das Stefan-Jaracz-Theater Olsztyn. Der „Treudank“ in Gelsenkirchen ist eine von über 600 Heimatstuben und musealen Einrichtungen in Deutschland, die das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europas in einer Erfassung 2012 zusammengetragen hat. Wirft man einen Blick auf die vom Institut erstellte Karte dieser Einrichtungen, findet man eine veritable Landkarte des Verlustes und der Erinnerung: Viele der Einrichtungen sind nach 1945 in Westdeutschland von deutschen Geflüchteten und Vertriebenen gegründet worden, um einen Ort für Erinnerungsstücke und Zusammenkünfte zu haben – Orte, an denen auch durch die Häufung dieser Exponate das Erinnern an Details der verlorenen Heimat plastischer und im Zusammenhang einfacher wird. Oft tragen diese Orte Begriffe wie „schlesisch“, „pommersche“, „ostpreußisch“ oder das überregionale „ostdeutsch“ im Namen. In Gelsenkirchen, seit 1953 offizielle Partnerstadt Allensteins im Westen, wurde 1957 die erste Heimatstube in einem Raum der Stadtverwaltung eröffnet. 1971 folgte dann der Umzug in das Dreikronenhaus im Stadtzentrum, wo sich der „Treudank“ bis heute befindet. Hier finden sich viele Facetten und Darstellungen von Allenstein und seinen Menschen vor 1945: Fotografien, Landkarten, Stadtpläne, Ölgemälde, Aquarelle, Grafiken, kleine Skulpturen, Fahrpläne von Bussen, Trams und Zügen, Modelle von Gebäuden wie dem Hohen Tor oder dem Abstimmungsdenkmal im Park Jakobsberg sowie das „Goldene Buch“ der Stadt, 1910 für die Gewerbeausstellung am Jakobsberg geschaffen und mit einer Unterschrift von Prinz Heinrich Wilhelm von Preußen als erstem Eintrag. Wie bei vielen anderen Heimatstuben war ein Teil der Exponate bereits auf der Flucht mitgenommen worden, andere wurden später bei Besuchen an den ehemaligen Wohnorten erworben oder von Nachkommen gespendet.

Für jemanden wie mich, der sich in seiner Arbeit viel mit Erinnerung und Nostalgie befasst und stetig in den Trümmern der Vergangenheit nach Informationen und Details sucht, um die Geschichten meiner Familie besser erzählen zu können, sind die Heimatstuben wahre Schatzgruben. Nicht nur weil ich hier herausfinden kann, welchen Bus meine Großmutter in Allenstein 1935 vom Hauptbahnhof zum Langsee nehmen konnte, sondern auch weil hier Werke von und Informationen über Künstlerinnen und Künstler bewahrt sind, die sonst vielleicht verloren gegangen wären. Aber natürlich können solche Schreine der Vergangenheit, so hilfreich sie bei der Verarbeitung von Schmerz und Trennung auch waren und sind, auch dabei helfen, in der Nostalgie die verlorene Heimat zu einem ewiggestrigen, vermeintlich perfekten Ort zu idealisieren.

Vielleicht ist es dieser Umstand, zusammen mit der immer mehr abnehmenden Zahl der Zeitzeugen und dem allgemein schwindenden Interesse an der Kulturgeschichte von Pommern, Schlesien und Ostpreußen in Deutschland, der dazu beiträgt, dass die Existenz vieler dieser Einrichtungen nicht langfristig gesichert ist. Die Heimatstuben sind, wenn überhaupt, von Freiwilligen besetzt und nur wenige Stunden in der Woche geöffnet, und das wissenschaftliche und museale Interesse an den Sammlungen in Deutschland ist gering. Auch die Landesmuseen von Schlesien, Pommern und Ostpreußen in Görlitz, Lüneburg und Greifswald können allein aus Personalgründen nicht jede Sammlung der Heimatstuben sichten, prüfen und in die eigenen Archive übernehmen.

Die Karte des Bundesinstituts zeigt zudem, dass die Heimatstuben eine rein westdeutsche Erscheinung sind. In der DDR und der Volksrepublik Polen gab es für Vertriebene aus dem Osten keine solchen Erinnerungszentren. In den Medien und der Öffentlichkeit in der sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR durften nur die Begriffe „Umsiedler“ oder „Neubürger“ benutzt werden. Das war von der Sowjetischen Militäradministration so angeordnet worden, selbst der Begriff „Umsiedler“ wurde nach 1950 aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verbannt. Öffentliches Sprechen über Heimat und Flucht war in der DDR tabu. Nur in der Familie konnte darüber erzählt werden oder auf als Klassentreffen, Ausflügen oder zufällige Begegnungen von Menschen der gleichen Region getarnte inoffiziellen Heimattreffen. Ähnlich sah es in der Volksrepublik Polen aus: Offiziell gab es hier bis 1989 nur den Mythos eines „tausendjährigen deutsch-polnischen Kampfes“, dessen Ziel die „Wiedereinverleibung“ der westlichen Piastischen Gebiete war. Offizielle Treffen oder einen über das private hinausgehenden Erinnerungsaustausch der sogenannten Kresowiacy, der fast zwei Millionen polnischen Vertriebenen aus den Ostgebieten im heutigen Litauen, Belarus und der Ukraine, gab es nicht.

Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, wie man sich mit den Heimatstuben, ihren Sammlungen und der Vergangenheit auseinandersetzen kann. Der Schleswig-Holsteinische Heimatbund und die Kulturstiftung der Vertriebenen haben Heimatstuben und Museen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen visuell dokumentiert. Interessierte können sie auf ostdeutsche-heimatsammlungen.de/virtuell und heimatbund.de/kultur-geschichte/heimatstuben.html besuchen und sich einzelne Exponate ansehen – darunter auch das „Bildnis einer jungen Frau“ von Frieda Strohmberg im virtuellen „Treudank“.

Ebenso gibt es ein großes gesellschaftliches und museales Interesse in West- und Nordpolen an diesen Sammlungen an den Orten, aus denen die Exponate stammen. In Lübeck besteht seit 1983 in einem wunderschönen ehemaligen Kaufmannshaus aus Backstein aus dem 14. Jahrhundert das Museum Haus der Hansestadt Danzig, das seit kurzem von Jörg Linowitzki geleitet wird. Er hat die gesamte Sammlung, die zum Beispiel Werke des bekannten expressionistischen Malers Ernst Oldenburg oder Ausgaben eines seltenen, 1949 vom Kunstmaler Erich Scholtis geschaffenen Danzig-Brettspieles beinhaltet, dem Danziger Stadtmuseum zugänglich gemacht. Beide Institutionen planen nun einen längerfristigen Austausch. Und ebenso hat das Haus der Hansestadt Danzig 2024 in Zusammenarbeit mit dem „Verein zur Erhaltung der Tradition des Artushofes in Danzig“ und den Kirchengemeinden in Danzig drei dort gegossene Kirchenglocken aus dem 18. Jahrhundert, die lange im Hof des Hauses in Lübeck gelagert wurden, an die Stadt Danzig überführt, damit Glocken wieder an dem Ort läuten, wo sie Jahrhunderte zuvor geläutet haben.

In Olsztyn, der Stadt in der Frieda Strohmberg glücklich war, gab es nie eine Heimatstube für die vielen Menschen, die nach 1945 vor allem aus dem Gebiet um Wilna hierhergekommen sind. Doch im Oktober 2024 hat das Kulturamt der Stadt einen Eisenbahnwaggon vom Typ „Dresden“, mit dem 1945 viele aus ihrer alten Heimat nach Olsztyn transportiert wurden, als Mahnmal auf dem Gelände des Industriemuseums Raphaelson installiert und Geschichten der Nachkommen gesammelt. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, um es mit Christa Wolf zu sagen. Die Landkarte der Erinnerung in Deutschland und Polen bietet also auch eine Chance, sich weiterhin über Grenzen hinweg mit den europäischen Erfahrungen der Flucht und Vertreibung auseinanderzusetzen.

Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

Ein Gedanke zu „Eine Landkarte des Verlustes und der Erinnerung. Heimatstuben in Deutschland und Polen.“

  1. Der Beitrag von Marcel Krueger ist für mich von größerem Interesse, da meine Kindheit und Jugend nach 1945 vom Leben an der Neisse auf deutschem Gebiet im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien geprägt war und ist, also unweit vom Kloster St. Marienthal, wo sich heutzutage auch das Internationale Begegnungszentrum (IBZ) und KoKoPol einquartiert haben. Während ich nach 2 x Studium in Potsdam seit vielen Jahren in Dresden wohnhaft bin, nehme ich in Abständen an Veranstaltungen in St. Marienthal teil.
    Um auf die Heimatstuben und ähnliche Einrichtungen zurückzukommen, so haben diese eine solche Bedeutung, die von der Sache her eher zunimmt, zumal Zeitzeugen rapide abnehmen und somit Wissen und Erfahrungen darüber einfach verloren gehen. Das ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung!
    Schon zu DDR-Zeiten wurde das Kapitel von Flucht und Vertreibung geradezu untergraben. Heißt, es wurde nur intern darüber gesprochen. Ich habe da Erwachsenen gern zugehört, schließlich bin ich auch mit Umsiedler-Kindern in die Schule gegangen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Umsiedler vom DDR-Staat unterstützt wurden, Land zugeteilt bekamen und Häuser bauen durften.
    Weit nach der Wende gab es zaghafte Versuche, eine Aufarbeitung zu initiieren, wie bspw. in Gestalt einer Ausstellung im Stadtmuseum Zittau oder auch in Form einer Publikation von Dr. Lars-Arne Dannenberg, aber das ist aus meiner Sicht zu wenig. Vielmehr sollte es Ziel sein, sich über Grenzen hinweg mit Flucht und Vertreibung intensiver auseinanderzusetzen! Eben, weil das zur historischen Bildung gehören dürfte, nicht nur in der Oberlausitz, worauf sich meine Beobachtungen beziehen, sondern weit darüber hinaus.

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