Zum Inhalt springen

Wie Moskau und seine Verbündeten das Nichtverbreitungsregime untergraben

Die Auswirkungen des russisch-ukrainischen Krieges erschüttern zunehmend die Grundlagen der internationalen politischen und nuklearen Ordnung.

Der Beginn und Verlauf des russisch-ukrainischen Krieges seit 2014 ist wesentlich davon geprägt, dass Russland über Massenvernichtungswaffen verfügt und die Ukraine nicht. Seltsamerweise wird diese kriegsfördernde Situation durch eines der politisch wichtigsten und mit 191 Unterzeichnerstaaten umfassendsten multilateralen Abkommen des modernen Völkerrechts legitimiert, kodifiziert und aufrechterhalten. Der Atomwaffensperrvertrag beziehungsweise Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968 erlaubt es Russland als offiziellem Kernwaffenstaat, atomare Sprengköpfe zu bauen und zu erwerben. Gleichzeitig verbietet der NVV der Ukraine als offiziellem Nicht-Kernwaffenstaat ausdrücklich, dasselbe zu tun. Die nichtnuklearen Verbündeten der Ukraine – von Kanada im Westen bis Japan im Osten – sind ebenfalls durch den NVV sowie durch Konventionen über chemische und biologische Waffen an ihren Status als rein konventionelle Militärmächte gebunden.

In seinem zweiten Artikel postuliert der NVV für alle bis auf fünf seiner 191 Unterzeichnerstaaten, darunter die Ukraine: „Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen“. Der NVV behinderte damit sowohl eine ukrainische Abschreckung des offiziellen Kernwaffenstaats Russland als auch die Verteidigung der Ukraine gegen diesen.

Das Budapester Memorandum von 1994 als Anhang zum NVV

Mehr noch, der entstehende postsowjetische ukrainische Staat verfügte Anfang der 1990er Jahre über das drittgrößte Arsenal an nuklearen Sprengköpfen der Welt – ein Erbe der Sowjetunion, die von August bis Dezember 1991 auseinanderbrach. Unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine war die Anzahl ihrer Atomwaffen für kurze Zeit größer als die Summe der Massenvernichtungswaffen Chinas, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs zusammengenommen. Die meisten ukrainischen und viele ausländische Beobachter konzedieren heute, dass es naiv von Kyjiw war, sich Mitte der 1990er Jahre nicht nur von den meisten, sondern von allen nuklearen Materialien, Technologien und Trägersystemen zu trennen und im Gegenzug keinen zuverlässigen Schutzmechanismus wie eine NATO-Mitgliedschaft oder einen Beistandspakt mit den Vereinigten Staaten zu fordern. Darüber hinaus wurden viele der ukrainischen Sprengköpfe, Raketen, Bomber usw. nicht in der Ukraine zerstört, sondern ausgerechnet an Russland übergeben.

Als Gegenleistung für seine freiwillige nukleare Abrüstung erhielt Kyjiw von Moskau eine schriftliche Sicherheitsgarantie in Form des mittlerweile berüchtigten Budapester Memorandums, in dem Russland versprach, die Souveränität und Integrität der Ukraine zu respektieren. Auf dem letzten Gipfeltreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (vor ihrer Umwandlung in die OSZE) in der ungarischen Hauptstadt im Dezember 1994 unterzeichneten die Russische Föderation, die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich mit der Ukraine dieses verhängnisvolle „Memorandum über Sicherheitszusagen im Zusammenhang mit dem Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen“. Das kurze Dokument kopierte zwei ähnliche Memoranden, die speziell für die postsowjetischen Inhaber von Teilen des Atomwaffenarsenals der ehemaligen UdSSR – die Ukraine, Belarus und Kasachstan – entworfen wurden. Als Depositarstaaten des Atomwaffensperrvertrags wurden Russland (als Rechtsnachfolger der UdSSR), die USA und das Vereinigte Königreich 1994 zu Garanten der Grenzen dieser drei ehemaligen russischen Kolonien und Sowjetrepubliken.

In ihren Budapester Memoranden sicherten die Gründer des NVV Kyjiw, Minsk und Almaty/Astana zu, dass sie die drei postsowjetischen Länder weder unter Druck setzen noch angreifen würden. Dieses Versprechen gaben die Depositarstaaten des NVV im Gegenzug für die Zustimmung der Ukraine, von Belarus und Kasachstans, alle ihre militärischen Nuklearkapazitäten aufzugeben und als offizielle Nichtkernwaffenstaaten dem Nichtverbreitungsregime beizutreten. China und Frankreich, die beiden anderen offiziellen Kernwaffenstaaten im Rahmen des NVV, gaben separate Regierungserklärungen ab, in denen sie der Ukraine, Belarus und Kasachstan ebenfalls die Achtung ihrer Grenzen zusicherten. Diese Geschichte wurde kürzlich von der Harvarder Nuklearhistorikerin Mariana Budjeryn in ihrem preisgekrönten Buch Inheriting the Bomb: The Collapse of the USSR and the Nuclear Disarmament of Ukraine (Johns Hopkins University Press 2022) meisterhaft beschrieben.

Sicherheitsgarantien oder -zusagen?

Die englischsprachigen Titel der drei Budapester Memoranden sprechen freilich nur von Sicherheitszusagen und nicht -garantien der NVV-Depositarstaaten für die Ukraine, Belarus und Kasachstan. Dieses sprachliche Detail wird manchmal so ausgelegt, dass die Versprechen, die Washington, Moskau und London 1994 gegenüber Kyjiw, Minsk und Alma-Ata/Astana abgegeben haben, vage, situationsbedingt und nicht ernst gemeint waren. Der offenkundige Bruch Russlands des zwanzig Jahre alten Abkommens mit der Ukraine durch die Annexion der Krim im Jahr 2014 und viele ähnliche Handlungen Moskaus seien daher nur geringfügige Verstöße gegen eine veraltete Zusicherung und die Logik des Nichtverbreitungsregimes.

Die heute relevanten offiziellen Übersetzungen des Memorandums – nämlich die russisch- und ukrainischsprachigen Versionen desjenigen Dokuments, das die zukünftige Sicherheit der Ukraine betraf – unterscheiden sich jedoch vom englischen Original. Die russischen und ukrainischen Überschriften des Budapester Abkommens sprechen von „Sicherheitsgarantien“, d. h. auf Russisch von „garantijach besopasnosti“ beziehungsweise auf Ukrainisch von „harantiji bespeky“. Die russischen und ukrainischen Übersetzungen des in der englischen Version des Budapester Memorandums enthaltenen Ausdrucks „on security assurances“, d. h. „o saverenijach besopasnosti“ oder „pro savirennja bespeky“, tauchen nicht in den Titeln der russischen und ukrainischen Versionen des Memorandums auf.

Washington und London haben in der englischen Version des Budapester Memorandums der Ukraine tatsächlich nur „zugesagt“, dass sie das postsowjetische Land nicht unter Druck setzen oder angreifen würden. Im Gegensatz dazu hat Moskau Kyjiw in der russischen und ukrainischen Version des Dokuments die territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine „garantiert“. Das russische Wort für Garantien lautet im Präpositiv „garantijach“, während das ukrainische Wort für Garantien im Akkusativ „harantiji“ lautet. In kyrillischer Schrift sehen diese beiden Wörter in der Memorandumsüberschrift so ähnlich aus, dass man davon ausgehen kann, dass Moskau im Dezember 1994 durchaus verstanden hat, dass es Kyjiw Garantien und nicht nur bloß Zusagen gegeben hat.

Russische Unterwanderung des Atomwaffensperrvertrags vor dem Krieg

Russland begann bereits vor Beginn seines Krieges gegen die Ukraine und seiner Besetzung der Krim im Februar 2014 gegen das Budapester Memorandum und die Logik des Atomwaffensperrvertrags zu verstoßen. So versuchte Russland beispielsweise 2003 mit einem einseitigen und schließlich gescheiterten Infrastrukturprojekt, das sich der ukrainischen Insel Tusla in der Straße von Kertsch im Schwarzen Meer näherte, in das Staatsgebiet und die Grenze der Ukraine einzudringen. Zehn Jahre später versuchte Moskau, den bevorstehenden Abschluss eines bereits paraphierten Assoziierungsabkommens zwischen Kyjiw und der Europäischen Union zu verhindern. Im Laufe des Jahres 2013 übte es starken wirtschaftlichen und politischen Druck auf Kyjiw aus – ein Verhalten, das im dritten Artikel des Budapester Memorandums ausdrücklich verboten ist.

Man könnte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass Russland bereits Mitte der 1990er Jahre, lange bevor Putins Stern in der russischen Politik aufging, damit begann, die Logik des Nichtverbreitungsregimes im postsowjetischen Raum zu verletzen. Moskau tat dies im Hinblick auf einen anderen europäischen Nachfolgestaat der UdSSR, die Republik Moldau, die kein Budapester Memorandum erhalten hatte, jedoch wie die Ukraine 1994 dem NVV als Nichtkernwaffenstaat beitrat. In diesem Jahr unterzeichnete Chișinău auch ein Abkommen mit Moskau über den Abzug der russischen Truppen und die Auflösung der von Moskau unterstützten, nicht anerkannten „Transnistrischen Moldauischen Republik“ im Osten Moldawiens. Dreißig Jahre später ist keine dieser Verpflichtungen des Kernwaffenstaates Russland gegenüber dem Nichtkernwaffenstaat Moldau erfüllt worden.

Eine ähnliche Geschichte spielt sich seit Ende der 2000er Jahre in Georgien ab, das 1994 ebenfalls als Nichtkernwaffenstaat dem NVV beigetreten war. Am Ende des fünftägigen russisch-georgischen Krieges im August 2008 unterzeichnete Russland mit Georgien ein Waffenstillstandsabkommen, den sogenannten „Sarkozy-Plan“, der Moskau zum Abzug seiner Truppen aus Georgien verpflichtete. Russland beließ jedoch entgegen seinem schriftlichen Versprechen von 2008 einen Teil seiner Streitkräfte auf georgischem Staatsgebiet. Darüber hinaus erkannte Moskau zwei separatistische Regionen Georgiens, Abchasien und „Südossetien“ (d.h. die Region Zchinwali), als unabhängige Staaten an – im offensichtlichen Widerspruch zur Logik des Nichtverbreitungsregimes, an dem sowohl Russland als auch Georgien offiziell teilnehmen.

Die anhaltende Verletzung der territorialen Integrität Moldawiens, Georgiens und der Ukraine ist zwar in erster Linie auf Russlands größere konventionelle und nicht auf seine nukleare Militärmacht zurückzuführen. Dennoch ist der Besitz von Atomwaffen durch Moskau sowie der Nichtbesitz von Massenvernichtungswaffen durch Chișinău, Tiflis und Kyjiw seit nunmehr 30 Jahren ein wichtiger Hintergrundfaktor für das expansive Verhalten des Kremls. Ohne seine große nukleare Macht hätte Russland bei der Entsendung konventioneller Streitkräfte in Länder, in denen diese Truppen nicht erwünscht sind, weit vorsichtiger sein müssen.

Darüber hinaus standen die aggressiven Handlungen Moskaus – entgegen den lautstarken Behauptungen des Kremls – nur teilweise im Zusammenhang mit den internationalen oder/und internen Angelegenheiten Moldawiens, Georgiens und der Ukraine. Russische Truppen sind illegal auf dem Territorium der offiziellen NATO-Beitrittskandidaten Georgien und Ukraine sowie auf dem Territorium der offiziell neutralen Republik Moldau stationiert, die gemäß ihrer noch gültigen Verfassung von 1994 weder einen NATO-Beitritt anstrebt noch ausländische Truppen auf ihrem Land zulässt. Die russischen Besetzungen von Transnistrien, Abchasien und „Südossetien“ setzten sich unabhängig von der Haltung der Regierungen Moldawiens und Georgiens in der Vergangenheit oder heute als pro-russisch oder pro-westlich fort. Ob die Regierungen in Chișinău und Tiflis kommunistisch oder nationalistisch, freundlich oder feindlich gegenüber Moskau eingestellt waren, hatte wenig Einfluss auf die illegale Besetzung des offiziellen Staatsgebiets Moldawiens und Georgiens durch Russland. Dies war und ist der Fall, obwohl diese Gebiete durch den Atomwaffensperrvertrag und andere sicherheitsrelevante Verträge abgedeckt sind, deren Unterzeichner Russland, Georgien und Moldawien sind.

Ähnliches gilt für das Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine. Viele Beobachter vergessen heute, dass Moskau seinen nicht-kinetischen „hybriden“ Krieg gegen den ukrainischen Staat bereits vor 2014 intensivierte und bereits am 20. Februar 2014 mit der militärischen Eroberung der Krim begann. In diesen Zeitperioden wurde die Ukraine von dem offen pro-russischen Politiker Wiktor Janukowitsch regiert. Der moskauhörige Präsident der Ukraine war an der Macht, als Russland im Jahr 2013 starken wirtschaftlichen und politischen Druck auf die Ukraine ausübte – etwas, das im Budapester Memorandum ausdrücklich verboten ist. Janukowitsch war auch noch im Amt, als Russland im Februar 2014 begann, die ukrainische Halbinsel Krim illegal zu besetzen – eine ebenfalls durch das Budapester Memorandum verbotene Aktion. Janukowitsch verließ sein Präsidentenamt, die Stadt Kyjiw und schließlich die Ukraine in Richtung Russland erst, nachdem russische reguläre Truppen ohne Hoheitszeichen bereits damit begonnen hatten, südukrainisches Staatsgebiet mit Gewalt zu erobern.

Wie Moskau den Atomwaffensperrvertrag auf den Kopf stellte

Seit Februar 2014 greift Russland die Ukraine nicht nur immer rücksichtsloser mit militärischen und nichtmilitärischen Mitteln sowie mit regulären und irregulären Streitkräften an. Moskau verstößt damit auch immer unverfrorener und demonstrativer gegen die Sicherheitsgarantien, die es Kyjiw im Budapester Memorandum von 1994 gegeben hat. Moskaus Handlungen widersprechen zunehmend der Logik des seit 1970 bestehenden Nichtverbreitungsregimes und kehren dieses in ihr Gegenteil.

Der NVV ist heute zusammen mit den Konventionen über biologische und chemische Waffen zentraler Bestandteil des UN-basierten globalen Sicherheitssystems. Abgesehen von seinen schriftlichen Bestimmungen besteht die implizite Funktion des NVV darin, die Grenzen und Hoheitsgebiete der Nichtkernwaffenstaaten zu wahren – insbesondere gegenüber den fünf offiziellen Kernwaffenstaaten. In seiner Einleitung erinnert der NVV seit 1968 daran, dass „die Staaten [die den Vertrag unterzeichnet haben] im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen müssen“. Der NVV beschränkt den vorübergehenden Besitz von Atomwaffen auf fünf Länder, die auch ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind („die P5“), und hat die Aufgabe, das Risiko eines zwischenstaatlichen Krieges im Allgemeinen und den Einsatz von Atomwaffen als Instrumente aggressiver Außenpolitik im Besonderen zu verringern.

Als Gründungs- und Depositarstaat des NVV sowie als ausdrücklicher Garant der Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen im Budapester Memorandum hat Moskau nun den Zweck des Nichtverbreitungsregimes auf den Kopf gestellt: Die Erlaubnis des NVV, dass Russland Atomwaffen besitzen darf, hilft Moskau dabei, seinen expansionistischen und völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine zu führen. Das Verbot des NVV, dass die Ukraine Atomwaffen besitzen darf, hat Kyjiw daran gehindert, den russischen Angriff wirksam abzuschrecken und abzuwehren.

Der Atomwaffensperrvertrag ermöglichte es Moskau, nicht nur die Ukraine, sondern auch seine Verbündeten – insbesondere die nicht-nuklearen – mit atomarer Vernichtung und einem nuklearen Winter zu bedrohen, falls sie den ukrainischen Widerstand gegen Russlands territoriale Expansion und Terror gegen Zivilisten weiterhin unterstützen. Die Genehmigung des russischen Atomwaffenbesitzes durch den NVV führte in der Vergangenheit, führt heute und wird in absehbarer Zukunft dazu führen, dass militärische Unterstützung der Ukraine durch völkerrechtskonforme Länder behindert wird. Diese Verhinderung betrifft sowohl die Bereitstellung bestimmter konventioneller Militärtechnologien für die Ukraine, wie z. B. deutscher Taurus-Marschflugkörper, als auch die Entsendung alliierter Truppen auf ukrainisches Gebiet, ob nun von der NATO, der EU oder einer Ad-hoc-Koalition ukrainefreundlicher Staaten gestellt.

Hätte Kyjiw 2014 über Atomwaffen verfügt, hätte Russland die Ukraine höchstwahrscheinlich nicht angegriffen und damit riskiert, dass russische Städte durch nukleare Vergeltung seitens der Ukraine ausgelöscht werden – wie es im August 1945 mit Hiroshima und Nagasaki geschah. Hätte Moskau 2014 keine Atomwaffen besessen, wären die westlichen Verbündeten der Ukraine höchstwahrscheinlich zu Hilfe gekommen. Eine Koalition der Willigen hätte 2014/15 wahrscheinlich die annektierte Krim und besetzten Teile des Donbass auf ähnliche Weise befreit, wie eine von den USA geführte Koalition 1991 Kuwait befreite, das im Jahr zuvor vom Irak besetzt und annektiert worden war. Die im NVV festgelegten Regeln haben somit sowohl den Beginn von Russlands territorialer Expansion und des völkermörderischem Krieges im Jahr 2014 erleichtert als auch die anschließende Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft gedämpft, die russische Landnahme wieder rückgängig zu machen.

Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen

Der Atomwaffensperrvertrag trat 1970 in Kraft. Seitdem bezieht der NVV seine Legitimität aus der Tatsache, dass er dazu beiträgt, das Entstehen und die Eskalation von Kriegen zu begrenzen und den Einsatz von Atomwaffen für aggressive Ziele zu verhindern. Doch hat der Vertrag heute im Kontext von Russlands Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine eine ganz andere Wirkung. Seit 2023 wird diese Unterwanderung der Logik des Atomwaffensperrregimes durch die zunehmende Beteiligung Nordkoreas, eines Kernwaffenstaates außerhalb des NVV, am russisch-ukrainischen Krieg noch verstärkt. Obwohl oder gerade weil der Ukraine der Besitz von Atomwaffen durch den NVV verboten ist, wird sie nun von zwei Ländern angegriffen, die – mehr oder weniger legal – über Kernwaffen verfügen.

Darüber hinaus wird Russland bei der Deformation des Nichtverbreitungsregimes von weiteren Unterzeichnerstaaten des NVV unterstützt. Der offizielle Atomwaffenstaat China und der – zumindest vorerst – Nicht-Atomwaffenstaat Iran unterstützen Russland aktiv bei seinen Kriegsanstrengungen, indem sie militärische, zivile und/oder Dual-Use-Hilfe bereitstellen. Insbesondere Peking widerspricht mit seiner materiellen Unterstützung für Moskaus Krieg seiner „Erklärung der chinesischen Regierung zur Sicherheitsgarantie für die Ukraine vom 4. Dezember 1994“. In diesem historischen Dokument, das bei der UN-Generalversammlung hinterlegt wurde, hatte Peking Kyjiw im Zusammenhang mit der Entscheidung der Ukraine, im Rahmen des NVV zum Nichtkernwaffenstaat zu werden, versichert, dass China „den Wunsch der Ukraine nach einer Sicherheitsgarantie voll und ganz versteht. […] Die chinesische Regierung hat sich stets gegen die Ausübung von politischem, wirtschaftlichem oder sonstigem Druck in internationalen Beziehungen ausgesprochen. Sie ist der Ansicht, dass Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten friedlich durch Konsultationen auf Augenhöhe beigelegt werden sollten. […] China erkennt die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine an und respektiert sie.“

Belarus hatte 1994 sein eigenes Budapester Memorandum mit den USA, Großbritannien und der Russischen Föderation unterzeichnet. Dennoch erlaubt Belarus Russland heute, nicht nur konventionelle Truppen, sondern auch Atomwaffen auf seinem Territorium zu stationieren. Minsk unterstützt Moskau auf vielfältige andere Art und Weise bei seinem Angriff auf die Ukraine. Auch Belarus trägt damit dazu bei, die Friedensideen hinter dem NVV und den Budapester Memoranden zu untergraben.

Indien ist wie Nordkorea ein Kernwaffenstaat außerhalb des NVV und unterstützt die Ukraine zumindest rhetorisch. Dennoch ist Indien seit 2022 zu einem wichtigen Handelspartner Russlands geworden. Neu-Delhi trägt somit indirekt zur Schwächung des internationalen Vertrauens in die Logik der Nichtverbreitung bei.

Angesichts dieser und ähnlicher jüngster Entwicklungen ist heute die Funktionsweise und Zukunft des NVV eng mit dem Verlauf, den Ergebnissen und den Auswirkungen des russisch-ukrainischen Krieges verbunden. Angesichts der hohen Relevanz einer Fortsetzung des Nichtverbreitungsregimes für die Menschheit können denjenigen Akteuren, die an seiner Verteidigung interessiert sind, folgende sechs Maßnahmen empfohlen werden:

  1. Alle Unterzeichnerstaaten des NVV, die um dessen Erhalt besorgt sind, sollten dem Nichtkernwaffenstaat Ukraine im Rahmen ihrer Möglichkeiten maximale militärische und nichtmilitärische Unterstützung zukommen lassen, damit Kyjiw einen überzeugenden Sieg auf dem Schlachtfeld erringen und seine derzeit illegal von Russland besetzten Gebiete befreien kann.
  2. Alle Unterzeichnerstaaten des NVV, die um dessen Erhalt besorgt sind, sollten von Moskau ein sofortiges Ende seiner Drohungen mit nuklearer Eskalation fordern und Russland und seine Verbündeten davor warnen, dass eine solche Eskalation eine entschlossene militärische und nichtmilitärische Gegenreaktion von ihnen auslösen würde.
  3. Alle Unterzeichnerstaaten des NVV, die um dessen Erhalt besorgt sind, sollten die Atomwaffenstaaten Russland und Nordkorea wirksam sanktionieren und öffentlich verurteilen, solange diese ihren Expansionskrieg gegen den Nicht-Atomwaffenstaat Ukraine fortführen. Derselbe Mechanismus sollte auch bezüglich der anhaltenden Besetzung von Teilen Moldawiens und Georgiens durch Russland gelten.
  4. Alle Unterzeichnerstaaten des NVV, die um dessen Erhalt besorgt sind, sollten auf einem gerechten Frieden für die Ukraine bestehen, einschließlich der vollständigen Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität, Wahrung ihrer nationalen Souveränität, Rückkehr aller Kriegsgefangenen und deportierten Zivilisten, einschließlich Kinder, sowie Entschädigung für die Zerstörung der Ukraine mittels russischer Reparationszahlungen.
  5. Alle Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und Einzelpersonen, die eine Fortsetzung des Nichtverbreitungsregimes befürworten, sollten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln den Sieg und Wiederaufbau der Ukraine unterstützen sowie Russland und Nordkorea öffentlich verurteilen sowie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln sanktionieren.
  6. Die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich haben als Mitgründer des Atomwaffensperrvertrags von 1968 und Mitunterzeichner des Budapester Memorandums von 1994 eine besondere Verantwortung gegenüber der Ukraine. Washington und London sollten Kyjiw daher anbieten, ihre 30 Jahre alten Sicherheitsgarantien in einen dreiseitigen Beistandspakt umzuwandeln. Dieses trilaterale Militärbündnis würde die Ukraine bis zu ihrem NATO-Beitritt schützen, aber auch die internationale Nutzung des zunehmenden Wissens und der Ressourcen der Ukraine im Zusammenhang mit Kriegen ermöglichen. Alle anderen Unterzeichnerstaaten des NVV sollten eingeladen werden, diesem amerikanisch-britisch-ukrainischen Verteidigungsabkommen beizutreten und so zur Aufrechterhaltung der Logik des Nichtverbreitungsregimes beizutragen.
Schlagwörter:
Andreas Umland

Andreas Umland

Dr. Andreas Umland studierte Politik und Geschichte in Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Seit 2010 ist er Dozent für Politologie an der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.