Über das Buch „Niedopolska. Nowe spojrzenie na Ziemie Odzyskane“ [Niedopolska. Ein neuer Blick auf die Wiedergewonnenen Gebiete] von Sławomir Sochaj spricht Natalia Prüfer mit dem Autor
Natalia Prüfer: Karolina Kuszyks Buch „In den Häusern der anderen“, Filip Springers „Mein Gott, jak pięknie“ [Mein Gott, wie schön], Zbigniew Rokitas „Odrzania“ [Oderland] und Karolina Ćwiek-Rogalskas Buch „Ziemie. Historie odzyskiwania i utraty“ [Gebiete. Geschichten über Rückgewinnung und Verlust] – all diese Bücher sind in den vergangenen Jahren erschienen und behandeln das „ehemals Deutsche“ und die sogenannten Wiedergewonnenen Gebiete. Sicherlich hast du sie gelesen, du zitierst ja die genannten Autoren in deinem Buch. Es verbindet euch nicht nur das Thema, sondern auch das Alter, oft auch die Herkunft. Warum befasst sich deine Generation so intensiv mit diesem Thema und was ist passiert, dass wir endlich außerhalb von Wissenschaftskreisen darüber sprechen?
Sławomir Sochaj: Ich denke, wesentlich ist hier das für die Migration typische Generationsschema. Es basiert darauf, dass die erste Generation sich in der neuen Umgebung unwohl fühlt, sie hat Sehnsucht und empfindet sich als entwurzelt, sie trägt Traumata in sich, die im Schweigen kumulieren. Die nächste Generation hat schon ein vollkommen anderes Verhältnis zu der Region, in der sie geboren wurde. Sie will sich hier vor allem etwas aufbauen. Sie fühlt sich, im Gegensatz zu ihrer Eltern-Generation nicht entwurzelt, dafür hat sie Ambitionen, will die Chance nutzen und in die neue Wirklichkeit hineinwachsen. Deshalb sind für sie materielle Fragen wesentlich. Sie widmet dem Thema Identität nicht viel Zeit, sondern ist mehr mit Lebensfragen beschäftigt. Meine Generation hingegen, sprich die dritte, hat schon ein ganz anderes Verhältnis zu dem Ort, aus dem sie stammt. Sie hat nicht die Traumata der Großeltern, sie hat auch nicht das Gefühl, dass die Vergangenheit ein Ballast auf dem Weg zu Stabilisierung ist, sie kann die Vergangenheit also ohne Hindernisse diskursivieren. Natürlich ist das eine gewisse Vereinfachung, aber dieses Schema erklärt meiner Meinung nach sehr viel. Die Geschichte meiner Familie, die ich in meinem Buch „Niedopolska“ beschreibe, passt hervorragend in dieses Schema.
Ich verstehe, aber warum sind in den letzten fünf Jahren so viele Bücher mit Reportage-, Biografie und Essaycharakter erschienen?
Die dritte Generation der Umsiedler, über die wir sprechen, ist wirklich bereits seit den 1990er Jahren aktiv. Damals begann man, das „ehemals Deutsche“ zu entdecken, dazu gehörten vergessene Städte- und Straßennamen, die Architektur, Postkarten und Gegenstände. Die Faszination für das „ehemals Deutsche“ ist weiterhin da und entwickelt sich. In den letzten Jahren ist die Identität zum Hauptinteressenobjekt von Autoren geworden. Inwiefern kann das, was „ehemals deutsch“ ist, unsere Identität mitgestalten? Dieses Phänomen hat, wie ich meine, etwas zu tun mit dem allgemeineren Trend, dass man seine Identität auf anderen Ebenen als der nationalen entdeckt, insbesondere die Klassenidentität. Zu diesem Thema sind wirklich schon so einige Bücher erschienen, beispielsweise der Bestseller „Chłopki“ [Die Bäuerinnen] von Joanna Kuciel-Frydryszak. Das Interesse an diesem Thema ist umso größer, je mehr transgenerationale Traumata wir empfinden und je mehr wir uns darüber im Klaren sind, dass die Vergangenheit nicht nur unsere Großmütter definiert hat, sondern in einem gewissen Grade auch uns definiert. Indem wir die Geschichte unserer Gesellschaft neu entdecken, entdecken wir auch uns selbst neu, und verstehen die kulturellen Codes, die die vorangegangenen Generationen kennzeichnen, wir können uns dann von ihnen befreien. Diese individuelle, oder gar therapeutische Dimension, scheint mir absolut zentral zu sein bei der Entdeckung unserer kollektiven Identitäten.
Was aber unterscheidet dein Buch von den Büchern der anderen Autoren, die ich zu Beginn unseres Gesprächs genannt habe?
Ich denke, vor allem das Verhältnis zu dem, was „ehemals deutsch“ ist. Ich war immer davon überzeugt, dass wir nicht die Selbstbestimmtheit der Regionen aufbauen, über die wir hier reden, indem wir uns auf das „ehemals deutsche“ Erbe konzentrieren. Erstens weil manche dieser Gebiete, so wie Niederschlesien, in der Vergangenheit nicht nur zu Deutschland gehört haben, sondern auch zu Polen, Österreich und Tschechien, und weil sie eine wahnsinnig komplexe Geschichte haben und es unmöglich ist, sie auf das Deutsche zu reduzieren. Zweitens darf bei Überlegungen zur Identität nicht die Geschichte von vier Generationen vernachlässigt werden, die diese Gebiete seit dem Krieg bewohnen. Ihre Schicksale sind mit dem Gebiet fest verwachsen, und die Entfremdung, die den Generationen, die bereits in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ zur Welt gekommen sind, imputiert wird, war eine Episode, die nur die erste Generation betraf. Aus Gesprächen, die ich mit Menschen geführt habe, die in den 1960er und 1970er Jahren hierhergezogen sind, geht hervor, dass sie sich hier durchaus zu Hause gefühlt haben, und dass das „ehemals deutsche“ Gebiet ihnen gar nicht fremd vorkam, sondern durchaus als das ihrige. Sie hatten auch keine Befürchtungen, dass „die Deutschen zurückkommen“ könnten. Es kommt vor, dass Autoren von Büchern über die „Wiedergewonnenen Gebiete“ dem Vertrag zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland, der die Grenze an der Oder und an der Neiße bestätigte, viel Aufmerksamkeit schenken. Er war tatsächlich aus geopolitischer Sicht ein wichtiger Punkt, aber er hat überhaupt nicht zu einer Welle der Erleichterung im Westen Polens gesorgt. Das Leben lief hier schon lange nach seinen eigenen Regeln, unabhängig von der großen Politik. Hier entstanden Hochschulen, sehr interessante künstlerische Strömungen, die Menschen machten Karriere, die Jugend amüsierte sich und war auf der Suche nach Entwicklungschancen. In den 1990er Jahren aber, als man damit begann, diese Gebiete wieder neu zu beschreiben, traten die Nachkriegsgenerationen in den Hintergrund, und ins Zentrum des Interesses geriet das „ehemals deutsche“ Erbe. Das ist natürlich verständlich, das war eine Reaktion auf die 45 Jahre, in denen der Schwachsinn von der „Rückkehr ins Vaterland“ verbreitet wurde und man Spuren des „ehemals Deutschen“ entfernte. Es scheint mir, dass wir heute das Ringen mit der kommunistischen Propaganda lockerer betrachten und unsere Aufmerksamkeit auf die Aspekte unserer Geschichte lenken können, die bisher durch hitzige Abrechnungen mit der Propaganda marginalisiert wurden. Ich denke dabei vor allem an die Geschichte der Nachkriegsgenerationen und daran, dass sie dazu beigetragen haben, die Identität der Einwohner der „Wiedergewonnenen Gebiete“ aufzubauen. Sehr interessant erzählt in meinem Buch der schlesische Historiker Professor Wojciech Browarny von der Marginalisierung der Geschichte dieser Generationen, er weist nämlich darauf hin, dass das deutsche Erbe in sich die Ästhetisierung der polnischen Geschichte trägt und als solches attraktiver ist für die bürgerliche Gesellschaft. Die Geschichte der Nachkriegsgenerationen hat nicht dieses bürgerliche Sexappeal wie die „ehemals deutsche“ Kunst, die Tassen und die Architektur.
Du schreibst von Postkolonialismus in diesen Gebieten, erwähnst die Zwangspolonisierung der hierher umgesiedelten ukrainischen Bevölkerung, sprichst über geraubte Kunstwerke. Nolens volens vergleichst du die Nachkriegsregierung in Polen mit Kolonisatoren. Das ist ein sehr interessantes und wohl geradezu kontroverses Thema, oder?
Das Thema „Postkolonialismus“ dringt langsam in das Denken über die „Wiedergewonnenen Gebiete“ durch. Als erster bewusst entwickelt hat das Professor Arkadiusz Kalin, Autor des hervorragenden, wenn auch wenig bekannten Buches „Mit Ziem Odzyskanych w literaturze: postkolonialny przypadek Ziemi Lubuskiej“ [Vom Mythos der Wiedergewonnenen Gebiete in der Literatur: der postkoloniale Fall des Lebuser Landes]. Mich hat mehr der Einfluss der Politik, die in manchen Aspekten an Kolonialismus erinnert, auf die zeitgenössische psychosoziale Kondition interessiert. Deshalb habe ich mich bei meinen Betrachtungen hauptsächlich auf die Gegenwart konzentriert und dabei alle Möglichkeiten genutzt, die die essayistische Perspektive bietet.
Halten wir einen Moment inne. Erst nachdem ich dein Buch gelesen hatte, konnte ich diese Regionen Polens aus einer anderen Perspektive betrachten. Die schnelle Zwangspolonisierung, die Abtragung von Sehenswürdigkeiten und ihr Abtransport in andere Städte, die Tabuisierung nichtpolnischer Herkunft und die expressartige Änderung von Straßennamen in typisch polnische. Wie haben Medien und Rezensenten auf dieses Thema reagiert? Hast du schon einstecken müssen dafür, dass du Polen mit bösen Kolonisatoren verglichen hast?
Nein, von den Medien musste ich nichts einstecken, aber bei Lesungen sehr wohl. Es gab Personen, die das Buch nicht gelesen hatten, aber auf die Frage des Postkolonialismus allergisch reagierten. Ich erkläre natürlich, dass es nicht um klassische Kolonisierung geht, sondern um bestimmte Anzeichen, um Muster staatlicher Maßnahmen in diesen Gebieten und um Phänomene, wie der Verlust von Sozialkapital, die typisch sind für postkoloniale Gesellschaften. Ich erkläre auch, dass unsere Großväter nicht die Kolonisatoren waren, sondern wenn schon, dann eher Instrumente in den Händen der Machthaber, und dass sie oft selbst kolonisiert wurden. Ein solches Schicksal hatte zum Beispiel meine Großmutter.
Halten wir das einmal fest: Deine Großmutter stammte aus Galizien, sie wurde im Rahmen der Aktion „Weichsel“ nach Niederschlesien umgesiedelt, aber dieses Thema ist in Familiengesprächen nicht vorgekommen. Jahrelang wusstest du nicht, dass deine Großmutter einst Ukrainisch sprach. Außer dieser Geschichte gibt es in deinem Buch „Niedopolska“ Reportagen und essayistische Teile. Was war zuerst da? Das Bedürfnis, die eigene Familiengeschichte zu erzählen oder die Idee, sich mit dem Thema der „Wiedergewonnenen Gebiete“ und dem „ehemals Deutschen“ auseinanderzusetzen?
Das erste Thema für dieses Buch war die Grenze, die im Versailler Vertrag festgelegt wurde und die bis heute unter vielen Aspekten sichtbar ist, unter anderem anhand der Wahlbeteiligung. Etwas später begann ich, mir die Schicksale in meiner Familie genauer anzusehen. Ich versuchte, aus meinen Großeltern etwas herauszubekommen, aber das war nicht einfach. Viel konnte ich von ihnen über die Nachkriegszeit nicht erfahren. Erst nach dem Tod meines Großvaters öffnete sich meine Großmutter und erzählte von der Zeit, in der sie in einem ruthenischen Umfeld aufgewachsen ist.
Kommen wir zur Terminologie. Du schreibst in deinem Buch, Filip Springer bezeichne diese Gebiete als „Landschaft“, Zbigniew Rokita als „Oderland“. Offiziell aber sind das immer noch die „Wiedergewonnenen Gebiete“, obwohl hier nie jemand etwas zurückgewonnen hat. Lässt sich diese Bezeichnung ändern und findest du, der du aus Wrocław stammst, dass man das tun sollte?
Die Bezeichnung „Wiedergewonnene Gebiete“ ist natürlich problematisch, aber ich verteidige sie in meinem Buch. Ich weiß genau, dass dieser Begriff aus der Propaganda stammt und dass das Wort „wiedergewonnen“ hier stark überstrapaziert wurde. Ich verstehe, dass Wissenschaftler ihn nicht benutzen wollen, doch es lässt sich nicht verleugnen, dass das der einzige Begriff ist, der das Gemeinsame der Erfahrungen von Familien beschreibt, die sich in diesen Gebieten angesiedelt haben, und der allgemein gebraucht wird. Ob wir es wollen oder nicht, Kowalski aus Niederschlesien wird nie von sich sagen, er stamme aus den „Westlichen und Nördlichen Gebieten“. Es ist klar, dass er sich im Alltag auch nicht als Bewohner der „Wiedergewonnenen Gebiete“ definieren wird. Wenn er aber im Zug auf Nowak aus Szczecin trifft, können sie vor diesem historischen Hintergrund schnell Verständnis füreinander entwickeln und die „Wiedergewonnenen Gebiete“ im Gespräch über ihre Familien nutzen, weil sie nichts Besseres zur Hand haben. Dieser Kontext scheint mir sehr wichtig zu sein. Die „Wiedergewonnenen Gebiete“ sind kein geografischer Teil, sondern eine Bezeichnung für bestimmte gemeinsame Erfahrungen. Wie groß auch immer die Abneigung von Wissenschaftlern gegen diesen Begriff sein mag – er ist doch in der polnischen Sprache heimisch geworden. In den vergangenen Jahrzehnten hat es in diesen Gebieten zu viele Versuche gegeben, die Sprache von oben zu regulieren, so dass wir jetzt keinen neuen Versuch unternehmen sollten, den einzigen allgemein gebrauchten Begriff für die Regionen, die vor dem Krieg zu Deutschland gehört haben und seit dem Kriegsende zu Polen gehören, aus der Sprache zu tilgen. Es ist witzig zu sehen, wie Leute in ernstzunehmenden Diskussionen sich verrenken, um nicht den Begriff „Wiedergewonnene Gebiete“ zu verwenden, wie viel Energie sie in eine Sache legen, die aus der zeitlichen Perspektive genauso banal ist wie die Genese dieses Begriffes. Der Begriff „Galizien“ war auch ein Werk von Aggressoren, ähnlich wie „New York“, aber was für eine Bedeutung hat das heute?
Und „Gewonnene Gebiete“? Wäre das nicht der korrektere Begriff?
Vielleicht. Die Frage ist nur, ob wir – Journalisten, Publizisten, Menschen der Wissenschaft – den Auftrag dazu haben, die lebendige Sprache zu verändern, die längst nicht mehr im Zusammenhang steht zu ihrer propagandistischen Herkunft. Meiner Meinung nach haben wir diesen Auftrag nicht. Dennoch muss betont werden, dass für die historischen Regionen wie Schlesien, Westpommern, das Ermland und die Masuren der Terminus „Wiedergewonnene Gebiete“ keine Alternative ist und auch nicht sein darf. Was die Identität angeht, so kann sie allein im Hinblick auf Regionen, Städte und kleine Heimaten aufgebaut und entdeckt werden. Die „Wiedergewonnenen Gebiete“ sind lediglich eine Beschreibung von gemeinsamen Erfahrungen, niemand, der bei Verstand ist, will aus ihnen eine schlüssige kulturelle Makroregion mit einer gemeinsamen Identität machen.
Haben die Polen das „ehemals Deutsche“ verinnerlicht? Hat die politische Situation in Polen und in Deutschland darauf Einfluss?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Verinnerlichung des „ehemals Deutschen“ abhängig ist von der aktuellen politischen Situation, beispielsweise von aktuellen Presseberichten aus Deutschland. Der Prozess der Entdeckung und Rehabilitation der deutschen Geschichte unserer Regionen dauert seit den 1990er Jahren an. Er hat inzwischen ganz andere Formen angenommen, als er vor zwanzig Jahren hatte. Früher manifestierte man seine Verbundenheit zur Vorkriegsgeschichte, indem man zum Beispiel Kerzen auf „ehemals deutschen“ Gräbern anzündete. Heute sind es weniger Kerzen, dafür aber gibt es mehr Instagram-Profile, die „ehemals deutsche“ Spuren aufspüren. Heute ist deutlich zu sehen, dass die Entdeckung des „ehemals Deutschen“ bestimmte Phasen hat. Zuerst war da die – nennen wir sie ruhig so – intellektuelle Phase, die zusammenhing mit Regionalisten, Historikern und kulturellen Organisationen, die „ehemals deutsche“ Spuren pflegten. Dann kam es zu einer Popularisierung dieses Phänomens. Das, was „ehemals deutsch“ ist, lohnte es sich nun nicht nur zu entdecken, sondern auch als Teil seiner eigenen Identität zu verinnerlichen.
Was also könnte der deutsche Leser aus deinem Buch erfahren? Karolina Kuszyks Buch „In den Häusern der anderen“ ist auf Deutsch erschienen und die Autorin macht noch immer Lesungen in Deutschland.
Vielleicht könnten deutsche Leser durch „Niedopolska“ die polnische Nachkriegsgeschichte besser verstehen und etwas mehr erfahren über die Gebiete, die vor dem Krieg deutsch waren. Zum Beispiel: Warum manche deutsche Sehenswürdigkeiten zerstört wurden, und Kunstwerke ausgeführt wurden. Ich denke, interessant könnte für den deutschen Leser auch die postkoloniale Perspektive sein. Dabei geht es mir um den Kontext der unter vielen Gesichtspunkten vergleichbaren Diskussion über den nicht leichten Prozess, bei dem die historischen Gräben zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern aufgefüllt werden. Kürzlich ist in Polen das Buch von Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ erschienen. Ich glaube, dass in Polen ebenso gut ein Buch mit dem Titel „Die Wiedergewonnenen Gebiete: eine Erfindung des polnischen Zentrums“ entstehen könnte. Mir scheint, dass die Diskussion über die Asymmetrie zwischen den Regionen, die von unseren Staaten einverleibt wurden, und denen, die bereits vorher dazu gehört haben, sich in Polen und in Deutschland zur selben Zeit verstärkt hat. Ich habe kürzlich einen Dokumentarfilm auf Arte gesehen, in dem angegeben wurde, dass zwanzig Prozent der Bewohner in Westdeutschland nie in den neuen Bundesländern waren. Das ist für mich absolut verblüffend. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass wenn wir eine ähnliche Statistik in Polen aufstellen würden, sich herausstellen würde, dass zwanzig Prozent der Menschen aus Zentralpolen nie in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ waren. Westdeutschland dominiert in vielen Bereichen Ostdeutschland, beispielsweise in der Wissenschaft, bei den Geldern, die für Denkmalschutz zur Verfügung gestellt werden, beim Sozialkapital oder im Fußball, ähnlich finden wir in Polen viele analoge Disproportionen.
Kehren wir für einen Augenblick nach Wrocław zurück. In deinem Biogramm fallen Sätze wie: „Seine Versuche, zu seiner Heimatstadt auf Distanz zu gehen, sind alle gescheitert.“ Was bedeutet das? Hast du ein Problem mit Wrocław?
Mein Lokalpatriotismus ist eine schwierige Liebe. Seit etwa zehn Jahren fällt mir auf, dass in Wrocław nicht nur die Erfolge der „Wiedergewonnenen Gebiete“ kumulieren, sondern auch deren Schwächen. In den letzten dreißig Jahren Stadtgeschichte hat natürlich eine deutliche Entwicklung im Hinblick auf die Wirtschaft und das Image stattgefunden. Dennoch ist im letzten Jahrzehnt im öffentlichen Raum ein Rückgang sichtbar. Das ist zum Beispiel zu sehen anhand der schwächeren Position des Stadtverkehrs als in Krakau und Warschau, am Absterben wichtiger städtischer Räume wegen der vielen entstehenden Kaufhäuser und des Abrisses von Gebäuden, die für die Stadtgeschichte wichtig waren, wie beispielsweise das Warenhaus Solpol. Einerseits liebe ich diese Stadt, ich fühle mich hier wohl und will hier nicht weg, andererseits nehme ich immer häufiger wahr, dass die Überzeugung vieler Wrocławianer meiner Generation, dass wir am tollsten Ort im Land leben, etwas voreilig war.
Darum geht es auch in „Niedopolska“.
Ja, das ist für mich wie ein aufrichtiger Blick in den Spiegel und die Frage: Wer sind wir? Sind wir wirklich die, als die wir uns kreieren, sprich vergeistigte Nachkommen gut gekleideter deutscher Bürger der dreißiger Jahre, oder tragen wir doch Nachkriegstraumata und Syndrome sozialer Apathie in uns? Schauen wir doch mal, wie oft die Regionen der „Wiedergewonnenen Gebiete“, auch Wrocław, mit einer geheimnisvollen Aura für sich wirbt, mit Kriminalfällen, mit der Legende von einem goldenen Zug und Hitlers Geheimexperimenten. Auf diese Weise bauen wir kein nachhaltiges Kulturkapital auf. Ich wünsche mir sehr, dass Wrocław vor allem mit dem werben würde, was das Schönste hier ist – die multiethnische Geschichte, die Sehenswürdigkeiten und die immaterielle Kultur, und nicht mit einer ephemerischen geheimnisvollen Aura.
Ich danke sehr für das Gespräch.
Ich bedanke mich auch.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller
Sławomir Sochaj wurde 1980 in Wrocław geboren, er ist Journalist, PR-Experte, ausgebildeter Politologe, Absolvent der Universität Wrocław. Seit fast zwanzig Jahren befasst er sich mit Kommunikation, mit Branding und beobachtet Trends in der Popkultur. Langjähriger Autor von Feuilletons und Reportagen für das Magazin „Ferment“. Autor des Buches „Niedopolska. Nowe Spojrzenie na Ziemie Odzyskane” [Niedopolska. Ein neuer Blick auf die Wiedergewonnenen Gebiete], das es auf die Liste der zehn besten Debüts der Tageszeitung Gazeta Wyborcza geschafft hat. Er reist viel, spürt unsichtbare Grenzen auf, kulturelle Risse und Spuren der Geschichte, die Einfluss haben auf die Gegenwart. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der imaginären Geografie und dem diskursiven Spiel zwischen Zentrum und Peripherie. Seine Versuche, zu seiner Heimatstadt auf Distanz zu gehen, sind alle gescheitert.
Bei meinen ersten Besuchen in Wrocław 1968/69 fand ich öfter in der Öffentlichkeit den Satz „Wrocław zawsze miastem polskim“.
Ich weiß nicht, ob das eine Aussage über die Vergangenheit oder über die Zukunft oder über beides sein sollte.
(Ich habe keine familiäre Beziehung zu den ehemals deutschen Gebieten, wohne aber in Frankfurt (Oder), einer Stadt, deren östlicher Stadtteil heute Słubice heißt.)