Am 17. Januar verstarb Martin Pollack – Schriftsteller, Essayist, Publizist und Übersetzer. Er war Autor herausragender Bücher über die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen er schwierige und unbequeme Themen behandelte. Für sein Schaffen wurde er mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen geehrt, darunter 2017 mit dem DIALOG-Preis. Wir nehmen Abschied von einem Freund der Redaktion des „Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG“ und erinnern an seinen Vortrag anlässlich der Verleihung des genannten Preises (Potsdam, 2017).
Ich lebe seit vielen Jahren auf dem Land, in einem kleinen Dorf im Südburgenland in Österreich, nahe der ungarischen und der slowenischen Grenze. Fast eine Idylle. Wenn ich bei der Arbeit innehalte, schaue ich über meinen Schreibtisch hinweg auf meine Streuobstwiese und die zu meinem Grund gehörenden Felder. Die habe ich verpachtet, an einen Biobauern, weil der keine giftigen Spritzmittel verwendet, die mir ein Dorn im Auge sind. Alles wie sich’s gehört. Auch der Kuchelgarten, Küchengarten, wie man bei uns den Gemüsegarten nennt. Trotz der späten Jahreszeit immer noch Salat in Hülle und Fülle: Endivien, Radicchio, Rucola, Forellenschluss, Grazer Krauthäuptel, Vogerlsalat oder Feldsalat, wie die Deutschen sagen. Mehr als wir essen können. Der vor dem Haus wachsende Wein ist geerntet, der größere Teil von Amseln und anderen gefiederten Freunden. Auch der Bilch, der über der alten Garage wohnt, hat ordentlich zugelangt. Nur die Nüsse haben schon das zweite Jahr hintereinander ausgelassen, weil die Bäume auch heuer wieder dem Spätfrost zum Opfer fielen. Nussbäume sind besonders frostempfindlich. Die Bäume treiben wieder aus, doch Früchte tragen sie keine mehr. Daher kaufe ich Nüsse, um sie unter die Bäume zu streuen, für Eichkätzchen, Bilche, Spechte und Häher, die können schließlich nichts für die Kapriolen der Natur.
Insgesamt ist bei mir in Bocksdorf also alles in Ordnung. Mir geht es gut.
Doch kaum mache ich es mir beim Ofen bequem, den ich übrigens mit slowenischer Weißbuche heize, beschleichen mich Zweifel. In letzter Zeit immer öfter. Ist diese Zufriedenheit wirklich berechtigt? Mache ich mir nicht was vor? Stecke ich nicht den Kopf in den Sand und verschließe Augen und Ohren vor einer Realität, die gar nicht so freundlich und rosig erscheint, wie ich’s gernhätte?
Damit meine ich nicht mein Alter. Damit komme ich leidlich zurecht. Ich darf nicht klagen. Und ich denke auch nicht an meine Krankheit. Mit der komme ich auch noch zurecht. Die meiste Zeit jedenfalls und so halbwegs.
Es gibt andere Gründe für diese Zweifel, die mir manchmal schwarze Tage bereiten, an denen ich eine tiefe Niedergeschlagenheit verspüre, ein Gefühl der Ohnmacht. Es ist die politische Situation in Österreich, in Polen, insgesamt in Europa und darüber hinaus, die mich daran hindert, das Leben in Bocksdorf vorbehaltlos zu genießen. Die großen Hoffnungen, die wir mit der Wende und den Umbrüchen verbanden, für die das Jahr 1989 symbolhaft steht, sind tiefer Ernüchterung, ja Enttäuschung gewichen. Wir erleben in Europa, und nicht nur hier, einen reaktionären, illiberalen, nationalistischen Backlash, der die Errungenschaften von 1989 zunichte zu machen droht. Putins Russland und Trumps Amerika spielen dabei in vielerlei Hinsicht, bei allen bestehenden Unterschieden, eine fatale Vorreiterrolle. In Ostmitteleuropa fällt die Saat des Antiliberalismus und Nationalismus, gepaart mit Populismus, auf besonders fruchtbaren Boden, wie ein Blick nach Ungarn oder Polen zeigt. Und Trendumkehr ist keine in Sicht, im Gegenteil, die Aushöhlung und Schwächung der liberalen Demokratie scheint immer rascher und radikaler fortzuschreiten. „Statt einer ‚globalen Zivilgesellschaft‘ (Mary Kaldor), „erleben wir den globalen Aufstieg populistischer Nationalismen“, schreibt der französische Politologe Jacques Rupnik, einst Berater von Präsident Václav Havel, in einem Aufsatz über die Situation nach 1989. Er konstatiert eine Wiederkehr Mitteleuropas, allerdings „in illiberalem Gewand“. Während sich die pro-europäischen Eliten auf dem Rückzug befinden, erleben dumpfe europafeindliche Strömungen einen rasanten Aufschwung, auch in Ländern mit tief wurzelnden demokratischen Traditionen. Vielerorts werden Rufe laut nach einer starken Hand, einem starken Staat, einem starken Führer, der alles daransetzt, um die lästigen demokratischen Institutionen so lange auszuhöhlen, bis sie nur mehr dem Namen nach existieren: leere, kraftlose Hüllen. Putin und Erdogan haben vorgemacht, wie das geht. Und ihre Methode macht Schule. Es erscheint fast anstößig, pervers, aber Putin findet in zahlreichen europäischen Ländern begeisterte Anhänger und eifrige Schüler. So auch in meinem Heimatland Österreich. Der oberste österreichische Rechtspopulist, FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, macht gar kein Hehl aus seiner Bewunderung für den neuen russischen Zaren und dessen Verständnis von Demokratie. Die FPÖ wird demnächst in der Regierung in Wien sitzen, mit Strache als Vizekanzler.
Die Erosion der Demokratie wird verstärkt und beschleunigt durch äußere Faktoren, wie die Flüchtlingskrise und den Terror, die von rechten Populisten und fundamentalistischen Chauvinisten ausgenutzt werden, um immer neue Ängste und Misstrauen zu schüren. Misstrauen gegen Migranten und überhaupt Fremde, gegen Andersdenkende, gegen Minderheiten aller Art sowie Intellektuelle im Allgemeinen und liberale Intellektuelle im Besonderen, gegen das liberale Europa und schließlich, last but not least, gegen die Zivilgesellschaft im eigenen Land, die ihrer Ansicht nach entmündigt und marginalisiert werden muss.
In Russland und in der Türkei, um in Europa zu bleiben, ist das längst geschehen, Ungarn ist auf dem besten Weg dorthin. In Polen hingegen scheint die Zivilgesellschaft nicht bereit, die Fahne so rasch zu streichen. Die polnische Gesellschaft lässt sich nicht so einfach gleichschalten. Der Mut und die Entschlossenheit, den die polnische Zivilgesellschaft in der Verteidigung der liberalen Demokratie und ihrer Institutionen täglich aufs Neue beweist, sind zu bewundern. Ein nachahmenswertes Beispiel. Daraus folgt aber auch, dass wir, die diese Entwicklung einstweilen noch von außen beobachten, in die Verantwortung genommen werden. Wir müssen uns fragen, was wir tun können, tun müssen, um unsere Freunde in Polen und Ungarn zu unterstützen, ihnen aktive Solidarität zu erweisen.
Also was tun? Auf diese Frage gibt es naturgemäß keine einfache Antwort. Ich weiß auch keine, ich weiß nur eines: Wir dürfen nicht resignieren, nicht den Kopf einziehen und uns an die fatale Entwicklung gewöhnen. Unter keinen Umständen. Wir dürfen nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen, dass die Demokratie in unserer Nachbarschaft demontiert wird (wann sind wir an der Reihe?), dass die Gewaltenteilung im Staat infrage gestellt wird, wird dürfen uns nicht an obrigkeitlich verordnete Lügen und Fake-News gewöhnen. Und wir dürfen uns niemals daran gewöhnen, dass sich ein szary człowiek wie Piotr Szczęsny, ein kleiner Mann, wie er sich selbst nennt, in Warschau öffentlich verbrennt, um die Gesellschaft wachzurütteln und aufzurufen, der Zerstörung der Demokratie durch die regierende Partei Einhalt zu gebieten, ehe es zu spät ist. Ein Akt des letzten Protestes, wie man ihn sich radikaler nicht vorstellen kann. An solche Verzweiflungstaten, Ausdruck der Ausweglosigkeit, aber auch unglaublichen Mutes, dürfen wir uns nicht gewöhnen, sie sind unerträglich, nicht hinnehmbar, wir dürfen sie nicht mit Schweigen übergehen.
Gewöhnung ist wie ein schleichendes Gift, das die Gehirne zersetzt und die Menschen demoralisiert. Wenn wir das begreifen, haben wir schon einen wichtigen Schritt getan.