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Die europäische Wirtschaft ohne Russland

Marcin Piasecki: Polen und Deutschland sind füreinander wichtige Wirtschaftspartner. Gegenwärtig kämpft die deutsche Wirtschaft mit einer anhaltenden Rezession, während Polen sich zwar weiterentwickelt, aber sehr viel langsamer als noch vor wenigen Jahren. Wie können beide Länder zu einer dynamischen Entwicklung zurückgelangen? Gibt es Bereiche, in denen sie vielleicht so viele Gemeinsamkeiten besitzen, dass die Koordination von Maßnahmen erforderlich wäre? Wie steht es aktuell überhaupt mit den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Polen und Deutschland?

Sebastian Płóciennik: Die Wirtschaftskrise in Deutschland ist besorgniserregend. Und da es um die größte Wirtschaft der Europäischen Union geht, breitet sich die Krise über den gesamten Kontinent aus. Natürlich ist auch Polen mit Rücksicht auf seine engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland davon nicht frei, was an den Wachstumsdaten abzulesen ist. Niemand kann darüber wirklich erfreut sein. Wenn ich mich dagegen einmal an eine Diagnose wagen darf: Handelte es sich allein um eine Konjunkturkrise, wäre es halb so schlimm. Aber es geht hier um mehr. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang gern von einer „Polykrise“. Dieser Begriff bedeutet in etwa so viel, dass in einem kurzen Zeitraum zahlreiche Probleme in Erscheinung treten und einander überlagern, auf die es keine einfache Antwort gibt. Die Problemlage lässt sich im Kern erklären, indem wir als Beispiel die Krise in Deutschland vor zwanzig Jahren heranziehen, als die Wirtschaft von sehr hoher Arbeitslosigkeit belastet war. Damals konnte sich Gerhard Schröder ganz diesem Problem widmen und eine tiefgreifende Reform des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats durchführen, womit er die Dynamik der deutschen Wirtschaft für die nächsten Jahre stimulierte. Das reichte aus. Jetzt sind die Probleme viel zahlreicher. Wir habe es mit langwierigen Pandemiefolgen zu tun, mit einer Energiekrise, mit der Demographie, dem Krieg in der Ukraine, mit Protektionismus. Europa hat sich außerdem einer ungeheuren Herausforderung seitens Chinas und den USA zu stellen, die ihre Wirtschaften subventionieren, was dazu führt, dass unsere Hersteller ihre Konkurrenzfähigkeit einbüßen. Gegenwärtig ist Europa auf der Suche nach Antworten darauf. Eine heftige Kontroversen provozierende Antwort ist, chinesische Elektrofahrzeuge mit Zöllen zu belegen. Die Deutschen sind dagegen, weil Zölle ihrem Interesse entgegenstehen, zu exportieren und in China Geschäfte zu machen. Unser Standpunkt ist ein anderer. Das allein zeigt schon, wie schwierig es sein wird, eine gemeinsame Antwort auf diese Herausforderungen zu finden.

Marcin Piasecki: Wie ist Ihre Diagnose, Frau Urbaniec? Was ist los mit den deutsch-polnischen Beziehungen? Eine schwächelnde deutsche Wirtschaft auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine polnische Wirtschaft, deren Wachstum zu wünschen übrig lässt.

Maria Urbaniec: Ich stimme dieser Diagnose zu. Wir befinden uns tatsächlich in der Lage, dass beide Wirtschaften mit Problemen zu kämpfen haben. Polen und Deutschland sind mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert. Dabei geht es vorrangig um die Wirtschaft, aber die Probleme zeigen auch, dass wir unsere Wechselbeziehungen eingehender analysieren müssen, um nach konkreten Lösungen zu suchen. Es kommt darauf an, langfristige Lösungen zu finden, denn die Zeiten sind solche, in denen Wahlzyklen alles beherrschen und daher darüber hinausgehende, langfristige Lösungen gar nicht erst erwogen werden. Strategisches Denken wird gebraucht, und uns ist klar, die aktuelle Situation eines geopolitischen Konflikts bringt es dazu, dass sich die Probleme noch zusätzlich verschärfen. Deutschland war bislang der Motor der europäischen Wirtschaft, muss sich aber heute unter völlig veränderten Bedingungen der Konkurrenz stellen, weil die Energiekosten hoch sind, aufgrund der Entwicklung des Klimas. Auch beim Export ist ein Rückgang der Konkurrenzfähigkeit zu beobachten, wobei die deutsche Wirtschaft schließlich in hohem Maße vom Export abhängt. Damit verliert wie sie ihren Vorrang auf den Weltmärkten. Es gibt andere Regionen, die innovativer und handlungsfähiger sind, eben die bereits genannten Länder wie China und die Vereinigten Staaten. Das alles führt dazu, dass sich immer mehr Probleme anhäufen. Das bleibt selbstverständlich nicht ohne Folgen für die Konkurrenzfähigkeit Polens und Deutschlands.

Leo Mausbach: Ich beobachte ebenfalls eine sehr komplexe Krise beiderseits der Oder. Polen und Deutschland befinden sich wirtschaftlich an verschiedenen Orten. Was sind ihre Gemeinsamkeiten? Sie sind an einem Augenblick angelangt, in dem bisherige Entwicklungsmodelle an ihre Grenzen stoßen, was für Polen und Deutschland gleichermaßen gilt. Wenn wir uns Deutschland anschauen, gibt es ein Problem mit dem Export, mit der Konkurrenzfähigkeit, mit modernen Technologien, und die sehr starke Autobranche trifft auf eine viel größere weltweite Konkurrenz. China ist nicht mehr nur ein Billigproduktionsland. Dazu kommen noch einige weitere Faktoren. Deutschland muss sich neu erfinden, wenn es seinen Wohlstand auch in Zukunft erhalten will. Ähnlich Polen. Hier wuchs die Wirtschaft lange Zeit aufgrund der niedrigen Arbeitskosten. Doch die Einkommen steigen rasch, ebenso die Kosten der bei der Produktion eingesetzten Energie. Das heißt, dass auch das auf Outsourcing und niedrigeren Herstellungskosten fußende polnische Wirtschaftsmodell an seine Grenzen stößt. Die polnische Wirtschaft muss sich ebenfalls aufs Neue erfinden. Polnische Firmen sollten für ihre Weiterentwicklung eine neue Richtung einschlagen.

Marcin Piasecki: Die deutsch-polnische Wirtschaftszusammenarbeit hat sich in den vergangenen 35 Jahren intensiv entwickelt. Das war wirklich eine Zusammenarbeit in grundsätzlichen Dingen. Nach dem Fall des Kommunismus verfügte Polen über vergleichsweise billige Arbeitskräfte. Die Löhne und Gehälter in Polen steigen sehr stark an, aber es zeigen sich noch andere Hindernisse, wie etwa die steigenden Energiepreise. Die polnische Energieproduktion beruht immer noch auf der Steinkohle, weshalb ihr CO2-Fußabdruck zu hoch ist. Das ändert sich zwar, doch womöglich ändert es sich zu langsam. Andererseits hat Deutschland mit Herausforderungen auf den Weltmärkten zu kämpfen und tritt stark auf die Bremse. Für Deutschland ist Polen in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Handelspartner, es befindet sich ganz oben auf der Liste. Eine neue Richtung muss eingeschlagen werden – doch wohin sollte die führen?

Maria Urbaniec: Klar ist Deutschland Polens wichtigster Partner, und Polen ist für Deutschland ein ganz wichtiger Exportmarkt. Selbst die Daten dieses Jahres [2024] zeigen, dass der deutsche Anteil am polnischen Export auf etwa 28 Prozent geschätzt wird, das heißt, praktisch ein Drittel aller polnischen Exportgüter landen in Deutschland. Infolgedessen sind die beiden Märkte wirklich sehr stark voneinander abhängig. Beide Wirtschaften sind eng integriert. Aber wir sollten nicht vergessen, dass das von verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst wird. Eines der zentralen Probleme ist die sich aus der Handelspolitik der Europäischen Union oder aus neuen Regulierungen zum [regionalen] Entwicklungsausgleich ergebende Ungewissheit. Ein weiterer Faktor ist die Entwicklung der Weltwirtschaft, denn in Deutschland gibt es einen konjunkturellen Rückgang. Das spiegelt nicht nur direkt wider, was in Polen passiert, sondern auch auf den internationalen Märkten. Was Vorschläge für Maßnahmen angeht, wissen wir natürlich, dass bei so stark miteinander verbundenen Wirtschaften wie der polnischen und der deutschen Probleme des einen Partners sich bekanntlich auch beim anderen bemerkbar machen. Es ist von zentraler Bedeutung für Polen, seine engen Handelsbeziehungen zu Deutschland aufrechtzuerhalten. Das ist eigentlich ein sehr wichtiges Gebiet, aber wir sollten weiter Anstrengungen unternehmen, um diese wirtschaftliche Zusammenarbeit im Hinblick auf Digitalisierung und Innovation fortzusetzen, denn dann können wir gewisse Rahmenbedingungen von Grund auf neu gestalten oder ausarbeiten, welche die Entwicklung beschleunigen oder neue Entwicklungsperspektiven eröffnen. Es ist keineswegs so, dass Deutschland nur von Polen abhängig ist. Wir haben natürlich sehr gute Wirtschaftsbeziehungen, aber Polen hat auch Konkurrenz in Europa. Polen muss sich entwickeln, um seinen Platz in Europa nicht zu verspielen und seine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland fortsetzen zu können.

Sebastian Płóciennik: Ich knüpfe vielleicht daran an, was Herr Mausbach gesagt hat. Denn er sprach davon, dass beide Wirtschaften vor je unterschiedlichen Schwierigkeiten stehen. Für Polen heißt das, sich von dem Entwicklungsmodell niedriger Kosten zu verabschieden. Polen muss einen Weg zu zukunftsträchtigeren Innovationen finden. Hierbei eröffnet sich ein Feld zur Kooperation mit Deutschland, doch meiner Meinung nach sollten wir das nicht gesondert und als rein bilaterales Thema betrachten. Vielmehr geht es um eine breitere europäische Zusammenarbeit. Deutschland hat dagegen das Problem, vom Weltmarkt abhängig zu sein. Die geopolitischen Anspannungen zwingen es wahrscheinlich dazu, seine großen Unternehmen umzustrukturieren, vielleicht sogar auf eine chinesische, eine europäische und eine amerikanische Plattform aufzuteilen, was am Beispiel Volkswagen und anderer großer Unternehmen schon zu sehen ist. Das wird bewirken, dass einige Investitionen wieder in Europa und unter anderem in Polen werden getätigt werden können. Es werden sich auch die Handelsflüsse verändern. In der ersten Jahreshälfte 2024 überholte Polen bei der Abnahme deutscher Exportgüter China. Diese Daten sind im Augenblick noch schwierig zu interpretieren, aber jedenfalls sind sie sehr interessant. Vielleicht hängen sie damit zusammen, dass China etwas schwächelt, aber es könnte sich auch andeuten, dass in mittlerer Sicht der Handel mit China aufgrund der globalen Bedingungen zurückgehen wird. Wenn wir darüber nachdenken, welche gemeinsamen Initiativen Polen und Deutschland in der Wirtschaftspolitik ergreifen könnten, will mir scheinen, dass mit Vorrang der gemeinsame europäische Markt zu korrigieren wäre, auf dem immer noch viele Handelshindernisse bestehen. Insbesondere wäre darauf zu achten, dass die Wirtschaft nicht von der Bürokratie gehemmt würde.

In Polen wird die Diskussion hierzu nicht so intensiv geführt, doch in Deutschland steht sie wegen der aktuellen Stagnation ganz im Mittelpunkt. Auf europäischer Ebene eröffnet sich Polen und Deutschland ein Feld für gemeinsame Initiativen, um den Verbund der Kapitalmärkte zu vollenden oder eigentlich überhaupt erst aufzubauen, da dieses Projekt noch in den Kinderschuhen steckt. Es gibt bereits einen Bankenzusammenschluss, was ein guter Ausgangspunkt ist. Es ist schade, dass Polen nicht dazugehört, weil das meines Erachtens für die Konkurrenzfähigkeit des polnischen Kapitalmarkts nicht günstig ist. Dieser neue Bereich von Integration wäre für die Unternehmen wichtig, weil er ihnen die Kapitalbeschaffung für Innovationen erleichtern könnte. An die Stelle von mehr als zwanzig nationalen Parzellen, die relativ hohe Kosten und geringe Effizienz verursachen, träte ein einziger großer europäischer Markt, auf dem sich Kapital preiswerter beschaffen ließe. Überdies eröffnet sich noch ein weiteres Gebiet für eine gemeinsame Politik, wenn auch ein ziemlich kontroverses, nämlich die Bildung eines europäischen Fonds für Innovation oder Investitionsförderung. Aber auf diesem Gebiet springen die Meinungsverschiedenheiten ins Auge, da die Deutschen sehr auf den eigenen Haushaltsregeln in Gestalt der berühmten „Schuldenbremse“ beharren und keine gemeinsame Verschuldung auf europäischer Ebene wünschen. Sie werden sich nur schwer davon überzeugen lassen, den Mechanismus für den Pandemiefonds nochmals zu installieren und auf diese Weise das Investitionsniveau in der europäischen Wirtschaft zu erhöhen.

Leo Mausbach: Was die deutsch-polnischen Geschäftsbeziehungen angeht, haben wir gehört, sie seien sehr gut, obwohl ein gewisse Asymmetrie besteht, die sich jedoch erheblich verringert hat. Polen ist für Deutschland sehr viel wichtiger geworden. Ich habe den Eindruck, in Deutschland ist das außerhalb von Fachkreisen noch gar nicht richtig angekommen. Ich denke, was neue Möglichkeiten, neue Entwicklungsideen betrifft, so müssen polnische Firmen in eigene Marken investieren, in die Erkennbarkeit von Produkten made in Poland. Das ist wichtig für Polens Rolle, um in Deutschland stärker wahrgenommen zu werden. Viele uns umgebende Dinge wurden tatsächlich in Polen hergestellt.

Marcin Piasecki: Lassen Sie uns über die ungeheuren Herausforderungen sprechen, denen sich nicht nur die polnische und deutsche Wirtschaft, sondern die gesamte Europäische Union zu stellen hat. Da ist die Frage der schon erwähnten Umstellung der Energiewirtschaft. Da ist außerdem die Frage all der anderen Maßnahmen, die unter die Sammelbezeichnung Green Deal fallen. Können die polnischen und die deutschen Interessen auch im Falle des Green Deal zusammenkommen? Denn bei der Energiewirtschaft laufen sie offenbar auseinander…

Sebastian Płóciennik: Wir agieren im Rahmen der EU-Regeln und Bestimmungen, wann die Emissionen auf welches Niveau zu begrenzen sind. Die Auseinandersetzungen drehen sich darum, wie das zu erreichen ist. Der gravierendste Unterschied zwischen Polen und Deutschland besteht im Umgang mit der Kernkraft. In Polen herrscht die Überzeugung, man müsse in diese Energieform investieren und sich an Frankreich orientieren, das im Verhältnis zur produzierten Energie einen viel geringeren CO2-Ausstoß hat als Deutschland. Also Frankreich liefert auf diesem Gebiet das Vorbild. Eigentlich gibt es zwei Chancen. Erstens könnte sich nach den bevorstehenden Wahlen in Deutschland die Einstellung zur Kernkraft verändern. Zweitens geht es um die technologische Revolution. Nuklearkraftwerke der jüngsten Generation produzieren vielfach weniger Abfälle, die überdies im Lauf von dreißig Jahren zerfallen und nicht von 250 Jahren wie bisher. Sie bieten auch ein viel höheres Niveau an Sicherheit. Noch ein Argument: diese Nuklearkraftwerke können klein sein und in der Nähe von kleineren Ansiedlungen gebaut werden, selbst inmitten von Gewerbegebieten. Damit eröffnet sich ein ganz neues Gesprächsfeld. Nach meiner Einschätzung könnte sich in ein-zwei Jahren die Dynamik der deutsch-polnischen Diskussion über die Energiepolitik verändern. Vorerst achten wir natürlich hauptsächlich auf das gemeinsame Interesse der Energiesicherheit, weil der plötzliche Abbruch der Energielieferungen aus Russland uns vor die Notwendigkeit gestellt hat, weltweit nach neuen Bezugsquellen zu suchen. Mir will scheinen, es wäre wert zu überlegen, wie die Verhandlungsmacht des gesamten europäischen Marktes oder bestimmter Gruppen von Mitgliedsstaaten entschlossener eingesetzt werden könnte. Dann ließen sich bessere Preise und Lieferbedingungen aushandeln. Ich fürchte jedoch, dass zwar diese oder jene Initiative wie auch immer erfolgreich sein könnte, aber wir müssen immer noch bedenken, dass in der europäischen Wirtschaft, Polen und Deutschland nicht ausgenommen, die Preise auf lange Sicht immer noch höher als in den USA und China sein werden, also bei unseren wichtigsten Konkurrenten.

Marcin Piasecki: Sind Green Deal und Energiepolitik Fragen, die einen Keil zwischen Polen und Deutschland treiben, oder könnten sie beide Länder auch zusammenbringen?

Maria Urbaniec: Ich bin Optimistin und entscheide mich eher dafür, dass sich größere Chancen und mehr Vor‑ als Nachteile aus der Zusammenarbeit beider Länder ergeben werden. Man muss sich vor allem ins Bewusstsein heben, dass zwischen beiden Ländern selbstverständlich Unterschiede bestehen, und zwar beträchtliche. Polen hängt immer noch stark von der Kohle ab. Das bringt uns in eine schwierige Lage im Hinblick auf die Emissionsreduzierung. Die Energieversorgung in Polen muss unbedingt modernisiert werden. Für Polen ist das eine Herausforderung, aber meines Erachtens kann bei der reichen Erfahrung Deutschlands mit der energiewirtschaftlichen Transformation ein Bereich der Zusammenarbeit gefunden werden. Was Polen angeht, sind sehr hohe Investitionen in erneuerbare Energien erforderlich, die neue Arbeitsplätze schaffen und die Innovativität und Konkurrenzfähigkeit der polnischen Wirtschaft stärken können. Deutschland kann seinerseits eine wichtige Rolle spielen, denn es ist bei der Energietransformation führend. Seit vielen Jahren betreibt es die Politik der Energiewende, welche die erneuerbaren Energien stark fördert. Meiner Auffassung nach können diese Herausforderungen bestanden werden, indem man diese Erfahrungen miteinander verbindet, Herausforderungen, die sich vielleicht oder tatsächlich schon stellen im Hinblick auf die hohen Energiekosten und die Gewährleistung einer stabilen Versorgung. Beide Länder können und sollten zusammen an Lösungen im Rahmen des Green Deal arbeiten. Der Green Deal soll zur Emissionsneutralität der ganzen Europäischen Union beitragen, aber trotz Unterschieden der Meinungen und Erfahrungen kann der Green Deal auf lange Sicht Innovativität und Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaften erhöhen. Es wird sicher eine bessere Kommunikation gebraucht, um die verschiedenen Strategien auf den Weg zu bringen und die Gesellschaften zur Akzeptanz der Veränderungen zu bewegen, denn die meisten Polen assoziieren die Transformation immer noch mit Kosten und Belastungen. Ich nehme aber doch an, man könnte diese Fragen ganz anders präsentieren, indem man die Vorteile und die neuen Entwicklungsperspektiven aufzeigt. Beispielsweise, dass eine Modernisierung des Energieversorgungsnetzes in Polen notwendig ist, oder dass neue Technologien mit niedriger Emission gebraucht werden, ist allgemein bekannt. Polen kann auf sich gestellt diese Transformation nicht bewältigen. Es muss mit anderen Ländern kooperieren. Die Zusammenarbeit mit Deutschland kann gewiss zur Erhöhung des Entwicklungspotentials der erneuerbaren Energien in Polen beitragen, denn das ist ein heftig diskutierter und weithin entwickelter Bereich. Wir haben in Polen verschiedene Quellen der erneuerbaren Energien, unter anderem wird die Windenergie ausgebaut. Polen hat ein großes Potential für die Nutzung der Windenergie auf dem Meer. Deutschland und Polen können beide Nutzen aus der Zusammenarbeit ziehen. Das ist eine Technologie, an der Polen und Deutsche arbeiten und natürlich auch andere Länder, aber diese Technologie kann zentral für die energetische Transformation werden. Gemeinsame Forschungsprojekte zur Wasserstoffinfrastruktur können beiden Ländern nutzen und die Versorgungssicherheit fördern. Um das zu ermöglichen, muss Unterstützung aus der Politik kommen und die Kooperation zwischen Firmen, Forschungseinrichtungen und öffentlicher Verwaltung verstärkt werden.

Marcin Piasecki: Lassen Sie uns zum Hauptthema zurückkehren, nämlich der europäischen Wirtschaft ohne Russland als Chance zur wirtschaftlichen Beschleunigung für Polen und Deutschland. Wie wird das eigentlich von deutschen Firmen aufgefasst? Verhält es sich wirklich so, dass diese Einschränkung, Reduzierung der Wirtschaftstätigkeit in Russland auf fast Null ein Chance für die deutsch-polnische Wirtschaftszusammenarbeit bieten kann?

Leo Mausbach: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat zu steigenden Energiepreisen geführt. Natürlich bekommt die Industrie das zu spüren, doch meiner Meinung nach, wenn wir schon über Chancen sprechen, ergibt sich eine solche, wenn wir beim Wiederaufbau der Ukraine zusammenarbeiten. Der Gesichtspunkt wirtschaftlicher Chancen ist dabei natürlich nicht der wichtigste Aspekt. Der Wiederaufbau soll es den Ukrainern ermöglichen, in ihre Häuser zurückzukehren und wieder in ihren Städten zu leben. Aber Polen wird bei seiner Nähe zur Ukraine selbstverständlich einen wichtigen Knotenpunkt bei der Unterstützung dieser ganzen Unternehmung bilden. In Warschau finden regelmäßig Konferenzen und Messen unter dem Motto „Rebuild Ukraine“ statt. Weil Russland gezielt die Energieinfrastruktur in der Ukraine angreift, ist deren Wiederherstellung natürlich besonders dringend. Insbesondere da den Ukrainern der Winter bevorsteht und sie unter schwierigen Bedingungen werden leben müssen, für die Russland verantwortlich ist.

Wirtschaftliche Schwierigkeiten wie etwa steigende Energiepreise sorgen dafür, dass die deutschen und polnischen Rücksichten auf die allgemeine Regulierung zum Klimaschutz vielleicht zeitlich etwas zurücktreten sollten. Wir müssen uns natürlich für den Klimaschutz einsetzen, aber wir dürfen nicht vergessen, in welcher Lage sich die europäische Wirtschaft befindet. Mit Blick auf die Unterschiede der Energiepolitik in Polen und Deutschland und in den öffentlichen Debatten dazu wird klar, dass es sich um ein sehr schwieriges Thema für die bilaterale Zusammenarbeit handelt. Bei weniger strittigen Themen gibt es eine umfassende Zusammenarbeit, beispielsweise bei den erwähnten Windturbinen. In Europa bestehe sehr unterschiedliche Systeme der Energieproduktion, doch sind sie miteinander verbunden, daher müssen wir kooperieren. Es gibt konkurrierende Ideen, wie Klimaneutralität zu erreichen sei. Letztlich werden sich die besten Lösungen durchsetzen, und gegenwärtig wissen wir noch nicht, welche das sein werden – ob es sich dabei um Wasserstoffwirtschaft handeln wird oder um neue Technologien wie die erwähnten kleinen Reaktoren. Das sind Technologien, die bisher noch nicht in großem Maßstab verwendet werden.

Marcin Piasecki: Deutschland führt einen Wettlauf gegen die Zeit. Und der ist dramatischer als in Polen. Einerseits wissen wir, dass die Energieproduktion auf saubere, emissionsfreie Quellen umgestellt werden muss, andererseits befinden sich die Konzeptionen dazu noch in der Entwicklungsphase. Ich würde gern auf die Fragen zurückkehren, welche die Ukraine und Russland betreffen. Wie könnten die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands mit Russland nach dem Ende des Ukrainekriegs und der möglichen Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland aussehen? Muss Russland als Markt endgültig abgeschrieben werden? Und was ist mit der Ukraine?

Sebastian Płóciennik: Vielleicht beginnen wir mit der Ukrainefrage. Ich bekenne, ein Problem mit der Diskussion über den Wiederaufbau der Ukraine zu haben. Momentan befassen sich viele Foren mit diesem Thema, und manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Diskussion uns etwas träge macht. Wir sprechen über eine Zukunft, die noch nicht eingetreten ist. Denn ich verstehe unter Wiederaufbau die Stärkung und Rekonstruktion der ukrainischen Wirtschaft nach dem Krieg. Wir sollten uns in erster Linie darauf konzentrieren, die Produktionskapazitäten der ukrainischen Wirtschaft während des Kriegs aufrechtzuerhalten, und alles dafür tun, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Das heißt nicht unbedingt, sich augenblicklich nur mit Militärfragen zu befassen. Ich möchte ansprechen, dass der Ukraine in den nächsten Monaten wahrscheinlich eine Krise der Energieversorgung bevorsteht, weil ihre Energieinfrastruktur zu achtzig Prozent vernichtet worden ist. Ich überlege, welche Instrumente Polen und Deutschland besitzen, um die Ukraine in den nächsten Monaten zu unterstützen. Andernfalls müssen wir mit weiteren Millionen von Flüchtlingen rechnen. Wenn wir dagegen vom Wiederaufbau nach Kriegsende reden, wird das kaum so aussehen, wir öffnen die Märkte, und schon stehen die Unternehmen und Kapitalgeber Schlange und alles geht automatisch vonstatten. Es werden auch solche Dilemmata auftreten, die gemeinsame Lösungen der polnischen und deutschen Regierung verlangen. Ich nenne ein Beispiel: Die Migranten oder Flüchtlinge aus der Ukraine, die momentan bei uns arbeiten, tragen zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts bei, zur Abschwächung der demographischen Krise, und allgemein nützen sie unserer Wirtschaft. Stellen wir uns die Frage, ob sie nach Kriegsende in die Ukraine zurückkehren sollten, um überhaupt den Wiederaufbau möglich zu machen? Sollten wir nicht darüber hinaus sogar einen Finanzmechanismus schaffen, nennen wir ihn vorläufig einmal „Return Fund“, um die Ukrainer zur Rückkehr zu motivieren? Es ist zu fragen, wer denn das Land wieder aufbauen wird, und nicht alles auf Geldfragen zu reduzieren. Wir sollten uns sehr ernsthaft darüber unterhalten, denn die Alternative wäre, dass sich nach einer Phase der Euphorie nach Kriegsende das Tempo des Wiederaufbaus verlangsamen und Frustration in der Gesellschaft und politische Instabilität in der Ukraine eintreten werden.

Was die deutsch-russischen Beziehungen angeht, kann ich mir nur schwer vorstellen, diese könnten nach Kriegsende und selbst nach der Aushandlung irgendwelcher Sanktionsrücknahmen rasch zu ihrer früheren Intensität zurückkehren, weil sie keine strategische Komponente mehr besitzen. Bis dahin werden die Rohstoffe für die deutsche Wirtschaft nicht mehr so wichtig sein. Außerdem ist den deutschen Investoren bewusst, welches Risiko Sanktionen und Eigentumskonfiszierung durch Putins Regime darstellen. Kurz gesagt, jede Investition wird als riskanter eingeschätzt werden als in anderen Weltregionen. Und noch ein Faktor. In Russland warten sie keineswegs nur darauf, ihre Beziehungen zu Europa wiederherzustellen. Andere werden an ihre Stelle treten und tun das bereits. Nunmehr hat Russland sehr starke Verbindungen zu China. Einige meinen sogar, es sei für China ein vasallitärer Markt, auf dem ein wenig andere Spielregeln gelten und andere Akteure dominieren werden. Mir will scheinen, dass es den deutschen Konzernen schwerfallen wird, auf den russischen Markt zurückzukehren. Es stehen wenigstens zwei Jahrzehnte allenfalls oberflächlicher Beziehungen bevor.

Maria Urbaniec: Wenn ich mir den Titel unserer Debatte heute anschaue, also „Die europäische Wirtschaft ohne Russland“, kann ich mir nur schwer vorstellen, Russland liege überhaupt in Europa. Wir können uns der Realität nicht entziehen, dass Russland unser Nachbar ist. Natürlich ist eine Zusammenarbeit für den Augenblick nicht möglich, aber niemand kann vorhersehen, wie lange das noch dauern wird. Was jedoch die Ukraine betrifft, kann ich damit prahlen, dass wir in Krakau seit zwei Jahren Seminare zur sozialen Marktwirtschaft veranstalten. Wir organisieren diese Seminare gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, wofür ich sehr dankbar bin. In den Seminaren haben wir Gelegenheit, über verschiedene Themen zu diskutieren, auch über den Wiederaufbau der Ukraine. Seit zwei Jahren diskutieren wir darüber auch bereits mit unseren Partnern aus der Ukraine. Es handelt sich also um eine trilaterale Debatte zwischen Fachleuten aus Deutschland, Polen und der Ukraine. Die Ukraine ist mit vielen Problemen konfrontiert. Bekanntlich ist ihre Demographie eines der größten Probleme. Es wird nicht leicht sein, die ins Ausland ausgereisten Ukrainer zur Rückkehr zu bewegen.

Unternehmen aus Deutschland und Polen haben die Chance, sich stark in den Wiederaufbau der Ukraine einzubringen. Es kann gar nicht genug betont werden, welche ungeheuren Investitionen der Wiederaufbau von Infrastruktur, Verkehr und Energieversorgung erforderlich machen wird. Polen und Deutschland sind nicht die einzigen Länder, die am Wiederaufbau der Ukraine interessiert sind. Da gibt es viel mehr Länder, aber als die nächsten Nachbarn, die in einigen Bereichen schon gut entwickelte Wirtschaftsbeziehungen mit der Ukraine haben, haben wir die Chance, das besser zu bewältigen. Polen unterstützt die Ukraine ausgesprochen umfassend mit humanitärer und logistischer Hilfe. Wir können darüber hinaus der Ukraine im Bausektor helfen, schließlich wissen wir, wie viel Zerstörung es dort gibt. Das wird eine große Herausforderung sein. Deutschland hat auch eine sehr starke Industrie und fortschrittliche Technologien. Das erlaubt es, diese Zusammenarbeit ganz anders voranzubringen und die Modernisierung der ukrainischen Infrastruktur zu beschleunigen. Natürlich sprechen wir hier von der Zukunft. Wir wissen nicht, wie lang der Krieg noch dauern wird, aber wir müssen schon Pläne für den Wiederaufbau machen. Es sind viele Expertengremien tätig, viele Leute, die nach geeigneten Lösungen suchen. Aus meiner Sicht als Wissenschaftlerin ist die Zusammenarbeit auf einer persönlichen und wissenschaftlichen Ebene wichtig, ich sehe ein sehr großes Interesse an einer solchen Zusammenarbeit, das sogar größer ist als früher. Was die Zusammenarbeit der ukrainischen Partner betrifft, so gibt es viele Bereiche, in denen diese Zusammenarbeit weiterentwickelt werden könnte. Gewiss wird es wichtig sein, Finanzmittel von der Europäischen Union und von verschiedenen internationalen Institutionen für den Wiederaufbau der Ukraine zu sichern. Polen und Deutschland werden eine wesentliche Rolle dabei spielen, gemeinsam für eine internationale finanzielle Unterstützung zu lobbyieren, weil keines der beiden Länder allein die von der Ukraine erlittenen Verluste ausgleichen kann. Ein Beispiel für eine Hilfsinstrument sind öffentlich-private Partnerschaften im Rahmen verschiedener innovativer Infrastrukturprojekte, die eine zentrale Rolle spielen können. Denn es ist klar, dass das eine ungeheure Herausforderung für die Gesamtregion der Europäischen Union ist. Daher ist es bei dieser Frage von zentraler Wichtigkeit, politische Unterstützung und finanzielle Gewährleistung sicherzustellen. Um konkrete Hilfsinstrumente zu finden, muss aber erst der Krieg beendet werden.

Marcin Piasecki: Ist in den Unternehmen eigentlich schon irgendein Anzeichen für eine deutsch-polnische Zusammenarbeit beim Wiederaufbau der Ukraine in Zukunft zu erkennen? Oder ist es noch zu früh dazu?

Leo Mausbach: Wie ich schon sagte, finden Konferenzen zum Wiederaufbau der Ukraine statt. Was die Zusammenarbeit von Unternehmen angeht, denke ich, dazu ist es sicher noch zu früh. Obwohl natürlich in den Investitionsplänen oder in den Plänen zur Ansiedlung deutscher Firmen in Polen im Hinterkopf immer der Gedanke steht, dass der neue Betrieb nicht nur für den polnischen Markt produzieren wird, sondern auch für den ukrainischen. Aber gegenwärtig ist oft zu hören, dass aufgrund der bereits erwähnten Krise schwer vorherzusagen ist, wie sich die Lage weiter entwickeln wird. Die Unternehmen halten sich daher zurück, weil sie keine ganz sicheren Aussichten dazu haben, um neue Investitionen und Tätigkeitsfelder zu planen. Viele Unternehmen bremsen gerade ab oder schränken ihren Tätigkeitsbereich ein, das ist jetzt das überwiegende Problem. Die deutschen Unternehmen stehen vor der Frage, wie sie diese schwierige Zeit überstehen sollen.

Marcin Piasecki: Lassen Sie uns noch ein Wort über die Polykrise verlieren. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei China und sein politischen, ökonomischen und Geschäftsbeziehungen mit dem Westen. Auf allen diesen Gebieten wird die Lage immer verwickelter. Wir werden natürlich den Fokus auf Ökonomie und Wirtschaft setzen. Ich gebe zu, dass ich mich in den letzten Tagen gerade mit diesem Thema besonders intensiv befasst habe und dabei auf drei Positionen von Ökonomen und Fachleuten der internationalen Wirtschaft gestoßen bin. Die erste ist – „lassen wir es so, wie es ist“, wir sollten also seitens des Westens kein Beschränkungen für die chinesische Wirtschaft einführen. In klassischer Formulierung – „irgendwie wird es schon funktionieren“, weil Beschränkungen für den chinesischen Export in die Europäische Union aus verschiedenen Gründen für Europa schlecht ausgehen. Die zweite Option ist das radikale Gegenteil, das heißt, lasst uns chinesischem Handel und Expansion die härtesten Einschränkungen auferlegen. China betreibe eine unverantwortliche Politik, auch Wirtschaftspolitik, und das müsse unbedingt gestoppt werden. Die dritte Haltung ist eine Mittelposition, nämlich: der Westen befinde sich tatsächlich in einem Clinch und Konkurrenzverhältnis zu China, und es müssten Maßnahmen getroffen werden, um die Wirtschaftskooperation mit China zu begrenzen, aber nicht in grundsätzlicher Weise zu beeinträchtigen. Und hier grüßt die berühmte Frage der E-Autos. Nehmen wir einmal an, es gäbe solche Beschränkungen, die den europäischen Herstellern erlauben, den Rückstand zumindest teilweise wettzumachen. Ist ein solches Szenario wahrscheinlich? Welche Folgen sind für die polnische und deutsche Wirtschaft zu erwarten und für die bilaterale Zusammenarbeit?

Sebastian Płóciennik: Lassen Sie uns zwei Fragen unterscheiden. Die erste Frage ist die wirtschaftliche Konkurrenz in verschiedenen Industriebranchen. Es hätte keinen Sinn für die Europäische Union, den Weg in einen Protektionismus zu beschreiten, der den gesamten Handelsaustausch betreffen würde. Besser ist es, sich auf diejenigen Bereiche zu konzentrieren, in denen gegen die Spielregeln verstoßen wurde. Nicht die Europäische Union hat zuerst protektionistische Methoden angewandt, sondern China, indem es seine Exportindustrie subventionierte. Daher sind Maßnahmen zu treffen, um den Konkurrenznachteil auszugleichen. Das richtet sich nicht gegen den freien Markt, sondern stellt eine gewisse Chancengleichheit wieder her oder ähnliche Konkurrenzbedingungen, insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass allein die Autoindustrie in China von der eigenen Regierung sechzig Milliarden Euro an Subventionen bekommen hat. Der zweite Bereich sind die Branchen, die für unsere Sicherheit von kritischer Bedeutung sind. Und hier hat meiner Meinung nach die Diskussion über Freihandel versus Interventionismus geringere Bedeutung. Wenn Huawei oder ZTE in die deutsche Telekommunikationsinfrastruktur eindringen, während diese Konzerne zugleich der chinesischen Regierung nahestehen, drängt sich der Verdacht auf, dass gewisse kritische Daten an die chinesische Regierung weitergeleitet werden. Das gilt übrigens nicht nur für so offenkundige Bereiche wie die 5G-Infrastruktur. Ich las unlängst, dass einer der Immobilienkonzerne in Deutschland, der Mietwohnungen vermietet, seinen Mietern empfiehlt, einen bestimmten Feuermelder in den Wohnungen zu installieren. Die Daten des Melders könnten nach China geleitet werden, weil der Apparat aus chinesischer Produktion stammt und die gesammelten Daten außerhalb der EU übertragen werden. Meines Erachtens sind wir uns dessen gar nicht bewusst, inwieweit bestimmte Branchen von sicherheitspolitischer Bedeutung sein können, insbesondere im Bereich Information. Dazu lassen sich noch Häfen, Straßenbewirtschaftung und so weiter hinzufügen. Das sind keine konstruierten Beispiele, um nur allein die Häfen in Hamburg und Gdynia [Gdingen] zu nennen. Wenn ich also spekulieren soll, in welche Richtung sich unsere Beziehungen mit China entwickeln werden, kommt es mir vor, dass wir vor ein oder zwei Jahrzehnten eines zunehmenden Protektionismus stehen, des Schutzes der eigenen Branchen, wobei die Maßnahmen allerdings selektiv ausfallen. Übrigens sprach Mario Draghi in seinem letzten Bericht davon, wie Europa seine Krise überwinden könne. In den Branchen, in denen Europa niemals konkurrenzfähig sein wird, wie bei der Spielzeugproduktion oder anderen recht einfachen Sachen, wird es keine einschneidenden protektionistischen Maßnahmen geben. Dort, wo hochwertige Arbeitsplätze entstehen, wo es um die Konkurrenzfähigkeit von für Europa zentral wichtigen Branchen und wo es um Sicherheit geht, wird zunehmend Kontrolle ausgeübt werden. Vielleicht werden wir nach einer Zeit des angespannten Verhältnisses zu etwas zurückkehren, was einige Ökonomen Globalisierung light nennen, bei der die Regeln gelockert werden. Aber zu dem Globalisierungsenthusiasmus, der Aufhebung von Handelsschranken und der Schaffung eines einzigen großen, internationalen Marktes werden wir wohl so schnell nicht zurückgelangen.

Marcin Piasecki: Sehen Sie in Ihrer täglichen Arbeit mit deutschen Unternehmen solche Bestrebungen? Welche Strategien verfolgen deutsche Firmen im Kontext der Reindustrialisierung und der Wirtschaftsbeziehungen mit China?

Leo Mausbach: Was China betrifft, denke ich, es wird mehr chinesische Investitionen in Europa geben. Das wird vielleicht ganz interessant, weil vor einigen Wochen ein großer Betrieb in Konin [Großpolen], der Batterien produziert und Batteriezellen für E-Autos, von einem chinesischen Unternehmen gekauft wurde. Dieser Betrieb ist das internationale Unternehmen Johnson Matthey. Es läuft da also ganz etwas Interessantes ab, was wir im Auge behalten sollten. Die Reindustrialisierung bietet einen echten Hoffnungsschimmer, an manchen Orten klappt das, aber in Deutschland wird in der Öffentlichkeit eher von der Deindustrialisierung gesprochen. Gegenwärtig sehen wir in Deutschland, wie viele Firmen ihre Produktion im Inland zurückfahren. Anfang des Jahres war die Entscheidung des Unternehmens Miele in aller Munde, seine Produktion von Deutschland nach Polen in ein bereits bestehendes Werk zu verlagern. Diese Entscheidung war sehr medienwirksam und für die Deutschen ziemlich schockierend, weil Miele ein großer Haushaltsgerätehersteller ist, eine Firma, die gerade mit der hohen Qualität von deutschen Produktionsstandorten assoziiert wird. So wird das wenigstens wahrgenommen. Dass die Produktion nach Polen verlagert wird, nährt nur noch mehr die Angst vor der Deindustrialisierung. Bundestagswahlen stehen bevor, die Deindustrialisierung wird sicher zu den wichtigen Wahlkampfthemen gehören. Es ist schon zu erkennen, wie Politiker mit Ideen aufwarten, wie Unternehmen zu bewegen seien, wieder in Deutschland zu investieren.

Marcin Piasecki: Wie verhalten sich die Europäische Union, die deutsche und die polnische Wirtschaft gegenüber diesen wirtschaftlichen und geopolitischen Herausforderungen, die von China ausgehen?

Maria Urbaniec: Wir befinden uns tatsächlich in der Lage, dass es neuerdings Probleme bei der Zusammenarbeit mit China gibt. Aber wir müssen uns auch im Klaren darüber sein, dass China ein schwieriger, aber wichtiger Partner für die ganze Europäische Union ist, nicht nur für Polen und Deutschland. China hat eine langfristige Strategie, die schwer in Europa zu implementieren ist, weil es in China größere politische Beständigkeit gibt als bei uns in den demokratischen Ländern, in denen es freie Wahlen gibt. Das ist wichtig, weil Chinas Politik auf lange Sicht geplant ist. Natürlich können wir das kritisieren, doch wäre es besser, mit China zu kooperieren. Chinas Macht rührt aus seiner Kooperation mit der ganzen Welt, weil China es schaffte, Investitionen globaler Unternehmen ins Land zu holen. Aufgrund dessen konnten sich die Chinesen sehr schnell aneignen, innovativ zu handeln. In einigen Bereichen sind sie sogar besser als die Vereinigten Staaten oder Deutschland. Allgemein gesagt, gibt es ein großes Potential für die Zusammenarbeit mit China. Ich stimme meinen Vorrednern zu, dass wir im Bereich der kritischen Infrastruktur abgewogener vorgehen und bestimmte Handelsschranken einführen sollten, um es in diesen Bereichen nicht zu einfach für ausländische Unternehmen zu machen, Firmen aufzukaufen und zu investieren. Das ist Protektionismus, aber dieser ist selbst in einer freien Marktwirtschaft bis zu einem gewissen Grade notwendig. China hat sein eigenes Wirtschaftsmodell, das als sozialistische Marktwirtschaft bezeichnet wird und sich durch eine ziemlich expansive Strategie auszeichnet. Infolgedessen hat China nicht nur strategische Interessen in Südostasien, sondern ist auch sehr aktiv auf dem afrikanischen Markt. Die Chinesen können westliche Unternehmen anziehen, können mit verschiedenen Ländern weltweit politische und wirtschaftliche Beziehungen aufbauen, auch wenn das nicht allen gefällt. Ich hoffe, dass sich trotz bestehender Unterschiede die aus der Zusammenarbeit zu gewinnenden Vorteile stärker bemerkbar machen werden und zur einer erfolgreicheren Wirtschafts‑ und Gesellschaftstransformation beitragen, in Europa wie der gesamten Welt.

Marcin Piasecki: Stimmt, die Unternehmen sollten unbedingt nach dem win-win-Prinzip kooperieren. Und vielleicht ist das ein klein wenig optimistisch stimmender Schluss, den wir aus unserer Begegnung mitnehmen können. Ich danke sehr für das interessante Gespräch, bei dem wir wichtige Themen angerissen haben, ich würde sagen Themen, die für die polnische und deutsche Wirtschaft grundlegend sind, aber auch insgesamt für die Europäische Union und gewissermaßen die gesamte Welt.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Dies ist eine redigierte Version der Diskussion, die im Rahmen des Andrzej-Godlewski-Forums Dialog Plus im Oktober 2024 stattfand.


Marcin Piasecki, Redakteur und Publizist bei der „Rzeczpospolita“, geschäftsführender Redakteur der „Rzeczpospolita“.

 

 

 

 

Dr. Maria Urbaniec ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Krakau und Leiterin des Lehrstuhls für Unternehmertum und Innovation an der Wirtschaftsuniversität Krakau.

 

 

 

Dr. Sebastian Płóciennik, Direktor der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Professor für Ökonomie am Institut für Wirtschaft der Akademie für Finanzen und Business Vistula. in Warschau.

 

 

Leo Mausbach, Senior Consultant für Standortberatung bei der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer.

 

Gespräch

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