Auf den ersten Blick haben der Wahlkampf des grünen Kanzlerkandidaten Robert Habeck und die Geschehnisse rund um die Steinmeier-kritische Rede des Schriftstellers Marko Martin, gehalten am 7. November im Schloss Bellevue, wenig miteinander zu tun. Beides steht jedoch für eine der Demokratie nicht zuträgliche Krisentendenz: die öffentlich dargebotene Refeudalisierung des politischen Systems. Damit sind unmittelbar weder Martins eigenes Verhalten noch quantifizierbare Vermögensunterschiede finanzieller Natur gemeint. Bei Refeudalisierung im hier thematisierten Sinn geht es vielmehr um eine Gestalt politischer Öffentlichkeit, die vor allem durch die Beschreibung des historischen Typus „repräsentative Öffentlichkeit“ im Frühwerk von Jürgen Habermas bekannt wurde.
In der an einen frühen Buchtitel anknüpfenden Schrift „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ (2022) spricht Habermas an einer Stelle von „der repräsentativen Öffentlichkeit der in Kaisern, Königen und Fürsten persönlich verkörperten Herrschaft“. Über diese kurze Erwähnung hinaus spielt die vermeintlich historisch überkommene Kategorie der repräsentativen Öffentlichkeit in dieser aktuellen Arbeit aber keine direkte Rolle mehr. Es geht Habermas hier vielmehr um die aktuellen Gefahren einer „Entgrenzung und Fragmentierung“ politischer Öffentlichkeit. Die an den Typus „repräsentative Öffentlichkeit“ anknüpfende und reale Konstellationen beschreiben wollende Refeudalisierungsthese war hingegen in Habermas‘ Habilitationsschrift zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) noch als zentrale Krisendiagnose präsentiert worden. Damals ging es ihm – wie heute auch – um die Gefährdungen der „Kriterien des Räsonablen“, aber nicht durch Digitalisierung, sondern beispielsweise durch die Wiederkehr der „Aura persönlich repräsentierter Autorität“. Dann werde „Öffentlichkeit … zum Hof, vor dessen Publikum sich Prestige entfalten läßt – statt in ihm Kritik.“
Kritik im Schloss
In der Bundesrepublik obliegt es dem Bundespräsidenten, wenn er nicht gerade Formalbefugnisse ausübt, eine „ehrwürdige“ (Walter Bagehot), demokratische Integrationskraft im Staat zu entfalten, ohne dabei in die persönliche Herrschaftsattitüde des Monarchischen zu verfallen. Die Amtsinhaber reden deshalb viel über den Wert der Demokratie. Im Fall Steinmeier/Martin trat dann aber offensichtlich hervor, welches Missverhältnis zwischen diesen rhetorisch vermittelten Grundwerten und der Außendarstellung einer qua Individualperson ausgefüllten Institution bestehen kann.
Der Bundespräsident hatte zu einer Festveranstaltung zum 35. Jahrestag des Mauerfalls in seinen Amtssitz Schloss Bellevue geladen. Blau-gelb gekleidet betrat Martin die Bühne. Er hielt seinen fünfzehnminütigen Festvortrag als fulminante Anklage samt deutschlandkritischer historischer Analyse. Martins Rede war natürlich als Affront angelegt. Er bezichtigte Steinmeier und andere des naiven Appeasements gegenüber Putin und verband diese Sichtweise mit der Diagnose einer historisch in übelster Tradition stehenden kolonialistischen Sicht auf Ostmitteleuropa, mithin also auf jene Menschen, denen man den Mauerfall und die Friedliche Revolution entscheidend zu verdanken habe. Neben Egon Bahr bekamen auch die sich emanzipatorisch verstehenden Friedens-Ostdeutschen ihr Fett weg. Martins Drahtseilakt war ein sprachlicher und intellektueller Hochgenuss im Angesicht existenzieller Herausforderungen, dem viel abzugewinnen und manches entgegenzuhalten war.
Der Bundespräsident hätte die Möglichkeit gehabt, sich als Integrationsfaktor zu erweisen, zu widersprechen, sich und andere zu verteidigen und dem demokratisch gesinnten Redner auf einer Ebene die argumentative Stirn zu bieten. Dazu hätte er auch nicht klatschen müssen, was er eh unterließ. Aber diese Erwiderung hätte eine Abkehr von der Tagesordnung (bzw. vom Protokoll) und eine politisch möglicherweise nicht ganz konsensfähige Handlung des Ersatzmonarchen bedeutet – vielleicht sogar bis hin zur spontanen Wut ohne Teleprompter. Stattdessen überließ Steinmeier aber weiter seinem Kritiker die Deutungshoheit, denn Martin berichtete später im T-Online-Interview ausführlich vom auf die Festveranstaltung folgenden Empfang, bei dem ihm Steinmeier persönliche Diffamierung und sogar den Missbrauch des Gastrechts vorgeworfen habe. „Dabei ist doch auch für Herrn Steinmeier das Schloss Bellevue nur eine temporäre Bleibe“, so Martin. Er berichtete im Interview auch von Steinmeiers angeblich auf „Realpolitik“ basierenden Vorbehalten gegenüber „Fachleute[n], die er ‚Kaliberexperten‘ nannte“ – was stimmt, wenngleich der Ort des präsidialen Ausspruchs ein anderer war.
Im September 2017 klang Steinmeier noch anders. Er eröffnete die Veranstaltungsreihe „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“ laut Redemanuskript mit den Worten: „Deshalb brauchen wir Orte, an denen wir die nötigen Debatten führen können, mit Leidenschaft, klar, aber hoffentlich im Zeichen von Vernunft und dem Willen zur Wahrhaftigkeit. Deshalb sind Sie hier, denn so ein Ort soll das Forum Bellevue sein.“ Bis 2022 fanden insgesamt 13 solcher Diskussionsveranstaltungen mit dem Bundespräsidenten und verschiedenen Intellektuellen beziehungsweise ExpertInnen statt. Es entstand dazu ein Buch, herausgegeben von Steinmeier selbst, der im Vorwort schreibt: Ich habe meine Gäste gebeten, ihre Perspektiven niederzuschreiben und zu aktualisieren – und die zusammengetragenen Impulse so zugänglich zu machen. Dabei sind mir im besten Sinne republikanischer Streitbarkeit gerade auch diejenigen Perspektiven wertvoll, die ich nicht teile und die zum Widerspruch anregen.“ Offensichtlich hatte keiner der Eingeladenen sein oder ihr Gastrecht missbraucht.
Marko Martin berichtete hingegen dem Tagesspiegel davon, dass ihn auch die Angestellten des Präsidenten nach seiner Rede anders behandelt hätten: „Zahlreiche der Mitarbeiter des Präsidialamts hatten mich vor meiner Rede freudig begrüßt, ja verbal gehätschelt. Danach haben sie pikiert weggeguckt oder mich mit der gleichen beleidigten Miene wie der Bundespräsident angeschaut: wie man an einem Hofstaat auf den renitenten Eindringling im Schloss blickt. Dabei sollte das Bellevue doch eigentlich ein Ort der Demokratie und Debatte sein.“
Willkommen am Küchentisch
Neben der Nähe zu Intellektuellen sucht Steinmeier auch die Nähe zur Bevölkerung. Als Instrument dient ihm zum Beispiel das Format „Kaffeetafel“, bei dem er am Amtssitz oder auf Dienstreisen unterschiedliche Personenkreise an einem gedeckten Tisch trifft. Während die hauseigene Berichterstattung in der ersten Amtsperiode bis 2022 auch mit Kurzvideos arbeitete und die Darstellung den Gastgeber ins Zentrum rückte, ist die Fortsetzung der Reihe mit „Kaffeetafel kontrovers“ leicht umbenannt worden und kommt in der Außendarstellung weniger als Werbeformat daher. Sie ist nun eingebettet in das Programm „Ortszeit“, bei dem Steinmeier für mehrere Tage in einer Region verbleibt. Der Grat zwischen repräsentativer und demokratisch-integrativer Öffentlichkeit kann schmal sein.
Zur Eröffnung der Kaffeetafel-Reihe sagte Steinmeier 2018 laut Redemanuskript: „Denn nur am Tisch kommen die Dinge auf den Tisch – auch die, die schwierig sind.“ Diese Idee wurde von Robert Habeck im aktuellen Bundestagswahlkampf als PR-Maßnahme übernommen. Im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beschreibt Habermas es als Modus der Refeudalisierung, sich „durch Entfaltung demonstrativer oder manipulierter Publizität beim mediatisierten Publikum plebiszitärer Zustimmung [zu /ML] versichern.“ Mangelnde Publizität politischen Entscheidungshandelns und die fehlende diskursive Offenheit politischer Prozesse – also das Machtstreben politischer Akteure und Organisationen – werden nach dieser Lesart durch PR kaschiert. Habermas schreibt: „Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt im Maße ihrer Gestaltung durch public relations wieder feudale Züge an: die ‚Angebotsträger‘ entfalten repräsentativen Aufwand vor folgebereiten Kunden. Publizität ahmt jene Aura eines persönlichen Prestiges und übernatürlicher Autorität nach, die repräsentative Öffentlichkeit einmal verliehen hat.“ In diesem Sinne steht „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“ für eine „Integration von Massenunterhaltung und Werbung, die in Gestalt der public relations … ‚politischen‘ Charakter annimmt“.
Ohne hier auf die von Habermas nicht vollständig dargelegte Herleitung des Begriffs „repräsentative Öffentlichkeit“ einzugehen, der eigentlich aus der Dissertationsschrift von Rüdiger Altmann stammt (1954), sind die inhaltlichen Parallelen zum Wahlkampf des bündnisgrünen Kanzlerkandidaten doch frappierend. Ein Armbändchen mit der Aufschrift „Kanzler Era“ wurde im kurzen, mittlerweile auf der Plattform „X“ gelöschten Auftaktvideo seiner Kampagne per Blitzeinblendung unterhalb der direkten Wahrnehmungsschwelle eingeblendet. Ganz ironiefrei pries Habeck seine Küchentischgespräche im ARD-Talk bei Caren Miosga als das „Aufmachen“ eines „Politischen Kulturraum[s]“, in dem „auch Vizekanzler und Spitzenkandidaten zuhören“. Anschließend bekam er von Miosga belanglose „Küchentischfragen“ vorgelesen, z.B. nach seinem „Schuhwerk … in der Küche“. Die Sendung wirkte an dieser Stelle, als sei sie von Julian Reichelts rechtspopulistischem Kanal NiUS als Steilvorlage für die eigene Anti-ÖR-Propaganda konzipiert worden, oder als Satire mit dem Titel „Mehr Weihrauch bitte“.
Zu den Küchentischgesprächen reist Habeck mit seinem Team auf Einladung der Protagonistinnen und Protagonisten an. Er nimmt dabei natürlich nicht jede Offerte an und die Videodokumentationen beschränken sich zumeist auf schmale Kurzzusammenfassungen auf den eigenen Kanälen des Kanzlerkandidaten. Überraschenderweise haben die Gesprächspartner dann viel Lob für Habeck und dessen Kontakt „auf Augenhöhe“ übrig. Er gibt die Wertschätzung stets zurück und gibt vor, die gewonnenen Eindrücke einzubringen. Es handelt sich um eine medial erstellte Identitätsfiktion zu Werbezwecken. Warum kein echtes Zufallsformat ohne eigenes Team und mit voller Dokumentation? Vielleicht wäre Habeck dann auf Wutbürger oder – wie einst Merkel – auf das „Flüchtlingsmädchen Reem“ getroffen. Stattdessen setzt man auf den kurzfristigen Erfolg und scheint damit den Nerv der Zeit zu treffen. Auf Instagram berichtete Habeck schon am 9. Dezember von „drei Millionen Euro an Kleinspenden“ und 20.000 Neumitgliedern „bei den Grünen“, wie er die Partei kurz nennt. Das sei „nicht nur ungewöhnlich gewesen, sondern außergewöhnlich“.
Stuhlkreis statt Kritik
Im Ganzen übertragen wurde der Parteitag, auf dem das Bündnis 90/Die Grünen den Wirtschaftsminister offiziell zum Kanzlerkandidaten machte. Die als Demokratiepartei aus den Neuen Sozialen Bewegungen und auch aus der DDR-Bürgerbewegung stammende Partei brachte ihrem Spitzenmann 96,48 Prozent Zustimmung entgegen. Dazu bedurft es allerdings einer außenwirkungstauglichen Simulation des eigenen Demokratieanspruchs, ohne die das Gefolgschaftsmodell, in das man sich nach den jüngsten Wahldebakeln gerettet hat, allzu offensichtlich geworden wäre. Analog zu großen Rockbands, die seit einigen Jahren (Zweit-)Bühnen in der Mitte des Publikums aufbauen, nahm Habeck im Anschluss an seine Bewerbungsrede an Gesprächsrunden in der Mitte der Halle teil. Das Licht wurde gedämmt und die ausgewählten Delegierten schmissen keine Farbbeutel, wie einst auf Joschka Fischer, sondern bedankten sich teilweise dafür, dass der Spitzenmann ihnen zuhöre („Hallo Robert, danke, dass du dir die Zeit nimmst“).
Auch Habeck war nach nicht einmal einer Stunde intensiven Diskurses voll des Lobes über die Ruhe im Saal, das „Zuhören“ und „Miteinander Reden“, während Parteitage ansonsten „inszeniert“ seien. Keinem kam sichtbar in den Sinn, dass die Personalisierung der Partei, die bei der vorangegangenen Wahl mit der Auswahl einer Kanzlerkandidatin im nicht-öffentlichen Zwiegespräch zwischen Baerbock und Habeck begann, möglicherweise den ursprünglichen Grundwerten zuwiderläuft. Der gefühlige Gestus der Nähe und die Aussicht auf Macht und Erfolg trüben gleichermaßen das langfristige Denken der Nachhaltigkeitspartei ohne Flügel.
Was passiert, wenn die in diesem Sinne repräsentative Inszenierung unterlaufen wird, zeigte eine weitere Szene der Bundesdelegiertenkonferenz. Zur Vorstandswahl trat der unbekannte Kandidat Mathias Ilka an. Er kritisierte die eigene Partei für ihre ökologische und soziale Inkonsequenz. Außerdem, meinte Ilka an „Robert“ gerichtet, kenne er „viele Menschen, die … keine Wohnung haben, in der ein Küchentisch stattfindet“. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth reagierte auf die Rede mit einem doppelten ‚Scheibenwischer‘, rief dazwischen und echauffierte sich bei den Kolleginnen in der ersten Reihe über das renitente Mitglied. Nach der Rede beruhigte sie sich mit der reichlich ausliegenden Schokolade eines Herstellers, der immer noch gute Geschäfte in Russland macht. Während der Befragung Ilkas durch Delegierte wurde dann in der ersten Reihe laut gelacht, gerade von Roth, die dabei auch nach vorne zeigte. Beim Kameraumschnitt auf den Redner sagte dieser gerade: „Für mich sind alle Menschen gleichwertig, was anderes kann ich nicht sagen.“
Die refeudale Inszenierung mag kurzfristig Wirkung zeigen, untergräbt aber langfristig den Gleichheits- und Demokratieanspruch, da die politische Integration oberflächlich und an verzerrte Projektionsflächen gekoppelt bleibt. Insofern ist das Setzen auf repräsentative Öffentlichkeit eine ungeeignete Antwort auf die reaktionär-antidemokratischen Herausforderungen im inneren und äußeren liberaler Demokratien. Im Wahlkampf 2013 zeigte die CDU in Berlin ein überdimensioniertes Plakat mit Merkels typischen Raute-Händen. Sie gewann, aber ebenso begann der Aufstieg der rechtsextremen AfD. Anfang Januar 2024 leuchteten Bündnis 90/Die Grünen das Siegestor in München mit einer großen Habeck-Projektion an, die später von der Polizei gestoppt wurde. Wer den entsprechenden Bericht dazu auf Spiegel-Online las bekam gleichzeitig eine Eilmeldung eingeblendet: „Abkehr von Moderation und Faktenchecks: Mark Zuckerberg kündigt Richtungswechsel bei Facebook und Instagram an“.
Ende Januar zeigte dann Friedrich Merz, wohin personalisierte Gefolgschaftsmodelle noch führen können. Er ahmte die dezisionistische Entschlossenheit Donald Trumps nach, brach mit alten Versprechungen, berief sich auf den empirischen Volkswillen und ermöglichte Mehrheiten mit der rechtsextremen AfD. Die plebiszitäre Führerdemokratie ist die autoritärere Version der Identitätsfiktion – also gewissermaßen verwandt mit Raute, Küchentisch und infantiler Inszenierung.