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Willy Brandt in Warschau oder Kontinuität und Wandel in der deutschen Polen-Politik

Anlässlich des 80. Geburtstags von Adam Krzemiński erinnern wir an sein Gespräch mit Basil Kerski (DIALOG NR. 94/2011) über Willy Brandts Besuch in Warschau von 1970 und die bewegte Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen.

  

Basil Kerski: Welche Erinnerung haben Sie an den Besuch des Bundeskanzlers Willy Brandt und des Außenministers Walter Scheel in Warschau am 7. Dezember 1970?

Adam Krzemiński: Am Morgen war ich mit Günter Grass, der Brandt begleitete, zu einem Interview für die Wochenzeitung „Polityka“ verabredet. Von einem solchen Gespräch träumte ich seit Jahren, denn es waren mitunter seine Romane, die mich zum Germanistik-Studium bewegten. Nach dem Interview folgte ich Grass und damit dem offiziellen Programm der deutschen Delegation. Es war schon zu spät, zum Grabmal des Unbekannten Soldaten zu gehen, daher fuhr ich zum Denkmal der Helden des Ghettos. Aus der Ferne sah ich, wie Brandt sich dem Denkmal näherte, doch dann wurde er von mehreren Offiziellen und Reportern verdeckt. Dennoch sah ich die Ergriffenheit der von diesem Ereignis zurückkehrenden Menschen und las ein paar Stunden später in der Redaktion der Wochenzeitung „Forum“ leidenschaftliche Kommentare der Presseagenturen. In der nächsten „Forum“-Ausgabe erschien übrigens das Bild des knienden Brandts. Doch der Unterschied war immens: ein kleines Bild bei uns und ein riesiges in dem „Spiegel“ und dem „Stern“. Ich erinnere mich auch an die beschämenden Kommentare der Printmedien, die Mieczysław Moczar verpflichteten waren, der Kanzler habe vor dem falschen Denkmal gekniet. Die Geschichte der Rezeption der Brandtschen Geste in Polen ist ohnehin sehr interessant.

Inwieweit nahmen Polen durch das Fernsehen oder andere Medien das Bild des vor dem Denkmal knienden Kanzlers wahr?

Ich kann mich nicht mehr dessen entsinnen, ob der TVP-Sender in den Abendnachrichten den knienden Kanzler gezeigt hat, aber ich denke, ja. Es ist nicht wahr, dass das Bild ausschließlich in „Fołks Sztyme“, der einzigen jüdischen Zeitung in der PRL-Zeit, abgedruckt wurde – es wurde auch in der Tageszeitung „Życie Warszawy“ veröffentlicht. Im Service der Presseagentur PAP war ein „offizielles“, fast frontal aufgenommenes Foto zu finden: Im Vordergrund links sieht man den Arm eines polnischen Soldaten, der das Gewehr präsentiert. Dieses Foto wurde auch in der dreibändigen Ausgabe der „Deutschen Erinnerungsorten“ abgedruckt. Deutsche Medien verwenden für gewöhnlich eine seitliche Aufnahme, auf der auch die Fassade des Denkmals zu sehen ist. Als ich in den 1970er Jahren einen meiner Artikel mit eben diesem Bild illustrieren wollte, wurde sein unterer Teil von der Zensur abgeschnitten – es sah so aus, als hätte Brandt gestanden.

Trotz alledem denke ich, dass diese Geste vom 7. Dezember 1970 Polen erreicht hat, auch wenn sie in den offiziellen Medien – Samisdat gab es damals noch nicht – nicht an die große Glocke gehängt wurde. Auch deswegen, weil bald darauf andere Ereignisse die polnische Öffentlichkeit beschäftigten, wie der Streik an der Ostseeküste und der Sturz Gomułkas, die die deutsch-polnische Problematik in den Hintergrund verdrängten. Zurückgekehrt ist sie dann in Gestalt des deutschen Gezänks um die Ratifizierung des Warschauer Vertrages, und nicht mehr als Teil der Versöhnungspolitik. Nichtsdestotrotz war die Brandtsche Geste für junge Menschen, die an den deutsch-polnischen Beziehungen interessiert waren und im Grunde auf einen Wendepunkt hofften, ein Zeichen für den Beginn eines neuen Zeitalters. Den Kniefall von Warschau betrachte ich als eine universelle Botschaft, die nicht nur an die eine Gruppe von Opfern des nationalsozialistischen Völkermordes gerichtet war. Es war gleichzeitig eine stumme Antwort auf den Brief der polnischen Bischöfe von 1965. Ausgerechnet ein sozialdemokratischer Kanzler, dem – wenn überhaupt – die protestantische, und nicht die katholische Mentalität vertrauter war, drückte mit einer christlichen Geste das aus, was die deutschen Bischöfe als Antwort auf die Ansprache der polnischen Bischöfe zu sagen versäumten. Aus diesem Grund meinte Kardinal Wyszyński später verbittert, Polen hätten die Antwort bekommen, die sie sich gewünscht hatten, nur kam sie nicht von diesen Deutschen, von denen sie erwartet wurde …

Wurde der Besuch Brandts und Scheels in Polen von großen Erwartungen begleitet?

Basil Kerski und Adam Krzemiński

Sie waren unbeschreiblich groß. Heute ist es schwer vorstellbar, welch eine Kränkung die Verweigerung der Anerkennung von der Oder-Neiße-Grenze durch Bonn für Polen war. Dabei war es nicht nur die Angst vor dem deutschen Revisionismus, sondern auch die Demütigung des Angewiesenseins auf ein provisorisches Leben, auf sowjetische Garantien und die Solidarität der Ostblock-Staaten. Die Anerkennung dieser Grenze durch Westdeutschland weckte wiederum eine noch unbestimmte Hoffnung auf Normalität …

Ich spreche von meinen damaligen Empfindungen, die insofern untypisch waren, da meine ersten „Nachtgespräche“ mit Deutschen – auch den Deutschen aus dem Westen – bis in das Jahr 1965 zurückreichen, als ich in Leipzig studierte. Wir sprachen über den Bischofsbrief und die Bundestagswahlen, bei denen Günter Grass Brandt offen unterstützte und die Anerkennung der polnischen Westgrenze forderte. 1970 war ich 25 Jahre alt, aber Willy Brandt war für mich – wie auch sicher auch für viele Polen meiner Generation – ein deutscher Kennedy. Seit 1967 verfolgte ich seine Karriere als Redakteur der Wochenzeitung „Forum“, wo ich Zugang zur Westpresse hatte. Mir war klar, dass die Entstehung der sozialliberalen Koalition im Herbst 1969 eine politische, mentale und moralische Zäsur darstellte. Und zwar nicht nur aus dem Grund, weil Brandt in der Kriegszeit ein Emigrant und Antifaschist war, sondern weil er die junge Generation auf seiner Seite hatte, die sich gegen die Generation ihrer Eltern, der ehemaligen Nationalsozialisten auflehnte. Es war so, als hätte Brandt uns junge Menschen eingeladen, eine spannende Reise anzutreten und Barrieren zu überwinden. Dabei war seine Haltung nicht ziel-, sondern richtungweisend. In der Innenpolitik lockte er mit dem Motto „mehr Demokratie“ an, in der Außenpolitik mit „Wandel durch Annäherung“.

Die 1960er Jahre brachten das Ende „unserer kleinen Stabilisierung“ sowohl im Osten als auch im Westen. Es waren der Prager Frühling und der März 1968 in Polen; in den USA gab es Proteste gegen den Vietnamkrieg, in Frankreich den Pariser Mai, in Deutschland die Studentenrevolte und der Abschied der CDU von der Macht. All das war ein Zeichen der großen Verschiebung der tektonischen Platten in der Politik, Kultur und Mentalität – und all das verband die Länder über den Eisernen Vorhang hinweg. Spürbar – wenn auch noch nicht ganz klar – war das Gefühl, dass unsere Generation imstande wäre, ein Geflecht zu bilden, dem die Aufteilungen infolge des Kalten Krieges nichts anhaben können. Für viele von uns wurde Willy Brandt zum Exponenten dieser Erwartungen. Für die Repräsentanten des Parteibetons wurde er wiederum zu einer Gefahr. Walter Ulbricht nannte Brandts Ostpolitik einen „Revisionismus in Pantoffeln“ – eine gefährliche Erweichung der kommunistischen Staaten.

Und wie verlief Ihr Gespräch mit Günter Grass?

Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Es war kein langes Gespräch – Grass hatte wenig Zeit, ungefähr 20 Minuten, doch es fielen dabei Sätze, die meine Haltung als Publizisten und Germanisten dauerhaft beeinflusst haben. Unter anderem sagte Grass, die „quirlige polnische Mentalität” könne ein „Korrektiv” für den „schwerfälligen, verschlossenen Intellektualismus der Deutschen“ sein. Dieses Geständnis klang beinahe verführerisch – nicht nur wir brauchen sie, sondern auch sie brauchen uns! Darüber hinaus setzte sich Grass für zwei weltberühmte Schriftsteller ein – Sławomir Mrożek und Leszek Kołakowski – die kurz davor Polen verlassen hatten. Ich tippte mein Grass-Inteview blitzschnell ab, übersetzte es und brachte es anschließend in die Redaktion der Wochenzeitung „Polityka“. Am darauf folgenden Tag wurde ich von dem Redakteur der Kulturabteilung, Tadeusz Drewnowski, angerufen. Er sagte, die Zensur wolle die Passage über Mrożek und Kołakowski streichen. Man könne sie dennoch retten, würden wir meine Frage damit ergänzen, dass Kołakowski mit dem Wissen der Machthaber im Ausland sei, und Mrożek jederzeit zurückkehren dürfe, und für welche Variante ich mich denn entscheiden möchte. Ich antwortete darauf, mir sei in erster Linie wichtig, dass die Leser Grass’ Meinung dazu kennenlernen. Später erzählte mir Adam Michnik, er hätte dieses Interview im Gefängnis gelesen. Grass’ Intervention beeindruckte ihn, aber er fand es geschmacklos, dass „irgendein Krzemiński so idiotisch klug redet“. Es hat sich aber gelohnt …

War Brandt Ihrer Meinung nach auf diesen schwierigen Besuch gut vorbereitet? Für viele Beobachter auf der Welt war damals der Besuch Brandts und Scheels in Moskau am wichtigsten, denn in Moskau wurde über das Schicksal des geteilten Deutschlands entschieden. War sich Brandt dessen bewusst, dass dieser eine Tag in Polen für seine Außenpolitik so wichtig und für Westdeutschland dermaßen symbolisch werden würde? Wissen Sie, wie er sich auf die Warschau-Reise vorbereit hat?

Brandt wusste, dass er nach Warschau reiste, um den Verzicht Deutschlands auf seine ehemaligen Ostgebiete zu unterschreiben. Und dieses Wissen muss für ihn eine große Last bedeutet haben. Er kannte die hitzige Stimmung der deutschen Rechtskonservativen. Jahrelang musste er Angriffe auf seine Person erdulden – er sei ein Verräter, ein uneheliches Kind, jemand, der während des Krieges eine fremde Uniform trug, während jeder normale Deutsche das Feldgrau der Wehrmacht wählte. Über Brandt wird erzählt, er sei eine Mimose, die – auf der Suche nach Akzeptanz seitens der Massen und der Frauen – als Familienoberhaupt versagt hätte. Ein solcher vereinfachter Psychologismus charakterisiert die neunzigminütige ARTE-Produktion über Brandt. Dabei muss Brandt in den 1960er Jahren eine unglaubliche Willenskraft gehabt haben. Dreimal verlor er die Wahlen, trotzdem stand er danach wieder auf und machte, was gemacht werden musste. Er akzeptierte die Folgen des Krieges, wovor sich die westdeutschen Parteien zwanzig Jahre lang gedrückt hatten. In seinem Verständnis von Politik spielte Polen eine eher begrenzte Rolle. In den Schriften und Reden Brandts finde ich keine besondere Kenntnis der polnischen Geschichte oder Literatur – mit Ausnahme von „Schneller, als der liebe Gott“ Hanna Kralls. Marek Edelman behauptete, in den 1930er Jahren wäre er bei einem Vortrag Willy Brandts in Warschau gewesen, doch über diesen Vortrag ist in den Tagebüchern des deutschen Politikers kein Wort zu finden. In den 1960er Jahren traf sich Brandt mit Emissären des ersten Parteisekretärs Władysław Gomułka, beispielsweise mit Mieczysław Rakowski, doch es entstand kein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen. Der Dolmetscher von Gomułka, Mieczysław Tomala, berichtete, dass in dem Wagen, in dem Brandt zusammen mit dem Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz von dem Warschauer Flughafen Okęcie in die Residenz in Wilanów fuhr, eine kühle Atmosphäre herrschte. Schließlich fragte Brandt unverhofft: „Und wie läuft es mit der Ernte?“ – denn nach der Ernte wurde er bei seinem Besuch in Moskau von dem Ministerpräsidenten der Sowjetunion, Alexei Kossygin, gefragt. Brandt, der es nicht fassen konnte, warum sich ein bedeutender Regierungschef für die Ernte interessierte, dachte offensichtlich, diese Frage sei in den sozialistischen Ländern eine besondere Form der Aufmerksamkeit. Nach der Unterzeichnung des Vertrages gestalteten sich seine Gespräche mit Gomułka und Cyrankiewicz allerdings schon lebhafter.

Polen war – wegen der Oder-Neiße-Grenze –ein zentrales Element der Ostpolitik Brandts, aber es war – wegen der sowjetischen Hegemonie – ein Partner „im Gesamtpaket“ und kein Partner an sich. Und dennoch – trotz der mangelnden Kenntnis über Polen war sich Brandt nicht nur des Ausmaßes der NS-Verbrechen in Polen bewusst, sondern auch der Bedeutung des kommunistischen Landes in Europa. Meines Erachtens war sein Kniefall in Warschau eine spontane, aber gleichzeitig auch vollkommen bewusste Geste vor dem richtigen Denkmal – dem Denkmal der Helden des Ghettos. Ein deutscher Kanzler kniete vor den unzähligen Opfern des NS-Völkermordes – nicht ausschließlich vor den Opfern des Holocaust. Ich jedenfalls habe diese Geste schon damals so verstanden.

Hat Brandt Ihre Interpretation der Geste später in den Gesprächen mit Ihnen bestätigt?

Ich habe zweimal mit Brandt gesprochen. Das erste Mal war es ein Interview vor seinem Besuch in Warschau im Jahre 1985. Er sah schlimm aus, wie ein bereits sehr kranker Mensch. Kurz vor dem Interview flüsterte ihm Wolfgang Clement zu – der spätere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen – es sei ein Interview für die Warschauer, und nicht die Belgrader „Polityka“. Dieses erste Gespräch war professionell: korrekt und distanziert. Das zweite dagegen war ergreifend. Es fand ein paar Tage nach dem Mauerfall, in der Bonner Beethovenhalle statt, wo die Friedrich Ebert Stiftung ein großes Treffen mit Brandt, an dem einige Tausend Zuschauer teilnahmen, organisiert hat. Hauptredner war Brandt, danach folgten kurze Beiträge von uns, den Nachbarn der Deutschen. Zum Schluss trat Brandt ostentativ an mich heran und bat mich an die Seite des Podiums. Seine an mich gerichteten Worte waren unvergesslich: „Seien Sie auf der Hut vor der deutschen Juristerei.“ Stellen Sie sich einen ehemaligen deutschen Kanzler vor, der einen Polen vor juristischen Kniffen warnt, die Deutschland anwenden könnte. Brandt fehlten vielleicht das Gespür und die richtigen Fühler für die polnische Problematik, aber dennoch hat er diesen Satz gesagt. Was den Kniefall in Warschau anbetrifft, so hat mir Brandt damals in der Beethovenhalle dessen Motivation nicht verraten. Aber meine Interpretation hat ihm gut gefallen – es war der richtige Ort für diese Geste an alle Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen.

Das ist sehr wenig und zerstreut nicht die polnischen Vorwürfe an Brandt, er hätte keine intensiveren Kontakte zu Polen gesucht.  

Ich bin der Meinung, erst Helmut Schmidt nahm Polen als einen halbwegs eigenständigen Mitspieler wahr. Seine öffentliche Äußerung Mitte der 1970er Jahre, er könne sich Edward Gierek als Mitglied seiner Regierung vorstellen, rief Befremden hervor, und dennoch kann sie als ein beispielsloses Kompliment in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen angesehen werden. Schmidt übernahm die Schirmherrschaft über das von Karl Dedecius initiierte Deutsche Polen-Institut und warf auch einen Blick in die von ihm herausgegebene Buchreihe „Polnische Bibliothek“. Auch Gerhard Schröder – wie ich mich selbst überzeugen konnte – hat die Geschichte Polens von Norman Davies gelesen, die ihm Aleksander Kwaśniewski geschenkt hat. Bei Helmut Kohl hingegen habe ich keinen Beweis für ein solches Interesse gefunden …

Möglicherweise vertiefte sich Kohl in keine Bücher über Geschichte Polens, doch er war sich der großen Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen für die Bundesrepublik durchaus bewusst …

Dessen war sich auch Brandt bewusst, der – ähnlich wie Adenauer – stets wiederholte, die deutsch-polnischen Beziehungen seien für Deutschland von derselben Wichtigkeit wie die deutsch-französischen – nur kam bei Adenauer nichts dabei heraus. Ich komme noch einmal auf die Bedeutung des Ortes zurück – der Kniefall fand nicht im Yad Vashem, sondern in Warschau statt, am Ort des Verbrechens und an einem besonderen Erinnerungsort für Deutsche. Es ist schade, dass diese Herausforderung, die Brandt mit seiner Geste an die deutsche Öffentlichkeit stellte, in Polen häufig nicht genügend gewürdigt wird. Brandt, der aufgrund seiner Biografie keineswegs dazu moralisch verpflichtet war, zeigte seinen Landsleuten, dass sie sich vor der Anerkennung ihrer Schuld drückten. Und er tat es an dem Tag, an dem er seine Unterschrift unter die Anerkennung der Grenze setzte. Das war seinerseits eine klare Botschaft: Erkennt den Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostprovinzen endlich an als eine Form der Wiedergutmachung dafür, was das Dritte Reich, also viele von euch, im Osten angerichtet habt … Der von Brandt und Walter Scheel von der FDP – aber auch von Richard von Weizsäcker von der CDU – geführter Kampf um die deutsche Anerkennung der Grenze war ja schließlich kein Geschenk an Polen, sondern ein Versuch, bei Deutschen die historische Notwendigkeit zu erzwingen – wenn nicht im Namen der historischen Gerechtigkeit, dann doch im Namen des Friedens und des guten Zusammenlebens in der schwierigsten europäischen Nachbarschaft des 20. Jahrhunderts.

Der Streit um die Notwendigkeit der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen wurde in der Bundesrepublik jahrelang geführt. Bereits im Jahre 1958 schrieb Golo Mann in „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, die Deutschen müssen die Änderungen auf ihrer Landkarte, die neue Gestalt ihres Staates akzeptieren und daraus Schlüsse ziehen. Die Grenzen sowie die deutsche Kulturlandschaft haben sich geändert, schrieb Mann, es gebe keine Alternative zu der Gestalt des Nachkriegsdeutschlands.

Eine solche Haltung war weder damals, noch viel später so selbstverständlich. Ich erinnere mich an die Äußerung Wolfgang Schäubles über die Wiedervereinigung Deutschlands während seines Treffens mit den neuen Burschenschaftern, den Korporierten aus der ehemaligen DDR, auf der Wartburg im Jahre 1991. Schäuble sagte damals, die Bundesregierung musste die Nachkriegsgrenzen anerkennen, denn sonst hätte die Wiedervereinigung nicht zustande kommen können. Dabei hätte er auch sagen können, dass trotz des schmerzhaften Verlustes von Schlesien, Pommern und Ostpreußen Deutschland die Grenze ehrlich anerkannt hatte, denn man wollte endlich in Eintracht und in guter Nachbarschaft mit Polen leben. Schäuble sprach auf der Wartburg über den Preis – es gäbe keine Wiedervereinigung ohne die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze – und nicht über die historische Lehre, die 40 Jahre zuvor Golo Mann beschäftigte. Ähnliche Äußerungen wie von Schäuble kamen 1990 auch von Bundeskanzler Helmut Kohl. Und es war auch nicht Kohls Unterschrift, die unter den endgültigen Grenzvertrag vom November 1990 gesetzt wurde – unterschrieben hat ihn der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Es stellte sich heraus, dass der „Kanzler der Wiedervereinigung“ sich mit dieser Tinte die Hände nicht schmutzig machen wollte. Der Kanzler Brandt dagegen hatte den Mut, sich gegen die Ressentiments der Mehrheit in der deutschen Gesellschaft zu stellen. 1972 riskierte er sogar vorgezogene Wahlen – die faktisch gesehen ein Referendum zu seiner Ostpolitik darstellten – und gewann sie. Kohl trickste 1990 bei der Grenzfrage, um den Verlust von ein paar Prozent der Stimmen von der Seite der Vertriebenen nicht zu riskieren.

Sind Sie Kanzler Kohl gegenüber nicht zu kritisch? Helmut Kohl änderte die westdeutsche Politik nach 1982 nicht, vielmehr setzte er die Politik Brandts und Schmidts fort. Mir scheint es wichtig, ein anderes Verdienst Kohls für Polen hervorzuheben. In seinem Bestreben, Deutschland in den westlichen Strukturen schnell zu vereinigen, wollte er auch einen schnellen Rückzug der sowjetischen Soldaten aus Mitteleuropa, und diese Forderungen lagen im Interesse des demokratischen Polens, das 1990 zum unmittelbaren Nachbarn der NATO und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde.

Das stimmt. Wiederum kann man es auch mit der Liste der unnötigen Versäumnisse in unseren Anliegen seitens des Kanzlers in den 1990er Jahren vergleichen, die sich später gerächt haben. Ich bin der Meinung, wir sollten die deutsche Polenpolitik nicht so betrachten, als ob wir den einen Kanzler in den Himmel loben, während wir über den anderen ausschließlich nörgeln. Seit Brandt ist Deutschlands Polenpolitik nämlich kompromissbereit und berechenbar – bei allen Ecken und Kanten. Das trifft genauso auf den in Polen kritisierten Gerhard Schröder zu. Seine Entscheidung, sich von Gazprom aushalten zu lassen, kann bei einem sozialdemokratischen Politiker für stillos gehalten werden. Aber ich kann all das Gute nicht vergessen, was Schröder für die deutsch-polnische Nachbarschaft – ausgenommen die Ostseepipeline – getan hat. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg 1998 setzte er die von Bonn seit Jahren blockierten Entschädigungszahlungen für ehemalige KZ-Häftlinge in Gang. Im Jahre 2000 unterstützte er polnische Anliegen in Nizza. Im Dezember 2002, in der letzten Phase des Aufnahmeprozesses, erwirkte er die Erhöhung der Subventionen für die polnische Landwirtschaft um eine Milliarde Euro. 2004 distanzierte er sich von den Eigentumsansprüchen der Vertriebenen. Ist das wenig?

Wir sollten auch nicht außer Acht lassen, dass es laut der Meinungsumfragen von 2004 in der deutschen Gesellschaft keine Mehrheit für den EU-Beitritt Polens gab. Und trotzdem setzte die Regierung Schröders – sowie alle anderen Parteien im Bundestag – die EU-Osterweiterung konsequent durch. Bei dieser Frage hat die deutsch-polnische Interessengemeinschaft funktioniert. Kommen wir noch einmal auf den europäischen Erinnerungsort „Brandt in Warschau“ zurück: Inwieweit bedeutet er auch einen Erinnerungsort für Polen? In den 1970er Jahren wurde das Bild des knienden Kanzlers – trotz der Sabotageversuche seitens der Zensur – für viele Polen zu einem Symbol, zum positiven Bild der Bundesrepublik als eines Staates, den Polen in ihm sehen wollten – es wurde zum Bild eines auf selbstkritische Reflexion gestützten Staates, einer reifen Nation, die der Versöhnung offen gegenübersteht. Und dennoch habe ich den Eindruck, dass in den letzten 20–25 Jahren das Bild des in Warschau knienden Kanzlers aus dem Gedächtnis vieler Polen verschwunden ist.

Auch wenn die Zensur in der Volksrepublik Polen in die Veröffentlichung des Fotos des knienden Kanzlers ungern einwilligte, wurde es trotzdem als Symbol bekannt. In den 1970er Jahren floss es quasi osmotisch in das Bewusstsein großer Teile der Gesellschaft hinein. Willy Brandt wurde zum Sinnbild eines guten Deutschen. Nachdem es 1974 bekannt geworden war, dass die DDR in seiner Umgebung einen Spion einschleuste und Brandt gehen musste, löste dies in Polen Bestürzung aus. Ich erinnere mich daran, das Porträt seines Nachfolgers Helmut Schmidt mit „Besser als der Beste“ betitelt zu haben. Ich glaube, es gut getroffen zu haben.

Allerdings wurde das Bild des in Warschau knienden Kanzlers in den 1970er Jahren von einer Lawine überraschender deutsch-polnischer Bilder verdrängt, die in den 1960er Jahren absolut unvorstellbar waren. Ich denke, einen sehr großen Einfluss auf das Bild der Bundesrepublik in Polen hatte zum Beispiel der großartige Empfang polnischer Fußballspieler während der Weltmeisterschaft im Jahre 1974. Die ausführliche Berichterstattung aus Stuttgart und Frankfurt im polnischen Fernsehen zeigte ein ganz anderes Westdeutschland. Das Land wurde auch erreichbarer – in der Regierungszeit Edward Giereks wurde eine Reise in den Westen zu touristischen Zwecken real.

Aber nicht alle konnten doch in den Genuss dieses Privilegs kommen …

Natürlich nicht, aber trotzdem haben mehrere Hunderttausend Menschen einen Pass bekommen. Westdeutschland wurde für Polen näher und greifbarer. Es war auch der Anfang der Lehrbuchkommission, die in beiden Ländern offene Debatten auslöste. Später entstand die Oppositionsbewegung, die ein Netzwerk von eigenen deutschen Kontakten und Freundschaften schuf. Es kamen neue bilaterale Themen auf, sodass die Ikone „Brandt 1970 in Warschau“ kein Heiligenbild mehr war.

Mir scheint, es war Brandts kühles Verhältnis gegenüber der Solidarność, das das Verschwinden seiner Geste von 1970 aus dem polnischen kollektiven Bewusstsein in den 1980er Jahren bewirkte.

In den 1980er Jahren war es ganz sicher der Fall, doch das Problem ist komplexer. Ende der 1970er Jahre verschob sich die Sympathie der Polen Deutschen gegenüber auf die deutsche katholische Kirche. Es war bekannt, dass es die deutschen Kardinäle waren, die die Wahl Karol Wojtyłas zum Papst wesentlich beeinflusst haben. Ihr Einsatz glich der seit Langem erwarteten mutigen Antwort der deutschen Bischöfe auf den Brief des polnischen Episkopats von 1965.

Es ist allerdings wahr, dass Brandt für die Revolution der Solidarność kein Gespür hatte. Gegen eine in Nicaragua oder El Salvador hatte er nichts, aber nicht in Polen und Europa, denn er fürchtete eine Konfrontation der Großmächte. Brandt wollte eine Annäherung und Veränderungen in Osteuropa, doch er hatte Angst vor Destabilisierung. Erst im Sommer 1989 sah er ein, wie notwendig ein Zusammenbruch der verknöcherten Strukturen für Veränderungen war, aber er kam auf Umwegen darauf. Als Adam Michnik ihn 1984 mit einem im Gefängnis geschriebenen offenen Brief unter Druck setzte, machte Brandt Ausflüchte. Michnik ging es um Brandts Unterstützung im innerpolnischen Kampf, Brandt dagegen um die Unterstützung seiner Aktion für eine neue Entspannung. Brandt hatte kein Gespür für Polen, aber der Gerechtigkeit halber muss auch gesagt werden, dass auch die Unionsparteien sehr vorsichtig waren. Sogar Antikommunisten wie Franz Josef Strauss trafen sich gerne mit Erich Honecker und ließen die polnischen Fragen außen vor.

Heute scheinen sowohl die Kritiker als auch die Anhänger Brandts zu emotional und nicht ganz historisch zu argumentieren. Ein Treffen zwischen Brandt und Lech Wałęsa hätte 1985 zustande kommen können – als man darüber nachgedacht hat, dieses im Primas-Palast in Warschau zu organisieren, stellte sich heraus, dass der Primas nicht unbedingt eine Vermittlerrolle spielen wollte. Indirekt war es Präsident Mitterrand, der Wałęsa geschadet hat, indem er am Vortag des Warschau-Besuches Brandts im Élysée-Palast General Jaruzelski empfing. Dennoch: Hätte Brandt damals darauf bestanden, hätte das Treffen stattfinden können. Die Sache wurde bereinigt, als beide Nobelpreisträger 1989 in Bonn zusammenkamen. Der bittere Nachgeschmack der Enttäuschung ist heute wohl verschwunden. Im Jahre 2000 wurde von dem aus der Solidarność-Bewegung stammenden Ministerpräsidenten Jerzy Buzek und dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder ein Denkmal für den Brandt-Kniefall in Warschau enthüllt.

Auch Lech Wałęsa hegt keinen Groll gegen Willy Brandt. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag von Günter Grass im Jahre 2007 in Danzig sagte Wałęsa während einer öffentlichen Diskussion mit Günter Grass, Stefan Meller und Richard von Weizsäcker offen: „Ich mache Willy Brandt keine Vorwürfe, dass er sich damals mit mir nicht getroffen hat. Zu dem Zeitpunkt musste alles getan werden, damit der Bär im Osten nicht verärgert wird.“

Und dennoch bleibt die Frage nach dem Stil der Politik Brandts – eines Friedensnobelpreisträgers – gegenüber den antikommunistischen und demokratischen Bewegungen im sowjetischen Block.

Das ist aber keine Frage des Stils oder des Geschmacks. Als Brandt sich 1985 mit Wałęsa nicht getroffen hat, zeigte er mangelnde Kenntnis der polnischen Problematik. Und trotzdem war er sich dessen bewusst, wie wichtig Polen für Deutschland war. 1970 handelte er absolut richtig und bewies enormen moralischen Mut.

Ich halte den Besuch Brandts in Warschau für einen der fundamentalen Erinnerungsorte in der Geschichte der Bundesrepublik.

Selbstverständlich. Die Bundesrepublik hat einige Erinnerungsorte, die für ihre demokratische Identität grundlegend sind. Am wichtigsten ist die Erinnerung an den Holocaust, die in dem Mahnmal in der Nähe des Brandenburger Tors ihren Ausdruck fand. An zweiter Stelle kommt der Mauerfall von 1989. In der Mitte der deutschen Ikonostase stehen wiederum die Umarmung zwischen Adenauer und de Gaulle in Reims sowie der in Warschau kniende Brandt. Diese Ausdrucksstärke haben meiner Meinung nach weder die Bilder von Adenauer und Ben Gurion, noch von Kohl und Mazowiecki von dem Versöhnungsgottesdienst in Kreisau, genauso wie das Bild von den lächelnden Kohl und Gorbatschow im Kaukasus.

Verlassen wir die begrenzte deutsch-polnische Perspektive: Welche Bedeutung hatten das Jahr 1970 und der Warschauer Vertrag für Europa?

Brandts Warschau-Besuch war meiner Ansicht nach ein Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte Mitteleuropas. Die Nicht-Anerkennung der polnischen Westgrenze durch Westdeutschland hätte die innere Demokratisierung der Ostblockstaaten wesentlich erschwert, was die Ereignisse von 1968 in der Tschechoslowakei gezeigt haben. Gomułka drang in Moskau nicht deswegen darauf, gegen den Prager Frühling militärisch vorzugehen, weil ihm jeglicher Liberalismus fremd war – Grund dafür war seine Befürchtung, die Tschechoslowakei könnte sich von dem Block loseisen und Polen seinen Kampf um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik alleine ausfechten lassen. Ich beurteile seine Denkweise nicht, ich versuche lediglich, sie zu rekonstruieren. Gomułka hatte in der deutschen Frage kein Vertrauen zu Moskau, er fürchtete ein Übereinkommen im Geiste der Stalin-Note von 1952 …

Die Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands im Tausch gegen dessen Neutralisierung …

Gomułkas Furcht war berechtigt. 1955 nahm Chruschtschow diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland auf, obwohl Bonn die Anerkennung der Grenze verweigerte. Und im Jahre 1964 ließ Chruschtschow durch seinen Schwiegersohn, den Chefredakteur von „Iswestija“, die Möglichkeiten für eine erneute Annäherung prüfen. Unter anderem auf Anregung Gomułkas stürzte Leonid Breschnew damals Chruschtschow. Auf der anderen Seite konnte aber die Bundesrepublik auch Erfolge verzeichnen. Bis 1967 galt im Ostblock die Doktrin Gomułkas: Kein Land (die Sowjetunion ausgenommen) sollte diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufnehmen, solange die DDR und die Oder-Neiße-Grenze von Bonn nicht anerkannt werden. Aber im Januar 1968 brach Rumänien die Regel, gefolgt von Ungarn und Bulgarien. Antwort darauf sollte ein „eisernes Dreieck“ werden, bestehend aus Polen, der Tschechoslowakei und der DDR. Aber der Prager Frühling zeigte, dass auch Eisen zerbrechlich sein kann. Brandt, damals Außenminister in der Regierung von Kiesinger, sprach zwar auf dem SPD-Parteitag im Mai 1968 über die Anerkennung der polnischen Westgrenze, aber in der tschechoslowakischen Presse wurde über die Rückkehr zu der Kleinen Entente aus der Vorkriegszeit diskutiert – ohne Polen, dafür mit Jugoslawien. Auf die Rede Brandts reagierte Gomułka erst im Mai 1969, nach der Niederschlagung der Prager Revolution, und schlug Gespräche ohne Vorbedingungen vor. Brandts Antwort darauf kam im Herbst in Form einer Regierungserklärung. Ein Jahr später hat Bonn die polnische Grenze anerkannt. Das soll keine Rechtfertigung für die polnische Intervention in Prag sein – es soll lediglich zeigen, in was für einer Welt wir damals lebten.

Im Dezember 1970 begann eine neue Ära im Ostblock. Der Streik an der polnischen Ostseeküste, der eine Woche nach der Anerkennung der Grenze begann, zeigte symbolisch, dass der politische Schwerpunkt Polens in Richtung Innenpolitik gerückt ist. In den 1960er Jahren stand die deutsche Problematik im Mittelpunkt: der 650. Jahrestag der Schlacht bei Tannenberg und die Auseinandersetzung zwischen Gomułka und Kardinal Wyszyński um den Bischofsbrief von 1965. Nach der Anerkennung der Grenze und dem Sturz Gomułkas im Dezember 1971 wurde die Volksrepublik „normaler“. Edward Gierek führte die Politik der vorsichtigen Öffnung nach außen und nach innen. Einerseits wurde im Jahre 1975 auf der Helsinki-Konferenz die sowjetische Vorherrschaft im Ostblock anerkannt, auf der anderen Seite aber auch ein gewisser Spielraum für Menschenrechte gesichert, auf den sich Oppositionsbewegungen wie KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) und später auch die Solidarność berufen konnten. Und zum Schluss: Das 1981 in Polen ausgerufene Kriegsrecht war qualitativ etwas vollkommen anderes als die sowjetische Intervention 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.

Nach der Anerkennung der polnischen Grenze durch Westdeutschland gewann die Erosion des Ostblocks an Dynamik, unabhängig von den Unterschieden zwischen einzelnen Ländern oder dem Einfrieren der demokratischen Bewegungen für Jahre – wie in der Tschechoslowakei in der Regierungszeit von Gustáv Husák. Ohne den Besuch Brandts in Warschau im Dezember 1970 hätte es Helsinki von 1975 nicht gegeben und somit auch keinen Bewegungsrahmen für die Opposition. Ohne die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hätte auch der Vatikan keine neuen Grenzen für die Diözesen in den polnischen Westgebieten festlegen können, und ohne diese Handlung hätte die Versöhnung beider Episkopate im Jahre 1978 nicht stattgefunden, und folglich auch die Wahl Karol Wojtyłas zum Papst.

Man kann ruhig sagen, der Warschau-Besuch Willy Brandts 1970 sei in der Nachkriegsgeschichte Polens, Deutschlands und Europas eine Zäsur gewesen. Und das Bild des knienden deutschen Kanzlers in Warschau wurde zu einer Ikone …

Der Historiker Heinrich August Winkler behauptete mit Recht, die polnische (die Wiedererlangung der Freiheit) und die deutsche Frage (die Wiedervereinigung) seien seit zweihundert Jahren zusammengewachsen. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen sie in einer verhängnisvollen Konkurrenz zueinander: Entweder hatten die Deutschen Oberwasser – und Polen existierte nicht, oder die Polen – in dem Fall wurde Deutschland beschnitten und besetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren unsere Beziehungen in zwei Phasen aufgeteilt.

Die erste Phase war der Versuch der Bundesrepublik, die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands von der deutsch-polnischen Problematik zu trennen. Es wurde vorgetäuscht, dass die Frage der Grenzen noch offen sei und sie bei eventuellen Friedensgesprächen noch zu revidieren wären. Die zweite Phase begann in den 1960er Jahren mit der „neuen Ostpolitik“ Willy Brandts, deren Mittelpunkt – bei der gleichzeitigen Anerkennung der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa – die Einsicht war, es komme überhaupt nicht infrage, die Teilung Deutschlands zu überwinden, ohne die polnische Grenze und die polnische Eigenständigkeit in Europa anerkannt zu haben. Im Dezember 1970 antwortete Brandt indirekt nicht nur auf den Bischofsbrief von 1965, sondern auch auf den Rapacki-Plan, der von Moskau nur ungern unterstützt wurde; denn eine atomwaffenfreie Zone, die beide deutschen Staaten, Polen und die Tschechoslowakei umfassen sollte, würde den sowjetischen Einfluss abschwächen und die Zusammenarbeit zwischen den mitteleuropäischen Ländern verstärken.

Es war tatsächlich das Jahr 1970, in dem für die „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“ die Fundamente geschaffen wurden. So wurden die Beziehungen beider Länder im Januar 1990 von ihren Außenministern Krzysztof Skubiszewski und Hans-Dietrich Genscher definiert – der Letztere war übrigens Innenminister in der Regierung Brandt. Kurz gesagt: Ohne den 7. Dezember 1970 hätte es den 9. November 1989 nicht gegeben – nicht die Wiedervereinigung, nicht den Zusammenbruch der Sowjetunion und nicht den Beitritt Polens zur NATO und zur Europäischen Union.

Aber zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem 7. Dezember 1970 gehören auch die lange und schwierige Ratifizierung des Warschauer Vertrages im Bundestag sowie die Verleugnung der Bedeutung dieses historischen Wendepunktes auf der polnischen Seite. Die SPD und die Liberalen verteidigten im Bundestag die Ostpolitik, während viele konservative Politiker sie bekämpften.

Die damalige Kleinlichkeit der Konservativen war schockierend. Aber darunter gab es auch die mutige Haltung Richard von Weizsäckers und jener CDU-Politiker, die die Enthaltung der Konservativen bei der Abstimmung bewirkten und damit die Ratifizierung ermöglichten. Trotzdem fällt es schwer zu vergessen, dass ausgerechnet die CDU-CSU, eine überwiegend katholische Partei, der Anerkennung der Grenze im Wege stand. Der nationale Egoismus siegte über das europäische moralische Verantwortungsgefühl. Erst Helmut Kohl hat die Akzente verschoben.

Für Polen war auch der Spruch des Bundesverfassungsgerichts von 1975 irritierend, der zeigte, dass die rechtlichen Konsequenzen bei der Grenzfrage, die aus dem Vertrag von 1970 hervorgehen, von der Bundesrepublik anders interpretiert werden als in Polen. Deutschland erkannte die Grenze nur bedingt an – bis zur zukünftigen Wiedervereinigung. Der Vertrag war zwar ein Wendepunkt in den deutsch-polnischen Beziehungen, doch seine rechtliche Interpretation rief in Polen Enttäuschung und Misstrauen hervor.

Dennoch war die Rückkehr zur Situation vor 1970 nicht mehr möglich. Trotz der Enttäuschung über den Spruch des BVerfG und trotz des späteren Einbruchs in den deutsch-polnischen Beziehungen nach der Einführung des Kriegsrechts war die Wende 1970 unumkehrbar. Ein Beweis dafür war nicht nur die Sympathie der Deutschen zu Polen, die an den Millionen verschickter Pakete in den 1980er Jahren gemessen werden konnte, sondern auch – bei aller Übertreibung – die Kontakte deutscher politischer Eliten mit den Eliten der Volksrepublik und der Solidarność vor 1989. All das hat sich in den 1990er Jahren ausgezahlt – es ist gelungen, die gefährlichen Riffe der europäischen Politik weitestgehend unbeschadet zu umschiffen, den Kommunismus zu Fall zu bringen und den Kapitalismus wiederaufzubauen.

Sie wiederholen häufig, dass wir in den letzten 40 Jahren nicht nur Zeugen von historischen Wendepunkten in den deutsch-polnischen Beziehungen waren, sondern auch Zeugen deren Aufwertung auf europäischer Ebene. Gleichzeitig sind Sie der Meinung, nur wenige Vertreter der politischen und kulturellen Elite Deutschlands seien sich dessen bewusst, wie wichtig diese neue Dynamik in den deutsch-polnischen Beziehungen für das künftige Geschick der deutschen Nation sei …

Das, was ich an der jungen Generation deutscher Politiker vermisse, ist das Gespür für Facetten sowie die Kenntnis des kulturellen Unterbodens in unserem Teil Europas. Es reicht nicht, die Landkarte des europäischen Kontinents sachlich zu betrachten, auf der einen Seite der eine große Nachbar Deutschlands Frankreich, und auf der anderen der zweite große Nachbar Polen sind, also wäre es gut, wenn wir zusammenarbeiten. Man muss auch weitsichtig denken, die großen historischen Prozesse und kulturellen Verbindungen mit berücksichtigen, die Licht- und Schattenseiten der politischen Kultur beider Länder kennen.

Die jungen Leute machen eine politische Karriere in der Innen-, und nicht in der Außenpolitik oder auf europäischer Ebene. Die Folge davon ist nicht etwa eine Renationalisierung der Politik in den EU-Ländern – obwohl auch diese These vertreten wird – sondern ihre Provinzialisierung. Sehen Sie sich die Themen der populären Talk-Shows im Fernsehen beider Länder an: Ihr Gegenstand sind nicht Nachbarländer oder Europa, sie werden nur peripher behandelt.

Heute kandidieren Deutsche bei den Kommunalwahlen in Polen, sowie Polen in Deutschland, aber die deutsch-polnischen Themen – ähnlich wie die deutsch-französischen – sind keineswegs „sexy“. Ein Beweis dafür ist der absurde Streit um die Musealisierung von Vertreibungen. Es scheint, als ob die junge Generation für diese Nachbarschaft keine eigene Erzählart gefunden hätte, keine eigene Erzählart für die gemeinsame Geschichte und keine für das vereinigte Europa. In Polen entsteht eine billige Ideologie von Waldemar Pawlak über das „Ausquetschen von Rosenkohl“ [„wyciskanie brukselki“ – Brüssel wird wortspielerisch als brukselka bezeichnet, A.d.Ü.], während in Deutschland – geht es um Brüssel und Europa – der Drang aufkommt, das eigene Geld zu schützen. Die Generation der Vierzigjährigen macht nicht den Eindruck, im Namen Europas auf die Barrikaden gehen zu wollen, um die „ewig Gestrigen“ in ihren Ländern zu bekämpfen …

Was kann man über die deutsche Polenpolitik aus der Perspektive von 1970 und 1989 sagen? In Ihrem Buch „Testfall für Europa: Deutsch-polnische Nachbarschaft muss gelingen“ (2008) schreiben Sie, wären die deutschen Kanzler gegenüber der Öffentlichkeit in ihrem Land in Bezug auf Polen in den letzten zwei Jahrzehnten so mutig gewesen wie Willy Brandt, hätte man all diese Missverständnisse und Konflikte vermeiden können, die unsere Beziehungen nach 2005 vergiftet haben …

Dieses bittere Fazit trifft auch auf polnische Politiker zu. Hätte sich Helmut Kohl 1990 vor der Aufklärung der Grenzfrage nicht gedrückt, um ein paar Stimmen von den deutschen Vertriebenen zu bekommen, hätte sich der Bund der Vertriebenen in den 1990er Jahren sicher anders entwickelt, worauf die Haltung Herbert Hupkas und Hartmut Koschyks hindeuteten. Hätte Helmut Kohl in dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 festgehalten (das sagte Gerhard Schröder am 1. August 2004 in Warschau), dass die deutsche Regierung die Forderungen der Vertriebenen nach Entschädigung keineswegs unterstützen würde, hätte er vielleicht Schwierigkeiten bekommen – diese wären jedoch in den Kosten für die Wiedervereinigung untergegangen: in den Finanztransfers für die neuen Bundesländer und die Sowjetunion für den Rückzug ihrer Armee. Aber für Helmut Kohl war es nicht wert, die Lobby der Vertriebenen wegen Polen aufs Spiel zu setzen.

Auch am Heiligenschein der polnischen Politiker aus den 1990er Jahren kann man rütteln. Hätten wir wiederum den Vorschlag unterbreitet, der Vertreibungen und Aussiedlungen gemeinsam zu gedenken – und solche von Bürgern ausgehenden Projekte entstanden damals in Schlesien, Pommern, Masuren sowie in Breslau, Glogau und Danzig – hätten wir den Kampf um das Zentrum gegen Vertreibungen vermeiden können. In beiden Fällen wäre die Atmosphäre anderes geworden, vielleicht auch das Ergebnis der polnischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2005.

Der Großvater in der Wehrmacht wäre nicht aufgetaucht …

Er wäre nicht mehr von Bedeutung, denn der Versöhnungsprozess zwischen Deutschen und Polen wäre bereits so tief genug eingewurzelt, dass die antideutschen Ressentiments nicht mehr in Gang gesetzt werden könnten. Ich glaube übrigens, sie seien 2005 viel schwächer gewesen, als es die beiden politischen Lager behaupteten: die siegreiche Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die geschlagene Bürgerplattform (PO). Die Schwäche der antideutschen Karte bestätigten nicht nur die Wahlergebnisse im Westen Polens. Es war auch die massive Unterstützung für Grass in Danzig zu der Zeit, als er sowohl in Deutschland als auch von den polnischen Rechtskonservativen angegriffen wurde. Es handelte sich um Grass’ späte Bekanntmachung seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS ab Herbst 1944.

Im polnischen rechtkonservativen Lager scheint die Einsicht zu verschwinden, dass eine tiefgehende Integration Polens in die Europäische Union im Interesse des Landes ist und die Vereinigung mit Westeuropa zu den Träumen der antikommunistischen Oppositionsbewegung sowie der demokratischen Strömungen innerhalb des politischen Denkens vor 1989 gehörte …

Das stimmt. Aber auch wenn man auf das Argument des nationalen Egoismus zurückgreift, kann man trotzdem die Äußerung der Franzosen aus den 1960er Jahren zitieren: Wir brauchen die europäische Integration, um Deutschland freundlich zu umarmen, nicht nur um uns vor seinen eventuellen Dummheiten zu schützen, sondern auch Deutschland vor unseren Fehltritten. Übrigens erinnerten auch die Deutschen selbst, die sich für die europäische Integration einsetzen, an die pädagogische Rolle Europas. Es hat mir gut gefallen, als Gesine Schwan, die Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, an der Kampagne vor dem französischen Referendum über die EU-Verfassung 2005 teilnahm und den Franzosen erklärte: Lasst die Polen nicht mit uns allein, helft ihnen … Leider stellte sich die Angst der Franzosen vor dem polnischen Klempner als stärker heraus. Aber diese Aufforderung zur europäischen Solidarität war beispielhaft.

Zum Schluss komme ich auf die Grundfrage unseres Gespräches zurück. Warum ist die Erinnerung an die Ereignisse von 1970 heute so wichtig? Sollte man sich nicht eher auf die Wende von 1989, auf den Grenzvertrag vom November 1990 oder auf den Nachbarschaftsvertrag von 1991 konzentrieren?

Es reicht nicht, Geschichte als eine Reihe isolierter Ereignisse zu betrachten: das Treffen zwischen Otto III. und Bolesław I., die Schlacht bei Tannenberg, der „Versöhnungsgottesdienst“ von 1989 – es ist wichtig, die historischen Prozesse zu begreifen, denn sie sind es, die uns aus unseren Fehlern lernen lassen. Sowohl ein polnischer als auch ein deutscher Abiturient sollen nicht nur die wichtigsten Fakten kennen, sondern auch die Prozesse, die um diese Fakten herum stattgefunden haben. Sie sollen ebenfalls über katastrophale Fehler und unglaubliche Erfolge in der Vergangenheit Bescheid wissen – und zwar die gemeinsamen, und nicht über diejenigen, die auf Kosten des Nachbarn erreicht worden sind. Für das Verständnis des Weges der Deutschen und der Polen zu ihrer heutigen Interessengemeinschaft ist das Jahr 1970 von fundamentaler Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um die Ikone des knienden Brandt oder um die „Umarmung von Kreisau“ zwischen Kohl und Mazowiecki. Auch der polnische sowie der deutsche Bildungsbürger sollten die Logik der deutsch-polnischen Nachbarschaft im 20. Jahrhundert kennen und verstehen: die Rückkehr Polens auf die Landkarte Europas infolge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Revolution in Russland, die Gründe und den Verlauf des Zweiten Weltkrieges, die NS-Verbrechen in Polen und die Nachkriegsgeschichte der Ostdeutschen. Auf der anderen Seite sollten die beiden Bildungsbürger wissen, wie die gemeinsame Werte- und Interessengemeinschaft zustande kam, die wir – trotz vieler Diskrepanzen – auch heute haben. Polen und Deutschland haben ein lebendiges Interesse daran, dass Europa funktioniert, dass es stark ist und dass beide Länder – Deutschland und Polen – im Zaum gehalten werden, für den Fall, dass wir die Selbstkontrolle verlieren …

Können Deutsche und Polen anderen Ländern als Beispiel dienen, die miteinander in einem Konflikt leben?

Selbstverständlich. Ich meine, die deutsch-polnischen Beziehungen seien für das Wohl Europas wichtiger, als die deutsch-französischen, auch wenn es Bonn und Paris waren, die das Modell für Zusammenarbeit und Versöhnung vor 1989 ausgearbeitet hatten. Wir haben es zuerst auf die deutsch-polnischen Beziehungen, und anschließend auf die mit Litauen und der Ukraine übertragen – jetzt üben wir es mit Russland. Aber die deutsch-französische Versöhnung ist insofern einfacher, dass diese zwei Länder wirtschaftlich, zivilisatorisch, historisch und militärisch vergleichbare Größen darstellen. Mit Polen gestaltet es sich schon schwieriger. Deutschland muss Polen in sein politisches und historisches Bewusstsein aufnehmen, entgegen der zweihundertjährigen Tradition. Diese seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, also seit der Regierungszeit Friedrichs des Großen bestehende Tradition besagte, dass der wichtigste Nachbar Deutschlands im Osten – der wichtigste Partner und Gegner – Russland sei. Polen dagegen sei nur ein verschwommener geografischer Begriff, eine zur Verfügung stehende Masse im Kräftemessen mit Russland. Es war Brandt – leider nicht Adenauer – mit dem im deutschen Denken über Polen ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel begann. Dieser Wandel ermöglichte Polen – oder sollte es zumindest – sich von dem „deutschen Komplex“ zu befreien und innerhalb der Europäischen Union eine aktive Rolle zu übernehmen und es zu verwerfen, ausschließlich eigene historische Komplexe abzureagieren – zum Wohl des vereinigten Europas.

Mit Adam Krzemiński sprach Basil Kerski

 

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