Es ist ein großer Irrtum anzunehmen, Unterhaltung sei unpolitisch. Als die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 die Parlamentswahlen gewonnen hatte, übernahm sie das Polnische Fernsehen (TV Polska) und machte daraus nicht allein ein Propagandaorgan, sondern auch einen Brückenkopf für den Disco Polo, jene Art von schlichter Popmusik, die sich einfacher Rhythmen und banaler Reime bedient. Der Disco Pop wurde zuvor vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Polen eher gemieden, denn er galt als Billigware, für die man sich zu schämen hatte. Die Entscheidung des rechten Lagers, dem Disco Polo seinen Platz im öffentlichen Fernsehen zu geben, ging nicht allein darauf zurück, es den mit der vorherigen Regierung assoziierten Eliten einmal so richtig zeigen zu wollen. Diese Musik sollte darüber hinaus alle „wahren Polen“ zusammenschweißen, indem sie ihnen Gemeinschaft in der Unterhaltung bot, einer Unterhaltung, der aber etwas dezidiert Konservatives anhaftete, weil sie mit Schlagwörtern wie „Vaterland“, „Gott“ und „Liebe“ operierte, letztere selbstverständlich brav heterosexuell und allzu oft von Dunstschleiern des Sexismus umwoben.
Die ideologische und politische Unterwerfung des öffentlichen Fernsehens durch die Rechte führte dazu, dass derjenige Teil der Unterhaltungsmusikbranche im weiten Sinne, der kritische Positionen gegenüber der neuen Regierung bezog, sich unvermittelt der Zensur ausgesetzt sah. Die meisten verzichteten von sich aus auf Auftritte im Sender TVP ebenso wie bei dem von dem Sender veranstalteten und seit 1963 bestehenden Landesfestival des Polnischen Liedes in Opole/ Oppeln.
Senderchef Jacek Kurski instrumentalisierte das Unterhaltungsprogramm konsequent zur Unterstützung von PiS. Im Dezember 2021, während sich die Lage an der polnisch-belarusischen Grenze zuspitzte und die uniformierten Dienste Migranten repressierten, die nach Polen zu gelangen versuchten, veranstaltete er das Konzert „#Murem za polskim mundurem“ (sinngemäß: Wir stehen hinter der polnischen Uniform), das gedacht war als „Ausdruck der Unterstützung für die Soldaten und Beamten, die in den Grenzregionen ihren Dienst“ leisteten. Weitere Aufführungen des Konzerts fanden im September 2023 statt, und zwar als direkte Reaktion auf Agnieszka Hollands bekannten Film „Zielona granica“ (Die grüne Grenze), der von polnischen Uniformierten gegen Flüchtlinge verübte Grausamkeiten zeigt.
Kommentare nach den Konzerten verglichen diese häufig mit dem Festival des Soldatenlieds in Kołobrzeg/ Kolberg, der wichtigsten Propagandaveranstaltung in volkspolnischen Zeiten. Als Autor des Buches „Festiwale wyklęte“ (Die verfemten Festivals, Warszawa: Wydawnictwo Krytyki Politycznej, 2019) protestierte ich auf Facebook gegen solche allzu simplen Vergleiche. Ich schrieb, das Festival des Soldatenliedes könne zwar als zu politischen Zwecken eingesetzte, verlogene, lächerliche, kitschige und jämmerliche Veranstaltung gesehen werden, sei aber nicht niederträchtig gewesen. Denn die Künstler sprangen damals nicht auf der Bühne herum, während gleich nebenan Menschen starben. Man machte sich nicht über die Opfer lustig, sondern erwies ihnen Ehre (vielleicht war diese Ehrerweisung verbogen und verlogen, aber wenigstens fand sie statt), und nationalistische Untertöne wurden mit internationalistischen Parolen zugedeckt.
Mein Buch behandelt nicht nur das Festival des Soldatenlieds, sondern auch das Festival des Sowjetischen Lieds in Zielona Góra/ Grünberg in Schlesien. Diese beiden Festivals gehörten zu den vier großen Musikfestivals in Volkspolen, die in den Sommermonaten stattfanden. Die Saison wurde Anfang Juni von Zielona Góra eröffnet, anschließend folgte Opole, im Juli Kołobrzeg und schließlich im August das internationale Musikfestival Sopot/ Zoppot, das in den 1970er Jahren einige Jahre lang als Intervisions-Wettbewerb firmierte, quasi als sozialistische Antwort auf die Eurovision. Es war kein Zufall, dass diese Festivals an Orten mit einer reichen deutschen Geschichte stattfanden, in den sogenannten „Wiedergewonnenen Gebieten“, die nach dem Krieg an Polen gefallen oder „zum Mutterland zurückgekehrt waren“, wie es in der volkspolnischen Propaganda hieß. Somit sollten die Festivals nicht nur unterhalten, sondern auch bekunden, dass die Grenzen und geopolitischen Verhältnisse der Nachkriegszeit unumkehrbar seien; sie sollten mit Gesang das aus dem Osten oktroyierte System stabilisieren und der feindlichen Welt des Imperialismus und Kapitalismus trotzig die Stirn bieten.
Unter den vier Festivalsorten war Zielona Góra der am weitesten westlich gelegene. Das hier über zwanzig Jahre stattfindende Festival zeigte damit, wie weit auch der kulturelle Einfluss der sowjetischen Vormacht reichte. Und gleich nebenan befand sich der „gute“ von den beiden deutschen Staaten, nämlich die Deutsche Demokratische Republik, in der vermeintlich ausschließlich Antifaschisten lebten, im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der sich die Erben Nazideutschlands aufhielten. Das sowjetische Lied sollte also die „brüderlichen“ Länder und Nationen zusammenschweißen. Zum Festival reisten Berichterstatter aus der Tschechoslowakei und der DDR an; es gab sogar die Idee, das Festival international auszuweiten und für Teilnehmer aus anderen Ländern des Ostblocks zu öffnen. Daraus wurde jedoch nichts. Gleichwohl wurden in den 1970er Jahren, als zwischen Volkspolen und Ostdeutschland der visa- und passfreie Personenverkehr möglich war und Reisende sich nur den Personalausweis abstempeln lassen mussten, akkreditierte Journalisten zu Exkursionen nach Frankfurt an der Oder gebracht. Solche kamen zum Beispiel 1975 zu Besuch in die Stadt und deckten sich im Frankfurter Kaufhaus für die beim Wechseln erlaubten einhundert Mark mit Süßigkeiten, Küchengeräten und anderen Dingen ein, die in Polen Mangelware waren, und noch dazu wurden sie von der Redaktion der Frankfurter Zeitung „Neuer Tag“ in Empfang genommen.
Die Veranstaltung in Zielona Góra unterschied sich von den Festivals in Opole, Kołobrzeg und Sopot dadurch, dass Amateure auftraten. Sie begann 1962 bescheiden als „Allgemeinpolnischer Wettbewerb des Sowjetischen Lieds“ und wurde erst drei Jahre darauf zum Festival erweitert. Die Teilnehmer durchliefen verschiedene Ausscheidungsetappen von Schul- bis Wojewodschaftsebene, bevor sie zur Krönung ihrer Anstrengungen auf der Bühne in Zielona Góra auftreten durften. Mit der in der volkspolnischen Propaganda üblichen Übertreibung behauptete die Presse, geschlagene 200.000 Teilnehmer seien in die Ausscheidungen gegangen. Nur einige Dutzend Künstler erreichten die letzte Runde, meist sehr junge Sänger, für die das Festival eine Chance zum Durchbruch bot. Unter den Preisträgern des Festivals in Zielona Góra befanden sich die Namen vieler, die später Stars der volkspolnischen Popmusik wurden, zum Beispiel Zdzisława Sośnicka, Michał Bajor, Izabela Trojanowska (die noch unter ihrem Mädchennamen Schütz auftrat), Urszula (Kasprzak) und Mieczysław Szcześniak. Seit 1970 gaben auch Profis Konzerte, bei denen sie Lieder aus den Sowjetrepubliken sangen. 1975 wurden die bei dem Festival zu gewinnende Preise in Goldene, Silberne und Bronzene Samowars umbenannt, und genau so sahen sie seither auch aus. Barbara Kalinowska, eine der Preisträgerinnen von Zielona Góra, erzählt (wie in meinem Buch nachzulesen), wie sie den Samowar lange Zeit tatsächlich als Teekessel benutzte; allerdings musste sie dazu den Wasserkocher anstellen, weil der Samowar nur mit Kohle beheizt werden konnte… Eine andere Preisträgerin, Marzena Osiewicz, bot ihren Samowar 2018 im Internet zum Verkauf an. Der Käufer war ein Jägersmann, der den Samowar auf die Pirsch mitzunehmen beabsichtigte, um sich seinen Tee zubereiten zu können.
Bis 1973 fanden die Konzerte von Zielona Góra vorwiegend in der Volkshalle (Hala Ludowa) statt, zu der in den 1950er Jahren die von den Deutschen errichtete Stadthalle umgebaut worden war. Vor dem Krieg hatten dort Kundgebungen der NSDAP stattgefunden, nach dem Krieg unter anderem Schauprozesse. Daneben gab es in der Volkshalle das Kino „Włókniarz“ (Textilarbeiter), ein Restaurant und eine Diskothek. Die Stadtverwaltung verkaufte die verfallende Halle 2001 an einen privaten Investor mit der Auflage, das Gebäude müsse kulturellen Zwecken dienen. Der Investor verkaufte sie jedoch 2009 an einen anderen Unternehmer weiter, der sie abreißen und auf dem Grundstück ein sechsstöckiges Hotel bauen wollte. Eigentümlicherweise brach 2011 in der Volkshalle ein Brand aus. Was danach davon noch übrig war, wurde von den Bulldozern abgeräumt. Zu guter Letzt entstanden auf dem Grundstück Supermärkte. So dreht sich das Rad der Geschichte.
1973 wurde in Zielona Góra das Amphitheater auf den Piastenbergen in Gebrauch genommen, welches anstelle des auf das Jahr 1889 zurückgehenden Waldtheaters errichtet worden war. Am ersten Tag des Festivals von Zielona Góra, bei dem das Amphitheater eingeweiht wurde, erhob sich ein Sturm und blies die Dekorationen um, die niemand am Boden zu verankern für notwendig erachtet hatte. Die Künstler stoben in Panik auseinander. Doch Maria Wróblewska, die Konzertleiterin, bewahrte die Ruhe und versuchte, eine Gruppe kleiner Kinder zu schützen, die sich gerade auf der Bühne befanden. Glücklicherweise kamen alle unversehrt davon, doch die Noten wurden vom Wind in alle Richtungen geweht, und ein Teil der Auftritte musste auf den nächsten Tag verschoben werden.
Das Festival des Sowjetischen Liedes wurde bis 1989 fortgesetzt. Zum letzten Mal begann es am 6. Juni jenes Jahres, gerade zwei Tage nach den ersten, teilweise freien Parlamentswahlen in Polen. Allerdings wurde 1990 noch das Festival des Liedes der Nationen der UdSSR veranstaltet. Dass damit aber eine Epoche zu Ende ging, wurde allein schon daran deutlich, dass die Veranstaltung mit einem … brasilianischen „Lambada“ eröffnet wurde. Jahre später versuchte die Stadt Zielona Góra an ihre musikalischen Traditionen anzuknüpfen. Von 2008 bis 2013 war sie Veranstaltungsort für das Festival des Russischen Lieds. Aber nachdem Russland die Krim annektiert hatte, wurde die Veranstaltung eingestellt, und es ist bei der gegenwärtigen weltpolitischen Lage schwer vorstellbar, dass sich das in Bälde wieder ändern könnte.
Das Festival des Soldatenliedes in Kołobrzeg dagegen überdauerte bis 1997. Denn während das Festival in Zielona Góra unzweideutig die sowjetische Vormachtstellung kundgetan hatte, verhielt es sich mit der Veranstaltung in der pommerschen Hafenstand nicht ganz so einfach. Das Festival sollte das Liedgut der in der UdSSR gegründeten Polnischen Volksarmee feiern, welche die polnischen Grenzen und den Frieden der Bürger bewahrte. Es sollte aber auch das Loblied auf das Leben des einfachen Soldaten singen. Daneben ging es auf der Bühne um die Geschichte der „polnischen Waffen“, mit dem Schwerpunkt auf dem ewigen Kampf gegen den „germanischen Invasor“. Besungen wurden insbesondere die Heldentaten des Zweiten Weltkrieges wie besonders der siegreiche Zug der Polnischen Volksarmee Schulter an Schulter mit der Roten Armee von Lenino, wo die sowjetischem Kommando unterstellten polnischen Einheiten ihre erste Schlacht schlugen, bis nach Berlin. Interessanterweise fand sich in diesen historischen Schlachtenbildern, die Jahr für Jahr in Kołobrzeg entworfen wurden, auch gelegentlich ein Plätzchen für die Armee des Generals Władysław Anders, und sei es in dem Lied „Czerwone maki pod Monte Cassino“ (Roter Mohn am Fuße des Monte Cassino) [die Anders-Armee wurde ursprünglich aus polnischen Kriegsgefangenen in der UdSSR aufgestellt und von dort über den Iran in den Nahen Osten verlegt und britischem Kommando unterstellt; sie nahm an den Feldzügen in Nordafrika und Italien teil; ihre für die polnische historische Erinnerung zentrale Schlacht war die von Monte Cassino (Januar bis Mai 1944); Anm. d. Übers.].
Das erste Festival der Musik und des Lieds des Soldaten fand 1967 statt, damals noch nicht in Kołobrzeg, sondern in dem siebzig Kilometer entfernten Połczyn-Zdrój, das vor dem Krieg Bad Polzin geheißen hatte. Das bescheidene Programm umfasste Auftritte von nur wenigen Militärkapellen. Doch die propagandistische Absicht war von Anfang an klar. Das Festival sollte „die heldenhafte Geschichte der Kämpfe der Polnischen Volksarmee um den pommerschen Deich im Zweiten Weltkrieg herausstellen, also in diesem Land, in dem unter anderem der Kurort Połczyn Zdrój liegt“. Auch sollte es die „Zugehörigkeit dieses Landes zu Polen und die herzliche Verbundenheit der Gesellschaft mit der Polnischen Volksarmee in Anbetracht der von den revisionistischen Elementen in Westdeutschland organisierten Hetze“ manifestieren. Bemerkenswerterweise wurde in den Liedtexten bei dem Festival niemals das Wort „die Deutschen“ gebraucht – schließlich hatten wir jenseits der Grenze mit den guten Deutschen aus der DDR zu tun. Stattdessen wurden Umschreibungen wie der genannte „germanische Invasor“ oder das „Wolfspack“ benutzt, und in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg Pejorativa wie „Faschisten“, „Fritzen“ und „Schwaben“. Der Titel dieses Beitrags stammt aus einem Lied, das in dem 1985 inszenierten Bühnenstück „Kołobrzeska legenda“ (Kolberger Legende) gesungen wurde, geschrieben zum 40. Jahrestag der „Rückkehr der West‑ und Nordgebiete zum Mutterland“. Auf der Bühne traten Krieger der polnischen Herrscher des Mittelalters auf, Deutschordensritter und die Siedler der Nachkriegszeit, die aus den von der UdSSR annektierten (was selbstverständlich im Stück nicht erwähnt wurde) polnischen Ostgebieten stammten und in die „Wiedergewonnenen Gebiete“ ausgesiedelt wurden. Und die sich niemals mehr von dort wegbegeben würden, obwohl „der Schwabe hier alles ruiniert hat/ bloß uns zum Trotz“. In dem Stück fällt der Satz: „Oh, und dieser Hupka kann mich mal gernhaben, mit Verlaub.“ Herbert Hupka und Herbert Czaja waren führende Köpfe des in der Bundesrepublik aktiven Bunds der Vertriebenen, aus denen die Medien der Volksrepublik Polen in den 1980er Jahren unablässig Buhmänner machte. Der Bund der Vertriebenen verlangte nämlich die Revision der Nachkriegsgrenzen und die Rückkehr Schlesiens und Pommerns zum „Mutterland“, nur eben zum deutschen.
1968 wurde das Festival des Soldatenlieds parallel in Połczyn Zdrój und Kołobrzeg veranstaltet. Im Jahr darauf siedelte es endgültig nach Kołobrzeg über. Dieses war eine viel einladendere Stadt als Połczyn Zdrój, denn sie war größer und lag direkt am Meer. Als Urlaubsort verfügte sie über eine bessere touristische Infrastruktur, über Hotels und Privatunterkünfte. Überdies hatte sie eine Garnison, deren Soldaten bei den technischen Vorbereitungen eingesetzt werden konnten. Das Militär half dabei, das Kolberger Amphitheater für die Zwecke des Festivals zu vergrößern und zu modernisieren. Kolberg hatte nämlich auch in der deutschen Militärgeschichte eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Die Einwohner der Festungsstadt hielten 1807 vier Monate lang der Belagerung durch napoleonische Truppen stand, eine Episode, die der Film „Kolberg“ (1943/44) unter der Regie von Veit Harlan in Szene setzte, der letzte Monumentalfilm NS-Deutschlands. Die Filmpremiere war am 30. Januar 1945, also kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des Naziregimes.
Nach der Einnahme Kolbergs durch die Rote Armee im März 1945 wurde eine symbolische Vermählung des an die Ostsee zurückkehrenden Polen mit dem Meer vollzogen. Oberstleutnant Piotr Jaroszewicz hielt bei dieser Gelegenheit eine Ansprache mit den Worten: „Dies ist ein ewig polnisches Land. Hier an die polnische Ostsee führt der von den großen piastischen Politikern und Heerführern gewiesene Weg – von [Bolesław I.] dem Tapferen und [Bolesław III.] Schiefmund [Herzöge und Herrscher von Polen im 11. und 12. Jahrhundert; Anm. d. Übers.].“ Die polnische Fahne wurde an einem Mast befestigt, und Korporal Franciszek Niewidziajło warf einen Ring mit den Worten in die Wogen der Ostsee: „Ich vermähle mich mit dir, denn du warst unser und wirst immer unser sein.“ Zur Erinnerung an diese Zeremonie wurden die Preise des Festivals des Soldatenliedes Goldene und Silberne Ringe genannt.
Zwar fand in Kołobrzeg gelegentlich auch ein Amateurwettbewerb statt, doch die Hauptattraktion bestand aus dem Wettbewerb professioneller Musiker. Die damals bekanntesten Vertreter der polnischen U-Musik hatten Auftritte in Kołobrzeg. Mancher von ihnen schämt sich heute seiner damaligen Teilnahme; mir wurden etliche Absagen erteilt, als ich versuchte, mich mit den Künstlern zu einem Interview zu verabreden. Doch niemandem wurde die Pistole an den Kopf gesetzt, um ihn zu einem Auftritt beim Festival des Soldatenlieds zu bewegen, zumal es in seinen Anfängen als künstlerisch interessanter und besser organisiert galt als das Festival des Polnischen Lieds in Opole. Die mit Preisen ausgezeichneten Lieder gingen aus einem von der Politischen Hauptverwaltung der Polnischen Armee ausgeschriebenen Wettbewerb hervor. Es wurden manchmal bis zu drei- oder vierhundert neue Lieder zum Wettbewerb angemeldet, aus denen eine Jury einige Dutzend für das Festival auswählte. Der Erfolg von Kołobrzeg erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass die Armee sehr viel besser bezahlte als die nichtmilitärischen Festivalveranstalter.
In den Jahren 1970 bis 1972 traten zudem Solisten aus den Armeen der Warschauer Pakt-Staaten auf. Sie sangen polnische Soldatenlieder, einige in ihrer Muttersprache, andere, wie zum Beispiel Jürgen Freier aus der DDR, der übrigens später ein geschätzter Opernbariton war, auf Polnisch. Die Presse war voller Bewunderung, dass er es fertigbrachte, die Worte „rozklekotana ciężarówka“ (klappriger Lastwagen) akzentfrei zu singen, ein Vers aus dem Lied „Szli na zachód osadnicy“ (Es zogen gen Westen die Siedler). Wer zur Boshaftigkeit neigt, grinste dagegen still über seinen Namen [das polnische Wort frajer, ausgesprochen wie die deutsche Entsprechung Freier, kann im Deutschen als „Trottel“ übersetzt werden; Anm. d. Übers.]. Als das Festival 1976 zum zehnten Mal stattfand, kamen wieder Künstler aus den brüderlichen Armeen nach Kołobrzeg, und Freiers Leistung wurde von seinem Landsmann Joachim Schmidt erneuert, der auf Polnisch den zungenbrecherischen Titel „Nie ma przeszkód dla żołnierza“ (Dem Soldaten ist nichts zu schwer) sang.
Doch begann mit der Zeit der Stern des Kolberger Festivals zu sinken. Die bekanntesten Namen waren nicht länger im Programm vertreten, stattdessen traten eine Reihe von Künstlern in Erscheinung, die fast ausschließlich vom Festival des Soldatenliedes bekannt waren, wie zum Beispiel Regina Pisarek, Barbara Książkiewicz und Adam Zwierz. Nach dem Festival von Kołobrzeg ließ die Armee sie bei einer Konzertreihe in ganz Polen auftreten.
Die Ausrufung des Kriegszustands am 13. Dezember 1981 durch den Militärrat zur Nationalen Errettung wurde für Zielona Góra wie Kołobrzeg zu einem Moment des Umbruchs. Seither wurden beide Veranstaltungen weithin als regimenah wahrgenommen, und wer daran teilnahm, galt als Kollaborateur des verhassten Systems.
Trotz allem wurde nach dem politischen Systemwechsel noch jahrelang der Versuch unternommen, für das Kolberger Festival einen Neuansatz zu finden. Die vorherigen Stammkünstler wurden fallengelassen, da sie allzu eng mit dem abgedankten System assoziiert waren. Die neuen Preisträger dagegen waren etwa die Popsängerin Shazza als Vertreterin des Disco Polo und die Rappgruppe Czasza für das Lied „Historia jednego poboru“ (Geschichte einer Rekrutierung), das sehr kritisch mit der Armee umgeht, was in volkspolnischen Zeiten undenkbar gewesen wäre. Schließlich mussten die Organisatoren jedoch einsehen, dass das Festival des Soldatenliedes in der neuen Zeit zu einem Anachronismus geworden war, auch wenn noch nach 1997 Versuche angestellt wurden, es wiederzubeleben.
Heute liegen beide Festivals unter einem dicken Nebel der Erinnerung begraben, und ihre früheren Stars würden, wie schon angedeutet, gerne ihre Teilnahme vergessen machen. Andererseits finden sich unter den Videoclips auf YouTube, welche die Kolberger Konzerte dokumentieren, nostalgische Kommentare von der Art: „Die Festivals in Kołobrzeg waren immer schön. Es sollte alles getan werden, damit das Festival des Soldatenlieds, des patriotischen Lieds wieder stattfindet.“
Wie zuvor angemerkt, lässt sich Unterhaltungsmusik, der leichten und angenehmen Zerstreuung dienende Populärmusik sehr gut in ein ideologisches Werkzeug transponieren. Nicht zufällig wird sie weithin in der Werbung und bei verschiedensten politischen und sozialen Kampagnen eingesetzt. Verstärkt durch entsprechende, beispielsweise nationalistische oder fremdenfeindliche Texte, wird sie zu einem wirksamen Mittel der gefühlsmäßigen und weltanschaulichen Manipulation. Denn sie gelangt ohne Widerstand in Herz und Hirn eines weiten Kreises von Zuhörern. In einer von Krieg bedrohten Welt, in einem Europa des wachsenden Populismus, in einem schreckensstarr auf seine Ostgrenzen blickenden Polen ist die Erinnerung an jene Festivals von historischer Relevanz. Diese machen uns bewusst, dass Musik auch einer schlechten Sache dienen kann.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann