„Im Jazzmilieu Nachkriegspolens galt allgemein die Meinung: das, womit man sich da beschäftigte, sei gleichbedeutend mit Opposition gegen das bestehende politische System“, schreibt Igor Pietraszewski, Jazzer und Soziologe an der Universität Breslau, im Vorwort zu seinem Buch „Jazz in Polen – die improvisierte Freiheit“ [Jazz w Polsce – wolność improwizowana, Kraków: Nomos, 2012; engl. Ausgabe: Jazz in Poland: Improvised Freedom, Frankfurt/ Main: Lang, 2014]. In Interviews mit Jazzmusikern, so schreibt der Autor, habe sich „eine deutliche Vorstellung von ihrer Ausnahmestellung abgezeichnet, von ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe von ,verfolgten Outsidern‘, eine besondere Verbundenheit mit […] der Freiheit wie auch ein starker Mythos, eine ,verbotene Kunst‘ auszuüben.“
Katakombenjazz
Pietraszewski spricht von einem Gründungsmythos dieses Milieus, der dessen Hierarchie bestimmt habe. „Wer die Zeit der ,Katakomben‘ erlebt hat, wird anders behandelt als ein neuer Musiker ohne diese Erfahrung.“
Der Katakombenjazz, das sind die Jahre 1949 bis 1954, die Jahre des schwärzesten Stalinismus. Damals nahm der Jazz, wenn auch nie mit offiziellem Verbot belegt, so doch als Symptom von Degeneration und Vulgarität verschrien, seine Zuflucht in Kellern und Privatwohnungen.
Marta Wiśniewska, Literaturwissenschaftlerin an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen, meint, der Mythos gehe auf den Schriftsteller Leopold Tyrmand (1920–1985) zurück. Obwohl selbst kein Jazzmusiker, war Tyrmand doch der wichtigste Protagonist des Jazz im Nachkriegspolen. Niemand im Land tat so viel für den Jazz wie er.
Tyrmand wusste vom Jazz vielleicht nicht alles, aber sicher mehr als irgendjemand sonst in Polen. „Er war unser Guru. Ein Systemgegner, was er nicht verhehlte“, sagte viele Jahre später von ihm in der „Gazeta Wyborcza“ Jerzy „Duduś“ Matuszkiewicz, der Saxophonist des im Frühjahr 1947 in Lodz gegründeten Ensembles Melomani.
Volkslied der Schwarzen
Krzysztof Trzciński (1931–1969), später besser bekannt unter dem Namen Komeda, war noch Lyzeumsschüler in Ostrów Wielkopolski, als er 1949 die Schülerbigband Carioca gründete. Mit seinen Mitschülern zusammen spielte er auf Veranstaltungen wie „Oka“, „Kalinka“ oder „Lied der Traktoristen“, schreibt Magdalena Grzebałkowska in ihrer Komeda-Biographie [Komeda. Osobiste życie jazzu (Ein Privatleben im Jazz), Kraków: Wydawnictwo Znak, 2018; engl. Ausgabe: Komeda. A Private Life in Jazz, Bristol: Equinox, 2020].
Jede freie Minute galt jedoch dem Jazz. „Er steht früh auf, schaltet das Radio ein. Hört zu […] Geht zum Unterricht an der Musikschule […] Kommt wieder nach Hause, schaltet das Radio ein. In der Nacht hört er ausländische Sender. Manchmal kann er Glenn Millers ,In the Mood‘ hören. Anschließend versucht er, das Stück auf dem Klavier nach Gehör nachzuspielen.“
Als Carioca 1949 zu einer Veranstaltung des Kreises zum Ersten Mai eingeladen wurde, nahm Krzysztof „In the Mood“ in das Programm auf. Um die Zensur zu täuschen, trug er das Stück als „Volkslied der Schwarzen“ ein. Jemand erkennt jedoch die amerikanische Musik. „Das Publikum drehte durch. Die Jungen sprangen auf die Stühle und wirbelten ihre Sakkos herum“, so teilte es Grzebałkowska jemand mit, der dabei war. Einer der Musiker erinnerte sich, wie sich bei den Regierungsvertretern „Betretenheit breit machte“. Carioca wurde für zwei Wochen untersagt, die Schulaula zu betreten, aber die Band wurde nicht verboten.
Anfänge
Der Jazz gelangte nach dem Ersten Weltkrieg nach Polen, in den 1920er Jahren, also nicht sonderlich spät, nachdem er in den USA ein Vierteljahrhundert früher aufgekommen war. In der Zwischenkriegszeit war er im Wesentlichen Tanzmusik, aber nicht ausschließlich.
Der Jazz wurde nicht zuletzt über Radio und Film verbreitet, im Kino war er allgegenwärtig. Nicht nur in den berühmten Hollywoodproduktionen mit ihrer Plejade amerikanischer Jazzer. Henryk Wars, einer der Pioniere des polnischen Jazz, schrieb die Musik zu 53 Filmen, das heißt jedem dritten Streifen, der in Polen vor dem Krieg gedreht wurde.
Jazz im Ghetto
Während des Zweiten Weltkriegs „blühte paradoxerweise der Jazzbetrieb“ im besetzten Polen, wie Igor Pietraszewski festhält. Trotz Überwachung von gedruckten Noten und Repertoire war der im Generalgouvernement verbotene Jazz in den Lokalen von Warschau und Krakau zu hören, insbesondere nach dem Kriegseintritt der USA. „Das war die Musik unserer Verbündeten – Jazz zu hören, wurde zu einem Widerstandsakt gegen die Besatzungsmacht“, erklärt Pietraszewski. Jazzkonzerte fanden auch im Warschauer Ghetto statt. „Dort spielten hauptsächlich Bands aus Musikern jüdischer Abstammung, aber es gab auch Konzerte von Bands mit Musikern von außerhalb des Ghettos.“ Die Deutschen liquidierten das jüdische Ghetto 1943, deportierten drei Viertel der Einwohner nach Treblinka und ermordeten sie dort.
Den Krieg abtanzen
Nach dem Krieg fiel das nach Westen verschobene Polen unter die Herrschaft der aus Moskau herbeigeschafften Kommunisten, die auf der Stelle den Terror einführten, doch für den Augenblick noch zum Schein die Demokratie aufrechterhielten. Der Jazz störte dabei vorerst noch nicht. Vielleicht, weil auch die Sowjets einstweilen noch nichts dagegen hatten.
In den Städten Polens machten damals hunderte von Unterhaltungslokalen auf. „Oft in den Kellern von halb abgebrannten Häusern“, wie Pietraszewski bemerkt. Seiner Auffassung nach vollzog sich damals eine „Demokratisierung“ des Jazz.
„Die ganzen Jahre des Kriegs müssen abgetanzt werden,“ schrieb 1947 die Breslauer Zeitung „Słowo Polskie“ (Polnisches Wort). Andrzej Wajda setzte das elf Jahre darauf in seinem Film „Asche und Diamant“ in Szene.
Der polnische YMCA
1946 gründete Leopold Tyrmand in Warschau den Jazzclub polnischer YMCA, vermutlich der erste Jazzklub in Polen nach dem Krieg. Im Internetportal „Muzeum jazzu“ (Jazzmuseum) ist zu lesen, „der bekannte tschechische Saxophonist Charles Bovery“ sei Leiter des Klubs gewesen. Diesen hatte es während des Kriegs nach Polen verschlagen.
„An Zäunen, Mauern und Ruinen in Warschau angeschlagene Plakate kündigten an, im Vorstellungssaal das Jazzklub polnischer YMCA finde am 30. Mai 1947 eine Jamsession statt. Gespielt wurden Hot Jazz, Boogie-Woogie und Swing […]. Dies sollte das erste im Nachkriegspolen stattfindende Jazzkonzert sein, auch wenn Musiker aus der Vorkriegszeit schon seit Kriegsende in Lokalen überall im Land swingten, jazzten und Tanzmusik spielten“, schreibt Grzebałkowska.
Jazzschund
Doch schon bald zogen sich über dem polnischen Jazz schwarze Wolken zusammen. „Indem sich die Spannungen zwischen der UdSSR und den USA verstärkten, zog die Zeit des Kalten Kriegs herauf; alles Amerikanische war von Amts wegen schlecht. Auch der Jazz wurde ein Opfer der internationalen Großwetterlage“, hält Pietraszewski fest. „Tanzen und Jazz waren fortan Ausdruck für die Befürwortung feindlicher Ideologien.“
Im November 1948 verurteilte der Verband der Polnischen Komponisten den „formalistischen Jazzschund“. Im nächsten Jahr wurde bei dem Komponistenkongress in Łagów „nichts mehr in Watte gepackt. Man sagt geradeheraus: Der Jazz sei ideologisch fremd, klassenmäßig verdächtig, er beruhe auf feindlichen, amerikanischen Vorbildern.“
Fünfhundert Schallplatten
Der polnische YMCA wurde 1949 aufgelöst. Seine Lodzer Filiale übernahm der am sowjetischen Komsomol ausgerichtete Bund der Polnischen Jugend. „Seither nannte sich [der Klub] Verein ,Ognisko‘ (Lagerfeuer), und ausgestattet mit neuen Statuten, war er im Sinne der volkspolnischen Ideologie aktiv“, schreibt Grzebałkowska. Sie zitiert Andrzej Wojciechowski, den Trompeter der Melomani: „Wir hatten dort fünfhundert amerikanische Platten. Alle führenden Orchester, wirklich alle. Als sie den YMCA schlossen, kam ein Mensch vom Bund der Polnischen Jugend und zerschlug sie vor unseren Augen. Eine nach der anderen. Und wir standen da und guckten zu, denn wir konnten nichts tun.“ „Ähnlich geschah es in allen polnischen YMCA-Filialen. Jazzbibliotheken gingen in Flammen auf, Schallplatten wurden zerschlagen“, so die Autorin der Komeda-Biographie.
Es gab kein Verbot
In dem mir vorliegenden Beitrag „Jazz in Polen. Totalitarismus, Stalinismus, Sozrealismus“ zitiert Pietraszewski ausführlich Włodzimierz Sokorski, angeblich die einzige Person aus dem Umfeld der Regierung, die sich zum Thema Musik und insbesondere zum Jazz äußerte. Er war eine schillernde Figur aus der Machtelite Volkspolens, ein Brigadegeneral, der im Krieg 1944 in der blutigen Schlacht bei Lenino gekämpft hatte, in stalinistischer Zeit stellvertretender Minister, anschließend Kulturminister, und schließlich in den nächsten siebzehn Jahren, unter Gomułka und in der Anfangszeit Giereks, Vorsitzender des Radiokomitees, das die Aufsicht über den staatlichen Rundfunk und das Fernsehen führte.
In seinem Buch „Die Kunst im Kampf um den Sozialismus“ [Sztuka w walce o socjalizm, Kraków: Państwowy Instytut Wydawniczy, 1950] schreibt Sokorski, der amerikanische Imperialismus bediene sich „heute der formalistischen, kosmopolitischen, antinationalen und antihumanistischen Musik als eines der wichtigsten Mittel zur Einwirkung auf die menschliche Psyche, um ihre ethische und ästhetische Sensibilität abzustumpfen, die volkstümliche Kreativität und die Strömung der nationalen Musik zu vernichten und damit die Nationen in ihrem Kampf um Freiheit, soziale Gerechtigkeit, um die neue, konstruktive, klar entwickelte Ordnung des sozialistischen Gesellschaftsaufbaus zu entmachten.“
Trotz dieser vernichtenden Bewertung habe die Regierung jedoch nicht „geradewegs den Jazz verboten, keine Vorschriften noch Befehle erlassen, um den Jazzbetrieb per offizieller Sanktion völlig zu unterdrücken“, so Pietraszewski. „Sie beließ es bei informellen Maßnahmen; Jazz zu spielen und zu hören, war ,schlecht angesehen‘, was in einem gewissen Umfeld nur seine Attraktivität erhöhte und die Insider des Jazz noch stärker zusammenführte.“
Die Staatssicherheit drückt ein Auge zu
So begann die Ära der Katakomben. „In der Öffentlichkeit wurde die Zugehörigkeit zum Jazzmilieu damit gleichgesetzt, ständiger Gefahr ausgesetzt zu sein“, bekennt Pietraszewski, aber er unterstreicht, es sei schwierig, „Beispiele für politische Repressionen aufgrund dieser Verbundenheit mit dem Jazz zu finden.“
Und so kam in den Wolken aus Zigarettenqualm und Alkohol, im Umfeld von privaten „Festgelagen“, wie man zur Sicherheit die illegalen Jamsessions umschrieb, der schon erwähnte Gründungsmythos auf.
Die Beamten der Staatssicherheit wussten angeblich oft über diese kriminellen Vorgänge Bescheid, aber sie drückten ein Auge zu. Gegen das Wodkatrinken hatten sie nichts einzuwenden.
Tauwetter
Stalins Tod am 5. März 1953 kündigte große Veränderungen an. Für den Jazz sollte sich alles ändern. Zunächst befasste sich der Komponistenverband damit, und dann ließ sich immer mehr machen. Am 2. November 1954 fanden sich mehrere hundert Zuhörer an einer Schule in Krakau zur ersten Veranstaltung von Jazz an Allerseelen ein. Sie wurde von Leopold Tyrmand eröffnet, der auf einer Flöte „Swanee River“ spielte, „die spätere Erkennungsmelodie fast aller Festivals in Polen“, wie das Portal „Muzeum Jazzu“ mitteilt.
1955 kam die Zeitschrift „Jazz“ heraus, Pietraszewski zufolge die einzige solche Zeitschrift im gesamten Ostblock. Es wurde das Staatliche Jazzorchester Błękitny Jazz (Blauer Jazz) gegründet, das im Juni 1955 sogar auf Tournee durch die Sowjetunion gehen konnte.
Wer eine Trompete hat, bläst darauf
Ende des Sommers 1956 kamen einige zehntausend Jazzfans aus ganz Polen nach Zoppot zum Ersten Jazzfestival, das sechs Tage dauerte. Am Montag, den 6. August, versammelten sie sich an der Mole. Es war fünf Uhr nachmittags. „Die Menge bewegt sich vorwärts. An ihrer Spitze, in einem mit Streifen bemalten Cabriolet aus der Vorkriegszeit, fährt Leopold Tyrmand. Hinter ihm Musiker auf Lkw-Ladeflächen, eine Band fährt in einer zweispännigen Kutsche. Wer eine Trompete dabei hat, der trompetet. Wer eine Posaune, Klarinette oder ein Saxophon hat, pustet die Backen auf und bläst hinein. Wer eine Trommel hat, schlägt darauf. Es gibt Gitarren und Banjos, jemand hat einen Kontrabass auf den Lkw gehievt“, so beschreibt Magdalena Grzebałkowska Polens erste „New-Orleans-Parade“.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann