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„Gedenken bedarf auch der symbolischen Orte“

DIALOG-Gespräch mit Uwe Neumärker, dem Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, über die Idee des Baus eines Polen-Denkmals in Berlin

Basil Kerski: Braucht Berlin ein zentrales Denkmal für die polnischen NS-Opfer? Erfüllen nicht schon die Gedenkinstitutionen an historischen Orten der NS-Verbrechen und die zahlreichen Museen zur NS-Geschichte an die mörderische deutsche Besatzungspolitik in Polen während des Zweiten Weltkrieges?

Uwe Neumärker: Berlin, Deutschland, braucht einen zentralen Ort, der über unseren wichtigsten Nachbarn im Osten, Polen, und die Jahrhunderte währende Verflechtungsgeschichte bis in die Gegenwart aufklärt, das Deutsch-Polnische Haus. Einen Schwerpunkt muss darin natürlich die noch immer wunden- und narbenreiche deutsche Besatzungspolitik in Polen während des Zweiten Weltkrieges darstellen, über die die Menschen in diesem Land zu wenig oder nichts wissen und die in den vorhandenen Institutionen in ihrer Dimension unzureichend gewürdigt wird.

An welchem Ort könnte beziehungsweise sollte Ihrer Meinung nach in Berlin ein Polen-Denkmal entstehen?

Am Standort der ehemaligen Kroll-Oper neben dem Kanzleramt und gegenüber dem Bundestag sollte das Deutsch-Polnische Haus, dessen Bestandteil ein Denkmal ist, errichtet werden. Es ist der Ort in Deutschland, der für den Überfall auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkrieges steht. Hier verkündete Adolf Hitler am 1. September 1939 den deutschen Überfall auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Am 30. Januar 1939 drohte er hier mit der „Vernichtung“ der jüdischen Bevölkerung in Europa, wenn es erneut zu einem „Weltkrieg“ kommen würde. Drei der sechs Millionen bis Mai 1945 ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer waren polnische Staatsbürger; das ist noch immer weithin unbekannt.

Die Initiatoren und Befürworter des Polen-Denkmals argumentieren mit dem Fehlen der polnischen Opfer-Erfahrungen in der deutschen Erinnerungskultur. Stimmt Ihrer Ansicht nach diese These? Ist Polen in der deutschen Erinnerungskultur wirklich nicht präsent? Wenn ja, woher kommt das?

Damit haben Sie ganz sicher Recht, doch ein bloßes Denkmal wird daran nichts ändern. Die deutsche Erinnerungskultur ist weitgehend westdeutsch dominiert, der Blick richtet sich noch immer eher gen Westen – hier vor allem nach Frankreich, eine Folge des Kalten Krieges, selbst 35 Jahre nach dessen Ende. Oradour kennen zumindest einige, um den Stadtteil Wola in Warschau weiß niemand, um es zuzuspitzen. Und es interessiert faktisch niemanden, mit wenigen Ausnahmen wie etwa des Bundespräsidenten. In dem Land meines Aufwachsens, der DDR, war das – obgleich staatlich gelenkt und ideologisch instrumentalisiert – anders. Der „faschistische“ Krieg gegen Polen und die Sowjetunion begleitete uns im Unterricht, beim Fahnenappell oder in Gedenkveranstaltungen. Beide deutsche Staaten verband allerdings die Herablassung gegenüber Polen. Und die hat das wiedervereinigte Deutschland beibehalten, wenngleich sich seit 1989 und vor allem seit 2004, dem Beitritt unseres Nachbarn zur EU, manches geändert hat. Aber ein deutsches Unverständnis für die polnische Seele, um es romantisch zu formulieren, herrscht weiterhin, in der politischen Klasse wie bei fast allen Deutschen.

Mit der Debatte um ein Polen-Denkmal ist zudem die Frage aufgeworfen worden, ob Deutschland nicht etwa an andere Nationen erinnern sollte, die unter der NS-Besatzung litten. Sollten Deutsche auch anderen Völkern Denkmäler widmen?

Genau aus diesem Grunde – der Nationalisierung des Gedenkens – war ich einer der ersten Kritiker der Initiative für ein Polen-Denkmal. Unabhängig von der Frage, was eigentlich eine Nation ausmacht. Denn das Polen der Zwischenkriegszeit war ebenso ein multiethnischer Staat. Das nationalsozialistische Deutschland hielt – nach derzeitigem Grenzstand – 27 Länder besetzt. Der erste, der sofort ein eigenes Denkmal forderte, war seinerzeit Botschafter Andrij Melnik für sein Land, die Ukraine. Es gäbe keinen triftigen Grund, den Belarussen, den Russen, den Serben oder den Griechen Gedenkzeichen zu verweigern. Deshalb hat der Beirat der Stiftung Denkmal die Idee eines Dokumentationszentrums zur deutschen Besatzungsherrschaft ins Spiel gebracht, um die 230 Millionen Opfer zu würdigen und in einer vergleichenden Perspektive Gemeinsamkeiten, aber insbesondere die Unterschiede deutschen Terrors in Europa zwischen 1939 und 1945 herauszustellen. Allein die Behandlung der Kriegsgefangenen oder der Zivilbevölkerung macht den rassistischen Charakter deutscher Herrschaft im Alltag deutlich.

Wie sehen Sie die Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur in den letzten Jahren mit Blick auf das totalitäre 20. Jahrhundert? Wo liegen die Schwerpunkte der Erinnerungskultur, wo sehen Sie deren Defizite?

Erinnerungskultur ist so ein typisch deutscher Begriff, den man mal einer semantischen Prüfung unterziehen sollte. Immerhin sie ist in Bewegung, diese Erinnerungskultur, was übrigens mit den Kriegen gegen die Ukraine und Israel zu tun hat, aber nicht nur. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Claudia Roth, hat Anfang dieses Jahres ein „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ vorgelegt, dessen Anliegen, wessen wollen wir gedenken, wer sind die Zielgruppen in unserem mittlerweile sehr vielfältigen Land, was haben wir erreicht, wohin wollen wir, ich im Grundsatz sehr richtig fand; auch das Bemühen, Höhepunkte unserer Demokratiegeschichte einzubeziehen. Allerdings ist dieser Versuch gescheitert. Nunmehr wurde die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aus dem Jahr 2008, deren Kern die Staatsverbrechen während des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur sind, aktualisiert und um den Kolonialismus erweitert. Die Erinnerungslandschaft wächst, oft getragen von bürgerschaftlichem und ehrenamtlichem Engagement, Länder wie Bund nehmen ihre Verantwortung im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten wahr; bloß die Zeiten sind hart. Doch Gedenkorte können historisch-politische Bildung lediglich ergänzen, und hier liegt für mich das Hauptproblem: in der mangelnden schulischen und universitären Behandlung des 20. Jahrhunderts.

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Gedenken bedarf ganz sicher auch der symbolischen Orte, der Daten und der Rituale. Denkmäler an sich können bestenfalls zum Nachdenken anregen und damit Menschen beim Aneignen des historischen Wissens helfen. Die Erfahrung zeigt die Notwendigkeit, dass diese Informationen sinnvollerweise mit dem Erinnerungszeichen verbunden sein sollten, wie es am Holocaust-Mahnmal geschieht und wie es die Konzeption des Deutsch-Polnischen Hauses vorsieht.

Heute ist weitgehend vergessen, welch ein langer und steiniger Prozess zum Holocaust-Denkmal führte. Von der Idee 1988 bis zur Einweihung 2005. Können Sie uns die wichtigsten Etappen dieses Prozesses in Erinnerung rufen? Was waren die Streitpunkte, welches die Durchbrüche? Welche Erfahrungen aus diesem Prozess sind für die heutige Debatte um das Polen-Denkmal von Wert?

Die Initiative kam von der Publizistin Lea Rosh und dem Historiker Eberhard Jäckel in den späten 1980ern im damaligen Westberlin, die weitere nicht-jüdische Mitstreiter gewinnen konnten, unter anderem Willy Brandt. Nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung nahm die Debatte Fahrt auf und wurde grundsätzlich: Wie stellt sich dieses neue Deutschland seiner nationalsozialistischen Vergangenheit? Mit einem Schlussstrich schlimmstenfalls? Nein, ein sichtbares Zeichen als Ausdruck der Verantwortung gegenüber den sechs Millionen jüdischen Opfern und eine Selbstverpflichtung, aller Opfer würdig zu gedenken, waren die Antwort. Es gab in den 1990er Jahren zwei große Architekturwettbewerbe, viel wichtiger aber waren die Diskussionen um ein historisches Selbstverständnis, das auch die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft umfasste. Doch die Fragen: Brauchen wir ein staatliches Denkmal? Und wenn ja, für wen und wie soll es aussehen, beschäftigten dieses Land und nicht nur das Feuilleton für ein Jahrzehnt.

Eine Debatte um ein Polen-Denkmal findet jenseits der Politik praktisch nicht statt. Mögen die Verantwortlichen dem Deutsch-Polnischen Haus, und darum muss es gehen, endlich eine verbindliche Perspektive bescheren.

Das zunächst konzeptionell und ästhetisch intensiv diskutierte Holocaust-Denkmal ist heute ein unbestrittenes Symbol des vereinigten Berlins und der Berliner Republik. Was sind die Gründe dafür, dass aus einem so umstrittenen Projekt ein so populäres Projekt entstanden ist?

Das ist vielleicht die beste Frage! Noch 2005, dem Jahr der Übergabe an die Öffentlichkeit, gab es viele Stimmen: Warum so groß? Warum so teuer? Warum an dieser prominenten Stelle? Warum diese Betonklötze? Warum nur für die Juden? Sie sind jedoch großteils umgehend verstummt. Das Stelenfeld im Herzen der deutschen Hauptstadt war einfach da, Berliner und Gäste haben das abstrakte Gesamtkunstwerk des jüdischen New Yorker Architekten – mit übrigens deutschen Wurzeln – erkundet und lieben gelernt, weil es ein unvergleichliches Erlebnis ist. Neben Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude ist es der – wie es neudeutsch heißt – touristische Hot-Spot, das beliebteste Denkmal Berlins.

Die von Ihnen geleitete Stiftung war nicht nur verantwortlich für den Bau des Holocaust-Denkmals, sondern auch von weiteren Gedenkorten für andere NS-Opfer: für Sinti und Roma, Homosexuelle und Euthanasie-Opfer. Was verbindet diese Gedenkorte aus konzeptioneller und architektonischer Perspektive, wo gibt es Unterschiede?

Bald kommt Denkmal Nummer 5, für die verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas, das der Deutsche Bundestag im Sommer 2023 einstimmig beschlossen hat. Sie alle könnten unterschiedlicher nicht sein, außer dass das Künstlerduo Elmgreen & Dragset beim Homosexuellen-Denkmal das Motiv der Eisenmanschen Betonstele aufgegriffen hat. Dani Karavans Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma sticht natürlich heraus, weil dieser israelische Künstler sein geniales Gesamtkunstwerk in die Natur des Tiergartens hinein und aus dessen Natur heraus geschaffen hat. Allein ist dessen Fortbestehen durch Pläne der Deutschen Bahn für eine – in meinen Augen – unsinnige und unsäglich teure unterirdische S-Bahnlinie massiv gefährdet. Der T4-Gedenkort wiederum ist das einzige Erinnerungszeichen, das an historischer Stelle, der Planungszentrale für den Euthanasie-Massenmord, errichtet wurde und von Anfang an historische Informationen im Konzept vorsah.

Unter dem Holocaust-Denkmal befindet sich eine rund 800 qm große Dauerausstellung. Braucht das Polen-Denkmal einen solchen Kontext? Funktioniert ein Denkmal ohne eine Gedenkausstellung?

Der SPIEGEL berichtete anlässlich der Einweihung des Holocaust-Mahnmals 2005 über den unterirdischen Ort der Information mit der Schlagzeile „Sinn aus der Tiefe“. Damit ist eigentlich alles gesagt: Ohne historische Aufklärung – kein Begreifen, warum es ein Denkmal gibt, und vor allem keine Möglichkeit, Empathie mit den Opfern zu entwickeln, zumal bei diesem zeitlichen Abstand und der allgemeinen Unwissenheit.

Ihre Mitarbeiter haben ein deutsch-polnisches Haus mit einer Dauerausstellung als Kontext für das Polen-Denkmal konzipiert. Können Sie kurz die Grundpfeiler dieses konzipierten Erinnerungsortes beschreiben?

Gedenken: Ein zeitgemäßes, stets öffentlich zugängliches Denkmal ist die zentrale Komponente des Deutsch-Polnischen Hauses. Das Gedenken an alle Opfer der deutschen Besatzung Polens 1939 bis 1945 wird damit prominent im Herzen Berlins verankert. Es ermöglicht verschiedene Arten der Teilhabe an Gedenkakten und -veranstaltungen sowie individuelles Gedenken. Das Denkmal und das Gebäude bilden ein Ensemble.

Begegnen: Das Deutsch-Polnische Haus ermöglicht Begegnungen. Das vielseitige Bildungsprogramm wendet sich an Menschen aller Generationen insbesondere aus Deutschland und Polen. Es vermittelt historisches Wissen und Kompetenzen, um Gegenwart und Zukunft in einem gemeinsamen Europa zu gestalten. Vorträge, Tagungen und kulturelle Veranstaltungen machen das Haus zu einem lebendigen Ort der Begegnung und Auseinandersetzung mit Polen und Deutschland.

Verstehen: Ein Denkmal allein vermag weder die komplexe Geschichte der deutschen Besatzung Polens in den Jahren 1939 bis 1945 zu erklären noch vermittelt es Wissen über die Opfer. Dauerausstellungen und Wechselausstellungen werden deutlich machen, wer die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges waren und was für eine Kultur zerstört werden sollte. Hierbei bedarf es der Aufklärung über die Nachbarschaft in den Jahrhunderten bis 1939 und den Jahrzehnten nach 1945 bis heute.

Das Holocaust-Denkmal in Berlin symbolisiert die Offenheit des vereinigten Deutschlands für eine kritische Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Der Erfolg nationalistischer Populisten in Deutschland zeigt nun, dass in der Bundesrepublik immer weniger Menschen offen sind für einen kritischen Umgang mit deutscher Geschichte. Ist die Zeit der kritischen Aufarbeitung der Verbrechen der totalitären Regime bald vorbei? Wie gefährlich ist der neue Nationalismus, den die AfD und die BSW repräsentieren, für die Demokratie?

Die Welt, Europa, Deutschland haben sich in den letzten zehn Jahren rasant verändert, ja, radikalisiert. Sicher geglaubte Werte und ein Konsens mit Blick auf unsere Vergangenheit werden in Frage gestellt, die Sprache verroht, Parolen und ideologische Beschränktheit bedrängen die offene Demokratie und die kritische, dennoch faire inhaltliche Auseinandersetzung. Ich sehe im Nationalismus von Faschisten und Stalinisten eine große Gefahr, zumal deren Ansichten im Kern doch sehr ähnlich sind. Es ist unser aller Aufgabe, vor allem der Politik, dieses Denken und Sprechen zu entlarven und die Menschen in Deutschland davon zu überzeugen, dass Freiheit und Demokratie wunderbare Errungenschaften sind, die es zu verteidigen und täglich zu leben gilt. Es wäre schon ein erster Schritt, wenn die Verantwortlichen sich weniger dem Parteienstreit verpflichtet sähen, sondern sie dieses Deutschland, diese segensreiche Europäische Union und das moralische Gesetz in sich „mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllten.

Mit Uwe Neumärker sprach Basil Kerski.

Das Gespräch erschien zuerst im Deutsch-Polnischen Magazin DIALOG Nr. 148:

 


Uwe Neumärker (geb. 1970 in Ost-Berlin) ist ein deutscher Historiker und Publizist. Er ist Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Er leitete von November 2015 bis März 2016 interimistisch die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Neumärker studierte Germanistik, Slawistik und Geschichte in Berlin und Moskau. Von 1997 bis 1998 arbeitete er als Lektor beim Ch. Links Verlag. Von 2000 bis 2001 war er als Kulturmanager für das Institut für Auslandsbeziehungen in Litauen tätig. 2002 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. 2003 übernahm er die Koordination für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. 2005 wurde er Geschäftsführer und schließlich 2009 Direktor.[1] Neumärker ist Herausgeber zahlreicher Zeitzeugenberichte.

 

Basil Kerskiist Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, Chefredakteur des zweisprachigen Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG und Vorstandsmitglied des polnischen PEN-Clubs. Er lebt in Danzig und Berlin.

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