Zum Inhalt springen

„Gewöhnliche Menschen in einer außergewöhnlichen Situation.“

Der Film „Porcelain War“ und künstlerischer Widerstand im Krieg gegen Russland.

 

Montaigne erzählt uns, dass die spartanischen Krieger, bevor sie in die Schlacht zogen, den Musen Opfer darbrachten und darum beteten, dass ihre Taten gut und würdig beschrieben würden.

Jan Morris, Battleship Yamato: Of War, Beauty and Irony

Fast drei Jahre seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine – drei Jahre der Bombardierung von Krankenhäusern, Kraftwerken, Schulen, Parks und vollbesetzten Bussen, drei Jahre der gezielten Tötung von Fußgängern mittels Drohnen. Und doch scheint sich der öffentliche Diskurs in Deutschland nicht weit von den Diskussionen im Februar 2022 entfernt zu haben, ist immer noch in sich stetig wiederholenden Zyklen von Pro-Ukraine- und „Anti-Kriegs“-Positionen in Medien und der Politik gefangen. Und das obwohl Deutschland längst Kriegspartei im hybriden Krieg Russlands gegen die NATO geworden ist, wie der Historiker Timothy Garton Ash unlängst noch einmal betonte. Auch das Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl 2025 klingt so, als hätte es die Veränderungen der letzten Jahre in ganz Europa nicht gegeben: „Deutschland steht fest an der Seite der überfallenen Ukraine – und zugleich achtet Bundeskanzler Olaf Scholz darauf, dass der Krieg nicht zur direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland eskaliert.“

Vielleicht ist der Grund dafür auch, dass der russische Krieg gegen die Ukraine in Deutschland eher abstrakt und diffus wahrgenommen wird, und Soldaten immer noch als gesichtslose Roboter im Dienste einer nicht näher definierten „Kriegsmaschinerie“ betrachtet werden. Dass sich in der Ukraine fast alle Teile einer demokratischen Gesellschaft gegen einen imperialistischen Aggressor zur Wehr setzen, scheint in Deutschland auch nach fast drei Jahren Krieg immer noch schwer verständlich.

Der kürzlich erschienene US-Dokumentarfilms Porcelain War (Porzellankrieg) begleitet die ukrainische Künstlerin Anya Stasenko, die sich darauf spezialisiert hat, von ihrem Mann Slava Leontyew geschaffene kleine Porzellanobjekte mit detailreichen farbenfrohen Szenen zu bemalen. Ihre kreativen Fähigkeiten setzt sie seit Beginn des Kriegs ein – eine Szene zeigt sie, wie sie eine Drohne mit bunten Raubvogelzeichnungen bemalt. Ein paar Szenen später ist dieselbe Drohne zu sehen, wie sie einen russischen Panzer bombardiert, der in Flammen aufgeht.

Porcelain War erzählt die Geschichte des ukrainischen Künstlerpaares Anya und Slava, der zusammen mit dem amerikanischen Visual Effects-Experten Brendan Bellomo auch die Regie übernommen hat. Der Film folgt den beiden und zeigt ihr Leben von Anfang 2022 bis etwa Ende 2023: Ursprünglich auf der Krim ansässig, ist das Paar nach der gewaltsamen Annexion durch Russland im Jahr 2014 gezwungen zu fliehen und zieht nach Charkiw, wo sie ihr von der ukrainischen Natur inspirierte künstlerisches Schaffen fortsetzen. Aber sie leisten auch auf praktischere Weise Widerstand: Nach 2014 hat Slava sich zum Waffenausbilder fortbilden lassen, dient in der Spezialeinheit „Saigon“ und unterrichtet die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte in der Handhabe von Maschinengewehren und Pistolen.

Ein Großteil der Aufnahmen stammt von ihrem Freund, dem Maler Andrey Stefanow, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern ebenfalls von der Krim geflohen ist. Im Gegensatz zu Anya und Slava fühlt sich Andrey nicht in der Lage, im Krieg Kunst zu produzieren, und hat stattdessen begonnen, Filmaufnahmen zu machen. Es sind seine spektakulär schönen und gleichzeitig tieftraurigen Drohnenaufnahmen, die den Film bestimmen. Szenen mit Anya und Slava und ihrem liebenswerten Terrier Frodo im goldenen Herbstlicht in den Wäldern und Wiesen rund um Charkiw und in der gemeinsamen Atelierwohnung wechseln sich ab mit kunstvoll animierten Sequenzen, in denen die Porzellanfiguren der beiden zum Leben erweckt werden, ergänzt um Aufnahmen russischer Soldaten, die vor ukrainischen Drohen in ihren Schützengräben Deckung suchen oder grauen Bildern aus den Ruinen von Bachmut. Letztere wurden von Mitgliedern von Slavas Einheit beigesteuert – Menschen, die vor dem Krieg Lehrer, Milchbauern und Ärzte waren und die die Aufnahmen ihrer Bodycams und GoPros dem Filmteam zur Verfügung gestellt haben. Porcelain War zeigt neben der Wichtigkeit von Kunst als Widerstand ergreifende Kriegsbilder, von normalen Bürgern gedreht, die gezwungenermaßen zu Soldaten wurden. Wie Slava im Off sagt: „Wir sind gewöhnliche Menschen in einer außergewöhnlichen Situation“.

Neben Anya, Slava, Andrej und den Mitgliedern von „Saigon“ gibt es noch viele andere Kunstschaffende, die für die Ukraine kämpfen – und sich dabei freiwillig in Todesgefahr begeben. 145 ukrainische Künstler und Künstlerinnen wurden seit Februar 2022 getötet, wie aus den neuesten Statistiken des ukrainischen Ministeriums für Kultur und strategische Kommunikation hervorgeht. Russland tötete den Kinderbuchautor Wolodymyr Wakulenko. Es tötete den Opernsänger Ihor Voronka. Es tötete Mykola Lenok, einen Musiker und Mundharmonikaspieler des Wild Theater. Russland tötete Oleksandr Serdiuk, einen Sänger des Berehynia-Theaters in Kiew. Russland tötete die Dichter Myroslav Herasymovych und Maksym Krywsow. Wie Anya und Slava schuf auch Maksym Werke während des Kämpfens und veröffentlichte Вірші з бійниці (Gedichte aus dem Schützengraben) im Jahr 2023.

 

mein Helm gleitet mir aus den Händen

fällt in den Schlamm

die Katze wacht auf

blinzelt mit den Augen

schaut sich vorsichtig um:

Ja, es sind ihre Leute:

und schläft wieder ein.

(Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor)

 

Alle diese Künstlerinnen und Künstler können als Teil dessen betrachtet werden, was die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina, die 2023 durch eine russische Rakete getötet wurde, als „zweite hingerichtete Renaissance“ bezeichnet hat. In der Ukraine erinnert man sich unter dem Begriff Розстріляне відродження, hingerichtete Renaissance, an eine Generation von jungen und aufstrebenden ukrainischen Schriftsteller und Künstlern, die in den 1930er Jahren auf Geheiß des sowjetischen Diktators Joseph Stalin verschleppt und ermordet wurden. Wie die Historikerin Franziska Davies in ihrem persönlichen Newsletter schreibt: „Für sie persönlich, schrieb Amelina, würde dies bedeuten, dass die meisten ihrer Freunde sterben würden; für die meisten Menschen in Westeuropa würde es einfach einen weiteren ungelesenen ukrainischen Text bedeuten – einen Text, der nicht gelesen werden kann, weil sein Autor von Russland ermordet wurde, bevor er oder sie ihn schreiben konnte.“ Dieser Gedanke wird auch von Slava im Film bestätigt: Als er durch die zerstörte Kunstschule in Charkiw geht, trauert er um Werke, die nie entstehen werden, da die Künstler gezwungen sind zu fliehen oder zu kämpfen – und zu sterben.

In ihren Interviews und Kommentaren im Film klingen Anya und Slava gefestigt und sich ihrer Mission als Künstler und Soldaten sicher, aber vor allem Kameramann Andrey zeigt sich in seinen eigenen Interviewsequenzen auch sehr verwundbar. Neben der Mission, den Film fertig zu stellen, kämpft er vor allem dafür, zu überleben und seine Familie wieder zu sehen, die vor den russischen Angriffen nach Litauen geflüchtet ist. Die Wiedersehensszenen während einer Rückkehr der Familie im Sommer 2023 gehören zu den ergreifendsten des ganzen Films.

Porcelain War gewann den Großen Preis der Jury für Dokumentarfilm beim Sundance Film Festival 2024 und wurde für den diesjährigen Oscar nominiert. Es ist ein ergreifender Film mit schrecklich-schönen Bildern, passend untermalt von der Musik der ukrainischen „Ethno-Chaos“ Band DachaBracha. Porcelain War zeigt die Notwendigkeit und die für deutsche Augen vielleicht drastischen und schockierenden Aspekte von demokratischem, militärischem Widerstand. Lehrer, Milchbauern, Ärzte und Künstler bejubeln den Tod anderer Menschen. Im Gegensatz zu deutschen Künstlern wissen ukrainische Künstler, was sie unter russischer Besatzung erwartet: Mord, Gewalt, Folter, Deportation, und die Auslöschung jeglichen Ausdrucks ukrainischer Identität und Selbstbestimmung. Wie Slava zum Ende des Films hin sagt: „Die Ukraine ist wie Porzellan – leicht zu zerbrechen, aber unmöglich zu zerstören.“

Leider hat Porcelain War zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels noch keinen europaweiten Vertrieb und läuft nur in ausgewählten Kinos. Ich hoffe sehr, dass bald möglichst viele Menschen in Deutschland den Film sehen können, und wünsche mir besonders eine Vorstellung im Kanzleramt oder dem Willy-Brandt-Haus. Porcelain War endet, wie könnte es sein, nicht mit einem Happy End. Zumindest aber haben Anya, Slava, Andrey und alle Mitglieder von „Saigon“ ihre im Film begleiteten Einsätze überlebt und kämpfen weiter, mit Pinsel und Maschinengewehr. In einer besseren Welt würden die drei Protagonisten friedlich weiter ihre Kunst schaffen können und ihre Werke in internationalen Galerien ausstellen. In den tristen Zeiten in denen wir leben gibt es jedoch etwas, was mir Hoffnung gibt: Die Widerstandsfähigkeit von Anya, Slava, Andrey und all den anderen Künstlerinnen und Künstlern, die in der Ukraine für uns kämpfen.

Schlagwörter:
Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.