Es gehört zum Wissen jedes Konversationslexikons, dass die chinesische Kultur vier große Erfindungen zum Fortschritt der Menschheit beigesteuert hat: den Buchdruck, den Kompass, das Papier und das Schießpulver. Allgemein bekannt ist auch, dass die Chinesen die Kunst des Feuerwerks erfunden haben und bis heute darin exzellieren. Die Stadt Liuyang unweit Changsha, der Hauptstadt der Provinz Hunan, ist die Feuerwerkshauptstadt der Welt und der weltweit größte Produzent von Pyrotechnik.
Doch in diesem Jahr wurden die lärmenden und umweltverschmutzenden Böller durch eine andere Darbietung ersetzt, und zwar in Gestalt von Drohnen, die fulminante Spektakel voller Kreativität und Phantasie boten (https://www.facebook.com/GuinnessWorldRecords/videos/10000-drones-controlled-by-a-single-computer-guinness-world-records/840462258295019/). Darunter das berühmteste von allen, nämlich das ist der unablässig wachsenden Stadt Wuxi in der Provinz Jiangsu (https://www.instagram.com/chinafoodandtravel/reel/DFhRGBzPs3R/).
Tanz der Roboter
Ginge es allein um Drohnen und den größten chinesischen Drohnenhersteller Damoda, gäbe es weiter nichts zu vermelden. Doch in das gerade begonnene Jahr der Schlange ging China mit einem unerhörten Paukenschlag und machte endlich die ganze Welt darauf aufmerksam, welche erstaunlichen Entwicklungen in dem Land vor sich gehen und dass Kreativität und Innovativität wie schon über Jahrhunderte wieder hoch im Kurs stehen. Denn der aktuelle Machthaber, eigentlich Alleinherrscher Xi Jinping kündigt an, bis zum Jahr 2035 China in ein Innovationsland verwandeln zu wollen, das auf neuen Erfindungen, Startups und neusten Technologien aufbaut, angefangen mit der künstlichen Intelligenz.
Wie das wohl aussehen mag, konnten wir auf der berühmten Neujahrsgala bestaunen, einem vier oder fünf Stunden langen Konzert und Spektakel, das mit mehr als einer Milliarde Zuschauern als größtes der Welt gilt. Dabei wurde eine mehrminütige Tanzsequenz in der Choreographie des wohl bedeutendsten lebenden chinesischen Filmregisseurs Zhang Yimou gezeigt, aber ausgeführt von Androiden, die sich gemeinsam mit lebenden Tänzerinnen im Rhythmus bewegten und noch dazu mit Taschentüchern wedelten (https://www.youtube.com/watch?v=rXowJVBq35A).
Solche und ähnliche Roboter werden jetzt in China in rauen Mengen produziert. Manche sehen aus wie Menschen, die weitaus meisten aber wie Hunde und andere Kreaturen. Und sie vermögen nicht nur zu tanzen, sondern auch auf Bäume zu klettern, bergauf zu gehen oder Hindernisse zu überwinden, und das selbst bei höchsten Temperaturen von bis zu 800 Grad Celsius, wie häufig behauptet wird, und zwar ohne Rücksicht auf chemische oder biologische Verseuchung nehmen zu müssen. Solche Roboter werden bereits öffentlich zur Begleitung bei Militär und Polizei eingesetzt, und wo sie sonst noch in Erscheinung treten werden, ist schwer zu sagen. Eins ist jedoch klar: Es werden immer mehr davon hergestellt.
Ein neuer Sputnik-Moment
Es ist kein Geheimnis, dass künstliche Intelligenz bei der Produktion und in der Funktion von Robotern eine zentrale Rolle spielt. Und auf diesem Gebiet wurde die Außenwelt bereits vor dem chinesischen Neujahr von einem zweiten und wesentlich heftigeren Schock getroffen. Das bisher völlig unbekannte chinesische Startup-Unternehmen DeepSeek warf das neue KI-Programm LLM (large language model) DeepSeek-V-3 auf den Markt, wobei es Daten aus der Cloud verwendete. Das neue Programm kann Aufgaben zur Umformung der natürlichen Sprache, darunter Übersetzung, Testgenerierung und ‑verfassung und Führung von Gesprächen ausführen. Der Unternehmensgründer, der gerade erst 39jährigee Liang Wenfen, gab an, mit einem kleinen Team kaum 5,57 Millionen Dollar für die Entwicklung des revolutionären Programms aufgewendet zu haben. Im Vergleich: Die größten Konkurrenten, die US-amerikanischen IT-Unternehmen, haben für ihre Programme, darunter das bekannte Chat GPT, Milliarden ausgegeben.
Dagegen ist das von DeepSeek jetzt auf den Markt gebrachte Modell nicht nur billiger, sondern auch schneller. Daher wurde diese Produktlancierung sofort als neuer „Sputnik-Moment“ aufgefasst, der Reminiszenzen an die Zeit Ende der 1950er Jahre aufkommen ließ, als die Sowjets ihren ersten Satelliten starteten. Noch dazu kam es im Anschluss an die chinesische Herausforderung an den US-Börsen zu einem gewaltigen Einbruch: die amerikanischen Big Tech-Unternehmen verloren an einem einzigen Tag eine Billion Dollar (Nvidia allein ca. 600 Milliarden). Zwar haben sich einige dieser Firmen rasch wieder erholt und sogar etwas abgesetzt, aber die Erinnerung an den Einbruch wird lange bestehen bleiben.
Und zwar unter anderem deshalb, weil genau zwei Tage darauf, gleich nach dem Börsenkrach an der Wall Street und genau am ersten Tag des neuen chinesischen Jahrs (der tatsächlich auf zwei Wochen ausgedehnt wird) Alibaba, das größte chinesische KI-Unternehmen, seine LLM-Version unter dem Namen Qwen 2,5-Max auf den Markt brachte, mit der Behauptung, diese sei noch preiswerter und schneller als das Modell von DeepSeek. Jetzt streiten sich die Fachleute weltweit, welche Version denn nun die bessere sei und ob die Chinesen den Westen (sprich: die USA) schon überholt haben, oder vielleicht doch nicht? Anscheinend wird sich bei dieser Frage so schnell kein Konsens einstellen.
Der Kampf um die Energie
Doch eins ist sicher: Die neuen Produkte revolutionieren den Markt, verändern die Wertehierarchie und bringen China als Technologiemarktführer in Stellung. Dabei geht es nicht allein um künstliche Intelligenz. Denn kurz vor dem Beginn des Jahres der Schlange überraschte China alle mit noch weiteren grundstürzenden High-Tech-Projekten. Das erste, Mitte Januar bekanntgegebene Projekt firmiert in der Volksrepublik China unter dem Namen „kosmischer Damm der drei Durchbrüche“, für die Außenwelt wird es propagiert als „energietechnisches Manhattan-Projekt“ (https://energydigital.com/renewable-energy/chinas-1km-solar-array-the-manhattan-project-of-energy). Dabei handelt es sich um ein bereits begonnenes Projekt einer ein Kilometer langen Solarpanel-Farm im Weltraum, 36.000 km über der Erde. Der Planung zufolge soll es mehr Energie produzieren als Robert Oppenheimers Manhattan-Projekt oder auch die einst berühmte, aber kontroverse Drei-Schluchten-Talsperre am Jangtsekiang. Wobei die Chinesen inzwischen einen noch größeren Staudamm am Fluss Yarlung Tsangpo in Tibet bauen (https://www.bbc.com/news/articles/crmn127kmr4o). Die Berechnung ist, dass die Paneele im atmosphärenlosen Weltraum zehnmal mehr Energie produzieren können als auf der Erde, so dass sie augenblicklich eine schier unerschöpfliche Menge von Energie produzieren könnten.
China besitzt 85 Prozent aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit und hat unlängst damit schockiert, die globale Marktführerschaft bei E-Autos zu übernehmen; deren größte Hersteller sind BYD, Nio, Geely, Chery, Xpeng Changan und Li Auto. Doch wird deutlich, dass die auf Innovation setzende chinesische Regierung nicht nur künstliche Intelligenz fördert, sondern auch und wohl noch stärker die Entwicklung alternativer und erneuerbarer Energiequellen.
In diesem Kontext machen zwei Mitteilungen auf sich aufmerksam. Die Chinesische Energieadministration teilte gleichfalls an Neujahr, den 29. Januar mit, 2024 hätten nicht weniger als 86 Prozent der neu erstellten Energiequellen den Erneuerbaren angehört. Damit erhöhte sich die Windenergie um 18 Prozent, die Solarenergie um 45 Prozent, beides zusammen um 357 Gigawatt, und zusammengenommen liefern die Erneuerbaren bereits 56 Prozent des gesamten Energiemixes (https://apnews.com/article/wind-solar-energy-china-climate-carbon-emissions-b337503abfacfd9b7829fd7bbcd507e9). Auch wenn diese Daten im Ausland etwas angezweifelt werden, lässt sich nicht verhehlen, dass China unter Volldampf auf die Erneuerbaren zusteuert, und selbst die internationalen Agenturen müssen eingestehen, dass China im vergangenen Jahr zum Beispiel mehr Solarpaneele installiert hat als der gesamte Rest der Welt zusammengenommen. China hat das ehrgeizige Ziel, bis zum Jahr 2030 die Hälfte aller Erneuerbaren weltweit zu produzieren (https://sustainabilitymag.com/articles/how-china-will-lead-the-green-energy-expansion).
Die wohl interessanteste und optimistisch stimmende Entwicklung der Gegenwart auf dem Gebiet neuer Techniken der Energiegewinnung ist das Programm ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor). Dabei werden Kernfusionen auf der Grundlage von Wasserstoff‑, Deuterium‑ und Tritiumisotopen erprobt, wie sie auch im Sonnenkern stattfinden. Weil auf der Sonne andere Druckverhältnisse bestehen, reicht es allerdings nicht aus, die dort herrschenden Temperaturen von etwa fünfzehn Millionen Grad Celsius zu erreichen, denn es müssen zehnfach höhere Temperaturen erzielt werden. Das Programm ITER erreicht derartige Temperaturen bisher in „Tokamak“ genannten magnetischen Versuchsanlagen, ausschließlich im Laborversuch und für nur wenige Sekunden. China jedoch behauptet, bereits aus der Versuchsphase zur industriellen Anwendung überzugehen, und an der in der Provinz Anhui gelegenen „künstlichen Sonne“ unter dem Namen EAST (Experimental Advanced Superconducting Tokamak) wurden am 20. Januar alle bisherigen Rekorde gebrochen und die als entscheidende Marke gesehenen eintausend Sekunden übertroffen. Chinesischen Wissenschaftlern gelang es, die Fusion durchzuführen und eine Temperatur von 100 Millionen Grad Celsius 1066 Sekunden, also fast achtzehn Minuten lang zu halten (https://english.news.cn/20250120/1d4e392ccaef48f29e8e9cdd0f9360c5/c.html).
Die Amerikaner haben unterdessen Satellitenbilder veröffentlicht, die beweisen, dass die Ankündigungen keine leeren Worte waren und die Chinesen in der Tat von der Labor‑ zur Anwendungsphase übergehen wollen. Denn bei Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, bauen sie einen Tokamak, der mindesten um etliches größer ist als die bisher bekannten (außerhalb von China befinden sich die größten Tokamaks in Südkorea, Frankreich und den USA; https://www.neimagazine.com/news/china-completes-new-tokamak-7531412/). Sollte sich die Kernfusion unter Kontrolle bringen lassen, wären wir nicht mehr auf Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle angewiesen. Dann könnten die immer drängender und bedrohlicher werdenden Probleme des Klimawandels allmählich von der Agenda genommen werden, während es immer noch ein große Menschheitsaufgabe bliebe, die bisher angehäuften Mengen von Treibhausgasen wieder loszuwerden.
Dialog oder kalte Schulter?
Soweit also die Unmenge an in ihrer Dimension revolutionären technologischen Innovationen, die uns um das chinesische Neujahr herum aus China erreicht haben. Ihrem Ruf als Weltmeister des Feuerwerks sind sie einmal mehr gerecht geworden. Sie führen uns das Reich der Mitte als wiedererstarkte Großmacht vor, und zwar nicht nur in Handel und Produktion, was auch vorher schon bekannt war, sondern auch in den Technologien.
Einige dieser Innovationen, wie etwa die „künstliche Sonne“ und die Entwicklung erneuerbarer Energien, sollten wir mit Applaus, ja Begeisterung aufnehmen, denn sie bieten einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft der Menschheit. Andere jedoch, wie die Androiden oder die großen Flussstaudämme, wecken eher gemischte Gefühle und lassen besorgen, ob solche Erzeugnisse des ingenieurtechnischen Erfindungsreichtums nicht zu weit gehen. Am drängendsten stellen sich offenkundig Fragen nicht zuletzt ethischer Art bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz, die immer schneller fortschreitet und nach Meinung von Fachleuten bereits kurz davor steht, sich menschlicher Kontrolle zu entziehen. Das gibt Anlass zu größten Befürchtungen, denn das zunehmend autoritäre China setzt auch auf den Ausbau seines Militärpotentials, wie dies von Alleinherrscher Xi Jinping offen propagiert wird. Dabei stehen nicht zuletzt die Taiwan-Frage und die Territorialstreitigkeiten in den Gewässern rings um China auf der Agenda. Die aktuell von Donald Trump und seiner neuen Administration vorgebrachten machtpolitischen Zielvorstellungen lassen die Konkurrenz auch auf militärischem Gebiet eskalieren. Damit befinden wir uns bereits in einem neuen Rüstungswettlauf, der unweigerlich die Verlockung mit sich bringt, sich auf künstliche Intelligenz zu stützen. Wer jedoch soll die künstliche Intelligenz bremsen und einhegen?
China geht den Weg des Fortschritts gleichsam mit der Geschwindigkeit einer Rakete, und in Anbetracht der dort auch auf technologischem Gebiet vollzogenen Veränderungen stellt sich die Frage: Wohin bewegen wir uns als menschliche Gattung, und ist die Richtung immer die richtige? China ist ebenfalls bekannt für seine omnipräsente soziale Überwachung und Verletzung der Privatsphäre, wo immer sich jemand dem Willen der Kommunistischen Partei entgegenstellt. Und diese Partei hat offenbar grünes Licht für Innovation gegeben.
So stellt sich die brennende Frage: Sollte China mit Sanktionen und internationaler Ächtung belegt werden, wie viele im Westen fordern, oder wäre besser, den Dialog mit dem Land aufzunehmen, damit die dort initiierten Entwicklungen allen zugutekommen können? Und damit wir nicht etwa Grenzen überschreiten, die besser nicht überschritten werden sollten. Wie immer in der Demokratie wird sich hierzu keine Übereinstimmung erzielen lassen, aber eins ist sicher im Lichte der Feuerwerke, die uns China zu seinem Neujahrsfest vorgeführt hat: Das Reich der Mitte kann mit seiner neugewonnenen Macht und Entwicklung nicht ignoriert werden. Damit stellt sich die drängende Frage: Was tun mit diesem China?
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann