In knapp einem Monat sind die deutschen Bundestagswahlen, und der Wahlkampf kommt kaum in die Gänge. Sollte etwa die neue Weltordnung, die uns schon so unvermeidlich vorkommt, Europa derart in die Defensive gedrängt haben? Die politische Klasse Westdeutschlands, die Kinder der 1968er-Revolution, aufgewachsen in der Kritik am US-amerikanischen Imperialismus und Kapitalismus, wissen offenkundig nicht weiter. Innerhalb von gerade einmal ein paar Monaten wurde offenkundig, dass moralische Überlegenheit keine Verteidigung ersetzt, keine billige Energie liefert und nicht den Rest der Welt in Erstaunen versetzt. Donald Trump weiß das und zögert nicht, davon Gebrauch zu machen. Europa muss sich umgruppieren, muss den Anschluss an die modernen Wirtschaftszweige wiederfinden, muss endlich aufhören, anderen zu predigen, wie sie zu leben haben, und sich an die Arbeit machen. Ist das zu schaffen? Das ist die Frage.
Auf den zukünftigen Kanzler warten ungeheure Aufgaben. Erstmals nach der deutschen Wiedervereinigung steckt das Land wirklich in der Klemme. Die Wirtschaftskrise verschärft sich, Firmen gehen pleite, die Leute geben ihr Geld nicht mehr mit beiden Händen aus, und es ist auch nicht zu sehen, wie ein einziger Hebel umgelegt werden könnte, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Die Deutschen haben die Digitalisierung verschlafen, sie haben keinen einzigen großen Technologiekonzern. Wenn wir bedenken, dass allein der US-Konzern Apple eine zweifach höhere Kapitalisierung hat als die vierzig größten DAX-Unternehmen, dann können wir das Ausmaß der Entwicklungsverspätung der viertgrößten Wirtschaft der Welt erahnen. Unter den zwanzig weltweit größten Firmen ist nur eine deutsche, Volkswagen, und gerade die steckt in schweren Kalamitäten. Dabei ist kein Trost, dass es in den meisten europäischen Ländern nicht besser aussieht.
Könnten die Deutschen verarmen?
Noch unlängst hätte niemand diese Frage ernst genommen. Unterdessen haben die langjährigen Exportweltmeister nicht mitbekommen, wie sie sich selbst exportiert haben. Sie haben für teures Geld Technologie an chinesische Firmen verkauft und völlig übersehen, dass ihre traditionellen Abnehmer in Osteuropa jahrelang Fortschritte gemacht und gelernt haben, ihren lokalen Bedarf ohne teure Produkte aus Deutschland zu decken. Zugleich stiegen in Deutschland die Arbeitskosten gewaltig an. Jetzt ist es Tatsache, dass die Produktion vor Ort zu teuer ist, und eine zukunftsorientierte Produktion erfordert die Immigration von hochqualifizierten Mitarbeitern, die aber von den Steuer‑ und Sozialabgaben in Deutschland abgeschreckt werden. Der Unterschied zwischen brutto und netto ist für den Arbeitnehmer zu groß und motivationshemmend. Daher werden die verlorenen Märkte nicht zurückzugewinnen sein, weil die hochgeschraubten Arbeits‑ und Produktionskosten in Deutschland keine konkurrenzfähige Preisbildung erlauben. Wer auch nur ein wenig ökonomischen Verstand besitzt, begreift, dass diese Entwicklung kaum umzukehren ist.
Fette Jahre bringen selbstsichere Führungsgestalten hervor, welche die Gesellschaft mit Sozialgeschenken korrumpieren, und sobald die mageren Jahre kommen, werden diese zu einer großen Belastung und zur Zündschnur der Revolution. Glücklicherweise lehrt die Geschichte, dass die Deutschen nicht unbedingt zur Revolution neigen, aber sie reagieren ziemlich empfindlich auf die Aussicht auf Armut.
Um ihren Lebensstandard zu erhalten, müssen die Deutschen enorme Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Infrastruktur leisten. Die Objektliste des Bundes führt über 4000 Brücken zur sofortigen Reparatur auf, die Probleme der Deutschen Bahn AG sind allgemein bekannt, und jeder Deutsche weiß, dass sich das alles nicht im Handumdrehen verwirklichen lässt, aber irgendwo muss schließlich angefangen werden. Wer ist noch dazu in der Lage zu sagen, welche Industriezweige in zehn Jahren rentabel sein werden? Die einzige momentan sichere Investition scheint der Kauf von Aktien der Rüstungsindustrie zu sein.
In den jüngsten Meinungsumfragen nennen die Deutschen als wichtigste Probleme Wirtschaft, Migration, Asyl und Ausländer. Ohne Regelung der Migration, die in direktem Zusammenhang mit der inneren Sicherheit steht, ist Politik in Deutschland nicht mehr möglich. Es ist zu beobachten, dass das historisch informierte Argument, jedem vorzuwerfen, der von Problemen mit den Migranten in den deutschen Städten spricht, er sei ein Nazi oder Nazisympathisant, nicht mehr zieht. Dies ist neu in Deutschland, denn migrationskritische Meinungen kommen von links wie von rechts. Deutschlands Nachbarn sind gewiss nicht darauf vorbereitet, wenn dort jetzt in historisch belasteten Fragen ein anderer Ton angeschlagen wird.
Hätte es nicht das Gespräch zwischen Elon Musk und der AfD-Vorsitzenden Alice Weigel gegeben, das in der Öffentlichkeit Wogen schlug, und die Parole „Alice für Deutschland“, die phonetisch verdächtig nahe bei der verbotenen Nazi-Losung „Alles für Deutschland“ liegt, gäbe es in diesem Wahlkampf schon überhaupt keinen Gesprächsstoff. Das gibt zu denken. Es sieht so aus, als ob sich niemand wirklich um das Kanzleramt risse.
Olaf Scholz ist allzu selbstzufrieden, er freut sich, bereits nicht mehr Kanzler zu sein, aber höchstwahrscheinlich wird er auch Teil der künftigen Koalition sein und weiter die Karten ausgeben, ohne wirklich Verantwortung zu übernehmen. Robert Habeck redet über seine Gefühle auf altmodische Weise, indem er nämlich vor den Wahlen ein Buch veröffentlicht. Da stellt sich doch die Frage, wie der Vizekanzler und Wirtschaftsminister im Angesicht derartiger Probleme noch die Zeit zum Schreiben über sich selbst hat finden können. Dafür spricht Christian Lindner in verständlicher und den Gesprächspartnern zugewandter Weise, zudem ganz anders als vor dem Austritt aus der Regierung. Sozialdemokraten, Grüne und Liberale geben sich, als ob sie stets in der Opposition gewesen wären und die vergangenen drei Jahre, in denen sie die Regierungskoalition stellten, überhaupt keine Rolle spielten. Die Niederlage hat eben weder Vater noch Mutter.
Auch die Medien treten irgendwie merkwürdig auf der Stelle. Es war doch wohl nicht derart traumatisch, dass ihnen Musk ihre Stelle gewiesen hat, nämlich außerhalb der Arena. Die sozialen Medien verbreiten immer noch Meinungen, die nicht ganz ernst zu nehmen sind, obwohl doch die meisten von dort ihr ganzes Wissen darüber beziehen, was in der Welt so vor sich geht. Die AfD produziert sich auf verschiedenen Plattformen, es reicht, einige wenige Weidel-Videos anzuschauen, und schon wird der Nutzer mit rechtsgerichteten Inhalten überschüttet. Die übrigen Parteien sind mindestens drei Jahre verspätet – sie tun zu wenig, sind zu langweilig und banal. Das öffentliche Fernsehen wird fast nur noch von Rentnern geschaut. Jüngere Leute leben nur in der virtuellen Welt, viele haben nichtmals mehr einen Fernseher, und gerade sie bewegen sich nach rechts. Es ist schwer zu begreifen, wieso weder CDU noch Grüne auf diese Wählergruppe setzen. Vielleicht hat aber die aktuelle Einfrierung des Wahlkampfs mehr damit zu tun, dass Donald Trump gerade wieder US-Präsident ist, als allen recht sein kann? Zur Amtseinführung fährt kein deutscher Politiker ersten Ranges, wir wissen nur, dass Tino Chrupalla, Co-Vorsitzender der AfD, eine Einladung nach Washington erhalten hat, was er auf der Plattform X mitteilte. Noch vor wenigen Monaten unvorstellbar.
Was ist hier also los?
Friedrich Merz, der eigentlicher Oppositionsführer, hat irgendwie den Schwung verloren, die CDU hat um die Weihnachtsfeiertage den Wahlkampf ganz links liegen lassen, und selbst noch jetzt, Mitte Januar, ist von breit angelegten Wahlkampfaktionen nichts zu sehen, während der Wählerzuspruch für CDU/ CSU auf unter dreißig Prozent gefallen ist. Bei dieser Konstellation ist die Zusammensetzung einer möglichen Koalition immer schlechter auszumachen. Die bayerische CSU befindet sich auf einem kompromisslosen Anti-Grünen-Kurs, den Anhängern einer großen Koalition mit der SPD hat es die Stimmung verschlagen. Mit wem soll Merz also koalieren? Wenn die Tatsachen eine Koalition mit Grünen und SPD erzwingen, werden die großen Reformen von CDU/ CSU auf dem Papier bleiben, und die Probleme und sozialen Klüfte werden sich bis zum Grad völliger Dysfunktionalität vertiefen. Das wäre eine schlechte Abfolge seit den Zeiten der sehr schwachen Koalition im letzten Kabinett Merkel und über Scholz’ Koalition. Friedrich Merz macht sich darüber keine Illusionen und sieht darin, gleich wie etliche Kommentatoren, eine große Gefahr.
Die Legislaturperiode 2025 bis 2029 wird sehr wichtig sein. Die von der neuen Bundesregierung zu treffenden Entscheidungen werden schmerzhafte Einschnitte mit sich bringen. Wenn sich nicht soziale Dynamik und Stimmungen in der Gesellschaft merklich verbessern lassen, wird die nächste Regierung von der AfD gebildet werden. Und die Zukunft der Europäischen Union wird am seidenen Faden hängen.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann