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Die Anerkennung der polnischen Westgrenze im deutschen Vereinigungsprozess

Dieser Beitrag bildet das Schlusskapitel des jüngst erschienenen Buches Deutschland und Polen. Die Geschichte der amtlichen Beziehungen.

Am Schluss dieses Buches über die lange Geschichte der amtlichen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland steht hier ein Kapitel, das sich gänzlich von den anderen unterscheidet. Neben dem Studium von Akten schreibt der Autor als Handelnder über die Phase dieser deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts, die darin mündete, dass beide Länder sich in ganz neuer Weise der Gestaltung ihrer Beziehungen und damit gleichzeitig der Gestaltung Europas zuwenden konnten[1].

Polen hatte nach dem deutschen Überfall am 1. September 1939 die Hölle erlebt – durch Krieg, Besatzung und unvorstellbare Verbrechen starben mehr als fünf Millionen polnische Bürger. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, der faktisch die vierte Teilung Polens bedeutete, schuf ein Trauma, das bis heute anhält und durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine neue Nahrung erhält. Obwohl auch Polen in allen alliierten Armeen kämpften und sie 1945 dann doch letztlich Deutschland mit vom Nationalsozialismus befreit haben, was in Deutschland kaum jemand weiß und bis heute nicht angemessen gewürdigt wird, blieb Polen in den folgenden Jahrzehnten unter der Vorherrschaft der Sowjetunion im kommunistisch beherrschten Teil Europas. Plötzlich fand sich Polen – in nach Westen geschobenen Grenzen – mit den Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone in einem Zwangsbündnis mit der Sowjetunion wieder. Stalin behielt den Teil Polens, den er entsprechend dem Hitler-Stalin-Pakt besetzt hatte, Polen erhielt die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße. Mehr als 12 Millionen Deutsche waren vor der Roten Armee geflohen und konnten nicht mehr zurück oder mussten Polen verlassen – in beiden deutschen Staaten machten sie einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung aus, der insbesondere im demokratischen Westen dann auch politisch wirksam wurde. Die Sowjetunion wollte Ruhe im eigenen Bündnis, und so hatten die kommunistisch regierten Polen wie die DDR ihre Grenze anzuerkennen – die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“, wie wir es in der DDR schon im Schulunterricht lernten. Der Görlitzer Vertrag von 1950 besiegelte diese Anerkennung. Der westliche Teil Deutschlands, die Bundesrepublik, wiederum tat sich jahrzehntelang schwer, sich mit der deutschen Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen und die Nachkriegsordnung in Europa anzuerkennen.

Es ist das besondere Verdienst dieses Buches – leider bis heute keineswegs selbstverständlich – dass die deutsch-polnischen Beziehungen hier immer als Dreiecksbeziehungen dargestellt werden. Die Autoren sind sich immer bewusst, dass die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine geteilte Geschichte ist und beide Staaten jeweils ihre eigenen Beziehungen zu Polen hatten – und diese durchaus auch den jeweils anderen deutschen Teilstaat betrafen.

Die Geschichte von 1989/90, die hier in den deutsch-polnischen Beziehungen zu behandeln ist, trifft gleichzeitig auf eine deutsche Geschichtsschreibung, welche bis heute nicht vermocht hat, den Weg der Deutschen in die Einheit als „verhandelte Einheit“ zu beschreiben. Die DDR war durch die Friedliche Revolution und nach der Übergangssituation des Runden Tisches und mit der freien Wahl vom März 1990 zu einem demokratischen Staat geworden. Dies geschah in einem engen Zusammenhang mit Polen – und Ungarn. In Polen hatte 1989, beginnend mit dem Runden Tisch von Februar – April 1989 eine „verhandelte Revolution“ stattgefunden – und damit eine friedlich verlaufende. Im Ergebnis hatte Polen nach der (halb-)freien Wahl im Juni schon Ende August mit Tadeusz Mazowiecki den ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Friedliche Revolution in der DDR gehört in diesen Zusammenhang – den ich eine mitteleuropäische Revolution nenne. Mit dem Sieg von Freiheit und Demokratie entstanden an deren Ende in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und in der DDR demokratische Staaten. Die DDR ist also nicht untergegangen, sondern hat sich demokratisiert. Die deutsche Vereinigung – von der großen Mehrheit der Deutschen in der DDR gewollt – war dann ein Verhandlungsprozess zweier gleichermaßen demokratisch legitimierter Staaten – und endete rechtlich auf der Grundlage von ausgehandelten Verträgen mit dem demokratisch vollzogenen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Leider ist bis heute zwar der 2+4-Vertrag, aber der bilaterale Verhandlungsprozess nicht einmal ansatzweise historisch aufgearbeitet. Dies gilt auch für den Teil der deutsch-polnischen Beziehungen, der mit der deutschen Vereinigung 1990 eng verbunden war: die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Gerade zu dieser Frage vertraten beide deutschen Teilstaaten grundsätzlich unterschiedliche Positionen.

Helmut Kohl hatte sich nach seiner Regierungsübernahme 1982 zu den Ostverträgen bekannt, also auch zum Warschauer Vertrag von 1970. Doch stand im Jahre 1990 die nächste Bundestagswahl an – und so wollte er die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze hinter diese Wahl schieben. Er hatte Sorge vor dem Wahlverhalten der Vertriebenen, welche eine solche Anerkennung ablehnten oder mit Bedingungen verbinden wollten. Hier ein Risiko, also mögliche Stimmenverluste, in Kauf zu nehmen, war er nicht bereit.

Wir in der DDR traten dagegen für eine schnelle und bedingungslose endgültige Anerkennung dieser Grenze ein. Dies hatte für uns eine primäre Bedeutung. Mir war es wichtig, die Parlamentstätigkeit nach der freien Wahl im März 1990 mit einer Erklärung zu beginnen, in der wir uns in die Verantwortungsgeschichte stellen, die uns aus unserer belasteten Vergangenheit gemeinsam mit der Bundesrepublik durch die Verbrechen des Nationalsozialismus erwachsen war. Die Erklärung, die dann am 12. April 1990 von der Volkskammer mit 21 Enthaltungen verabschiedet wurde, hatten wir als SPD in den Koalitionsgesprächen vorgeschlagen und verabredet. Sie nahm verschiedene Themen und Anregungen auf und benannte deutsche Schuld gegenüber den Juden, den Völkern der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und gegenüber Polen, und verband damit konkrete politische Herausforderungen und Initiativen. In dieser Erklärung heißt es: „Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden.

Nationalismus und Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma. Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten.“ Die kommunistische DDR hatte eine solche Übernahme von Schuld und Verantwortung immer von sich gewiesen. Für sie stand die DDR an der Seite der ruhmreichen Sowjetunion; an der Seite der Sieger des Zweiten Weltkriegs und des Fortschritts. Eine die Gesellschaft einbeziehende und die Verantwortung des Einzelnen reflektierende Aufarbeitung des Nationalsozialismus hatte es in der kommunistischen DDR nicht gegeben. Allein in den evangelischen Kirchen und in verschiedenen oppositionellen Gruppen wurde diese Schuldgeschichte anerkannt.

Für die demokratische DDR sollte dieses Schuldbekenntnis vom 12. April 1990 eine wesentliche Grundlage ihrer Politik sein. Waren die früheren Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten durch die kommunistische Ideologie und die Zugehörigkeit zum sowjetischen Einflussbereich innerhalb des Ost-West-Konflikts geprägt, so sollten diese jetzt geistig und politisch neu begründet und gestaltet werden. Gerade für das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn, die mit uns unter der kommunistischen Diktatur gelitten hatten, denen sich jedoch auch die Geschichtsvergessenheit der DDR fest eingeprägt hatte, hatte diese Erklärung besondere Bedeutung.

Wichtig war außerdem, dass wir nicht so taten, als knüpften wir unmittelbar an die Nachkriegszeit an. Nicht nur die NS-Zeit, auch die Schuld der kommunistischen Zeit sollte nicht verdrängt, sondern bewusst bearbeitet werden. Sowohl gegenüber dem jüdischen Volk und Israel wie gegenüber der Tschechoslowakei spielte diese Dimension eine wichtige Rolle. Am Anfang benannte die Resolution die Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk. Für die SED war – wie für die Sowjetunion – die Shoa, der Holocaust immer nur ein Nebenaspekt der Geschichte des Nationalsozialismus gewesen. Die Volkskammer bat nun um Verzeihung für „Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“ Konkrete politische Konsequenz sollte u.a. sein, dass jüdische Religion und Kultur gefördert und geschützt sowie Friedhöfe, Synagogen und Gedenkstätten erhalten und gepflegt werden. Auch wenn die deutsche Vereinigung bevorstand, sollte aus symbolischen Gründen noch mit Gesprächen zur Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Israel begonnen werden. Verfolgten Juden sollte Asyl in der DDR gewährt werden[2]. Dies setzten wir auch sehr schnell um. Die Bunderegierung bemühte sich erst, dies zu verhindern – sie wollte jeden Eindruck vermeiden, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Als sie bei uns jedoch auf Widerstand stieß, versuchte sie, es so weit als möglich zu behindern. Doch waren Anfang Oktober 1990, also zum Zeitpunkt der staatlichen Einheit, 2-3000 jüdische Einwanderer in der DDR, viele andere auf dem Weg. Nach der Vereinigung sah die Bundesregierung keine Möglichkeit, diesen Prozess rückgängig zu machen und schuf mit der Regelung sogenannter Kontingentflüchtlinge 1991 eine neue Rechtsgrundlage für die Fortsetzung dieser Einwanderung. So brachten wir als demokratische DDR eine erhebliche Zuwanderung von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Gang – es waren schließlich weit mehr als 200 000. Diese Einwanderung führte zu einem lebendigen und breit gefächerten jüdischen Leben in Deutschland, für das wir dankbar sein können.

Eine im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung besondere Bedeutung hatte jedoch das Verhältnis zu Polen. Auch wenn es in allen Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft in den Ländern Ost- und Mitteleuropas Opposition und Widerstand gegeben hatte, so war der polnische Widerstand seit den 1970er Jahren am breitesten und wohl auch am tiefsten in der Bevölkerung verwurzelt. Um ein Übergreifen auf die DDR-Bevölkerung zu verhindern, scheute sich die SED auch nicht, antipolnische Ressentiments zu schüren. Doch in der DDR gab es eine große Sympathie gegenüber der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, die das kommunistische Regime zum ersten Mal durch Widerstand aus der Gesellschaft heraus wanken ließ. Noch wichtiger als diese historische Verbundenheit war jedoch die notwendige endgültige Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße. Dies bekräftigte die Volkskammer ohne jede Bedingung. „Insbesondere das polnische Volk soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird. Wir bekräftigen die Unverletzbarkeit der Oder-Neiße-Grenze zur Republik Polen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens unserer Völker in einem gemeinsamen europäischen Haus. Dies soll ein künftiges gesamtdeutsches Parlament vertraglich bestätigen.“

Dass im Zuge der deutschen Vereinigung die Endgültigkeit der polnischen Westgrenze vertraglich festgelegt werden musste, ergab sich aus den Nachkriegsregelungen der Alliierten. Im Zusammenhang mit dem Warschauer Vertrag von 1970 hatte das Bundesverfassungsgericht auf die Vorläufigkeit jeder Anerkennung der Grenze bis zur endgültigen friedensvertraglichen Regelung verwiesen, durch die Deutschland dann auch erst souverän würde. Die Anerkennung der Westgrenze Polens durch die Regierung Brandt/Scheel war 1970 noch ein politischer Kraftakt gewesen und auf heftigen politischen Widerstand der Union gestoßen. Diese ablehnende Haltung war auch 1990 im Umfeld von CDU und CSU und in reaktionären Kreisen Westdeutschlands durchaus noch lebendig.

Schon im Februar 1990 hatte Tadeusz Mazowiecki dargestellt, wie er sich ein Prozedere vorstellt, das Polen die notwendige Sicherheit gibt: Die beiden deutschen Staaten sollten mit Polen einen Grenzvertrag ausarbeiten und paraphieren. Dieser sollte dann unmittelbar nach der Vereinigung unterzeichnet und ratifiziert werden. Mit diesem Vorschlag war er schon auf Helmut Kohl zugegangen und hatte akzeptiert, dass erst das vereinte Deutschland die rechtlich bindende, völkerrechtlich wirksame Anerkennung vollziehen kann. Hans-Dietrich Genscher hatte diesen Vorschlag begrüßt und die FDP ihn ausdrücklich zu ihrer Position erhoben. Am 2. März jedoch goss Helmut Kohl noch einmal Öl ins Feuer, als er die Anerkennung der Grenze mit weitergehenden Forderungen verband: Polen sollte erklären, dass sein 1953 von der kommunistischen Regierung ausgesprochener Verzicht auf Reparationen weiterhin gilt. Zum anderen sollten die Rechte der deutschen Minderheit gestärkt werden. Diese zusätzlichen Forderungen führten zu heftigen Debatten im Bundestag am 8. März 1990 und in der Öffentlichkeit. Auch innerhalb der Koalition spitzte sich der Streit zu. Schließlich aber fand sie einen Konsens, keiner der Koalitionspartner wollte die Regierung gefährden. Kohl stimmte dem Plan zu, dass beide deutschen Parlamente, die dann frei gewählte Volkskammer und der Deutsche Bundestag, eine gleichlautende Resolution verabschieden. Darin sollte es – eine Formulierung Genschers vor der UNO aufnehmend – heißen: „Das polnische Volk soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.“

Da eine solche Bekräftigung des politischen Willens aber völkerrechtlich nicht bindend war, reichte der polnischen Seite eine solche Erklärung verständlicherweise nicht aus. Helmut Kohl betrachtete es als das Infragestellen seiner persönlichen Glaubwürdigkeit, wenn der von ihm vorgegebene Weg für nicht ausreichend gehalten wurde, und reagierte gereizt bis beleidigt[3]. Zu einer vertraglichen Festlegung vor der Vereinigung, selbst zu ihrer Vorbereitung, erklärte er sich nicht bereit. Obwohl spätestens seit der Volkskammerwahl im März 1990 offensichtlich war, dass er auch die Bundestagswahl gewinnen würde, wollte er nicht auf diese Wählerklientel verzichten, die in Deutschland noch immer nicht bereit war, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen.

Dass die Haltung von Helmut Kohl vor allem wahltaktisch begründet war, davon war ich damals wie heute überzeugt. Ein Stück nachdenklich macht mich jedoch die Passage seines Briefes an Tadeusz Mazowiecki, den ich erst viel später las. Da schreibt er: „Ich verstehe dabei die politische und psychologische Lage in Polen – und Ihre nicht einfache Situation – voll und ganz. Zugleich bitte ich aber auch die Empfindlichkeit meiner Landsleute zu verstehen, denen in der Stunde der deutschen Einheit ein bitterer, endgültiger Verzicht abverlangt wird. Ich kann und will über diese Gefühle nicht hinweggehen.“[4] Sollte Helmut Kohl wirklich geglaubt haben, dass die Anerkennung der Grenze noch 1990 ein „bitterer, endgültiger Verzicht“ war? Und wenn er das glaubte – welch ein Unterschied ist das zu der Haltung, die Willy Brandt 1970 gegenüber Polen zeigte. Dieser riskierte viel. Helmut Kohl aber war nicht bereit, auch nur ein durchaus geringes Risiko bei der Bundestagswahl einzugehen.

Als die neue Regierung in der DDR im April 1990 ins Amt kam und ich Außenminister wurde, war dies alles schon geschehen. Hans-Dietrich Genscher berichtete mir davon beim ersten Besuch in seinem Haus. Als ostdeutsche Sozialdemokraten hatten wir uns schon sehr früh in aller Klarheit zur Anerkennung der Grenze geäußert, schon in der ersten Erklärung der SDP in der DDR vom 3. Dezember 1989 war diese Position eindeutig gewesen. Hier bestand auch völlige Übereinstimmung mit der West-SPD. Damals hatten wir uns schon kritisch damit auseinandergesetzt, dass Helmut Kohl dieses Thema in seiner 10-Punkte-Erklärung vor dem Bundestag nicht angesprochen hatte. In dieser Frage gab es in der DDR weder mit der Regierung von Hans Modrow noch mit den Blockparteien einen Dissens, die Koalitionsvereinbarung ließ hier nichts offen und die Erklärung der Volkskammer vom 12. April 1990 stellte dies in einen größeren politischen Kontext.

Für mich persönlich war diese Position nicht nur eine politische Selbstverständlichkeit, sondern auch eine wichtige, tief empfundene Botschaft. Im elterlichen Haus hatte ich die Diskussionen um die Ostdenkschrift der EKD mitbekommen, der knieende Willy Brandt 1970 in Warschau gehörte zum festen Bestand der eigenen politischen Identität. Schon als Jugendlicher stand für mich fest – der Verlust der deutschen Ostgebiete war die Folge des verbrecherischen Krieges Deutschlands unter Hitler. Es gehörte zu unserer Verantwortung für den europäischen Frieden, dies zu akzeptieren. Die Anerkennung dieser Grenze im Zuge der deutschen Vereinigung war kein neuer Verzicht, sondern der Vollzug dieser Verantwortung. Polen und alle europäischen Nachbarn sollten sicher sein, dass wir unsere Verantwortung kennen und auch in Zukunft wahrnehmen. Genau das war dann das Anliegen der Volkskammer-Erklärung vom 12. April 1990.

Mir war wichtig, deutlich zu machen, dass wir uns als Deutsche von niemandem erst sagen lassen müssen, wo Deutschland liegt. Wir wollten diese Anerkennung so klar und so fest und so früh wie möglich völkerrechtlich verbindlich vollziehen, ohne jeden Anstoß von außen. Nur so konnten wir erwarten, dass unsere Nachbarn die deutsche Vereinigung begrüßen und die mehr oder weniger latenten Befürchtungen in der polnischen Bevölkerung ausgeräumt werden können. Diese Anerkennung sollte aus unserer Sicht völlig freiwillig geschehen. Jeden Eindruck, dass wir Deutsche zur Anerkennung dieser Grenze gedrängt werden müssten, hielten wir für schädlich. Die Reife der Deutschen sollte sich gerade in der freien Anerkennung der territorialen Integrität ihrer Nachbarn erweisen. Deshalb hielt ich auch die Rede von der Anerkennung der Grenze als „Preis der deutschen Einheit“, die damals von Helmut Kohl und anderen CDU-Politikern gebraucht wurde, für höchst problematisch. Hier war kein neuer Preis zu zahlen, hier galt es, die Folgen des von uns zu verantwortenden Krieges anzuerkennen. In Polen und bei den Nachbarn konnte eine solche Rede vom Preis der deutschen Einheit so gehört werden, dass – sobald wir Deutschen die Einheit haben – eine Diskussion darüber entstehen kann, ob der Preis nicht zu hoch gewesen ist. Auf diese Weise – so war ich überzeugt – konnte man kein Vertrauen schaffen, das wir aber für die Zukunft dem geeinten Deutschland gegenüber für ein wesentliches Gut hielten. Um die Bedeutung dieses Themas und unsere Verbundenheit mit Polen zum Ausdruck zu bringen, entschied ich mich, meine erste Auslandsreise als Minister nach Warschau zu machen. Diese fand am 23. April 1990 statt. Erst am Tag darauf war dann das erste offizielle Treffen mit Hans-Dietrich Genscher, doch hatten wir uns vorher schon privat in seinem Haus bei Bonn getroffen. In Warschau traf ich die wichtigsten Repräsentanten des neuen polnischen Staates – Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, Außenminister Krzysztof Skubiszewski sowie den Präsidenten Wojciech Jaruzelski. Darüber hinaus war mir ein Besuch am Grab des 1984 ermordeten Priesters Jerzy Popiełuszko wichtig. Dieser Mord hatte mich seinerzeit als politisch aktiver Pastor in Mecklenburg sehr betroffen gemacht. Auch ein Treffen mit einem Vertreter der katholischen Kirche sollte zu diesem Blitzbesuch gehören.

Diese hatte ja in Polen – und durch Papst Johannes Paul II. für ganz Europa – eine gewichtige Rolle bei der Überwindung des Kommunismus gespielt. So traf ich den amtierenden Sekretär des polnischen Episkopats Bischof Jerzy Dabrowski. Die Gespräche, insbesondere mit Mazowiecki und Skubiszewski, waren von einer herzlichen Stimmung getragen, repräsentierten wir doch beide demokratische Regierungen, die aus dem Sieg von Freiheit und Demokratie im Jahre 1989 hervorgegangen waren. Gerade Mazowiecki war ja nicht nur ein Zeuge dieser Entwicklungen, sondern ein konzeptioneller Kopf, dessen Bedeutung weit über Polen hinausging.

Einhellig begrüßten die polnischen Partner die Volkskammer-Erklärung vom 12. April 1990 und traten für den „Mazowiecki-Plan“ ein, den ich nicht nur persönlich unterstützte. Ich konnte ihnen mitteilen, dass wir dies auch in der Koalitionsvereinbarung verankert hatten. Darüber hinaus bekräftigten sie die Absicht, sowohl zur Frage der Grenze wie auch zu weiteren Fragen, welche die polnische Sicherheit betreffen, an den 2+4-Gesprächen teilnehmen zu wollen. Auch dies unterstützte ich. Mazowiecki, der sich schon seit zwei Jahrzehnten für den deutsch-polnischen Versöhnungsprozess eingesetzt und auch Kontakte zur „Aktion Sühnezeichen“ in der DDR gepflegt hatte, sprach darüber hinaus notwendige Initiativen in der deutsch-polnischen und polnisch-russischen Aussöhnung an. Er unterstützte auch eine künftige NATO-Mitgliedschaft Deutschlands. Skubiszewski wiederum benannte weitere Problemfelder, die im Zuge der Vereinigung geklärt werden müssten – insbesondere Fragen des Grundgesetzes: Nach der Vereinigung müsse der Artikel 23 gestrichen werden und auch das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht wäre für Polen ein Problem. Auch das Thema der noch ausstehenden Entschädigung polnischer Zwangsarbeiter wurde angesprochen. Dafür hatte ich persönlich größtes Verständnis, konnte aber im Rahmen meines Mandats keinerlei Zusagen machen. Dieser erste offizielle Besuch in Warschau hatte für mich eine große Bedeutung. Mit Tadeusz Mazowiecki verband mich bis zu seinem Tod eine Beziehung von großer Achtung und tiefer Verbundenheit. Zweimal hielt ich eine Laudatio auf ihn, als er in Deutschland mit Preisen gewürdigt wurde[5].

Während des ersten Treffens der Beamten am 14. März 1990 waren auf britischen Vorschlag trilaterale Gespräche auf Beamtenebene zwischen den beiden deutschen Staaten und Polen verabredet worden. Diese begannen in Warschau am 3. Mai, kurz vor dem ersten Außenministertreffen im Rahmen von 2+4 in Bonn. An diesem Tag war 1791 in Polen die erste Verfassung in Europa verabschiedet worden, in welcher die Gewaltenteilung festgeschrieben war. Beim Beamtentreffen wurden die gegensätzlichen Positionen zwischen Polen und der westdeutschen Delegation sehr deutlich. Polen wollte seinen wenige Tage zuvor den beiden deutschen Staaten sowie den Alliierten zugesandten Vertragsentwurf diskutieren, die westdeutsche Seite dagegen nur den vorliegenden Entwurf der Resolution der beiden deutschen Parlamente. Wir erklärten, dass wir grundsätzlich den polnischen Vertragsentwurf unterstützen würden, in dem auch Themen über die Grenzfrage hinaus angesprochen wurden, machten aber den Vorschlag, beides klar zu trennen, einen Grenzvertrag und einen Grundlagenvertrag über die künftigen Beziehungen. Diese Frage sollte dann später noch an Bedeutung gewinnen. Minister Skubiszewski beharrte darauf, dass vor der Vereinigung ein völkerrechtlicher Vertrag abgeschlossen werden müsse. Eine Parlamentserklärung wäre auf diesem Weg ein wichtiger Schritt, aber keinesfalls ausreichend[6]. In zwei weiteren trilateralen Treffen im Mai und im Juni wurden verschiedene Entwürfe zum Prozedere und zu Inhalten eines Grenzvertrages diskutiert – doch wollte Helmut Kohl genau dies nicht, so dass diese Gespräche von der Bundesregierung abgebrochen wurden, obwohl Polen und wir diese für sinnvoll hielten. Am 21. Juni 1990 wurde parallel in der Volkskammer und im Bundestag die Resolution zur Anerkennung der polnischen Westgrenze verabschiedet. Dies war ein starkes öffentliches und internationales Signal – reichte der polnischen Seite jedoch nicht, wie vorher schon angekündigt. Ich traf Krzysztof Skubiszewski anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Görlitzer Abkommens von 1950 in Frankfurt/Oder. Damals hatte die DDR – unter dem Druck der Sowjetunion – die polnische Westgrenze anerkannt. An diesem 4. Juli 1990 trafen wir uns am Flughafen Schönefeld, hatten dort in dem Sonderabfertigungsgebäude noch ein ausführliches Gespräch und fuhren dann gemeinsam mit meinem Wagen nach Frankfurt und auch wieder zurück[7]. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, den Grenzvertrag von dem geplanten Grundlagenvertrag (der später Nachbarschaftsvertrag genannt wurde) abzutrennen.

Aus sehr gegensätzlichen Gründen taten sich sowohl die Bundesregierung wie die polnische Seite damit schwer. Helmut Kohl und insbesondere die CSU wollten lange Zeit möglichst alles in einem Vertrag behandelt wissen, weil er dadurch Zeit gewann, bis die Grenze anerkannt wird, denn solche Verhandlungen würden länger dauern. Polen dagegen neigte dazu, möglichst alle Probleme, eben auch über die Grenzfrage hinaus gehende, so zügig wie möglich zu behandeln. Mein Eindruck war, dass beides gleichzeitig nicht zu haben war und es das vorrangige polnische Interesse sein müsse, den Grenzvertrag so zügig wie möglich abzuschließen. Später folgte Polen dann auch dieser Verhandlungsposition.

Die entscheidenden Beschlüsse wurden dann in Paris gefasst, bei der 3. Runde der Außenminister der 2+4-Gespräche am 17. Juli 1990. Unmittelbar vorher hatte Gorbatschow im Kaukasus die Zustimmung zu zentralen Fragen der Verhandlungen gegeben, insbesondere zur Freiheit des vereinten Deutschland, seine Bündniszugehörigkeit selbst zu entscheiden – was bedeutete, auch NATO-Mitglied zu sein. Die Euphorie war groß.

Die Pariser Verhandlungsrunde brachte in der Grenzfrage den Durchbruch. Der Konsens wurde in fünf Punkten zusammengefasst:

  1. Das vereinte Deutschland sollte die Gebiete der Bundesrepublik, der DDR und ganz Berlins umfassen: Die Außengrenzen des vereinten Deutschlands wären bereits mit dem Inkrafttreten des 2+4-Vertrages endgültig. Sie wären ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.
  2. Das vereinte Deutschland und Polen sollten die zwischen ihnen bestehenden Grenzen in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag bestätigen.
  3. Das vereinte Deutschland werde weder jetzt noch in Zukunft Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten haben.
  4. In der Verfassung des vereinten Deutschland werde es keine Bestimmungen geben, welche diesen Prinzipien entgegenstünden.
  5. Die Vier Mächte würden die Absicht, einen bilateralen Grenzvertrag zu schließen, zur Kenntnis nehmen und erklären, dass mit dessen Verwirklichung der endgültige Charakter der Grenzen des vereinten Deutschlands bestätigt werde[8].

Schnellstmöglich nach der Vereinigung – und der Herstellung der vollen Souveränität Deutschlands – sollte der Grenzvertrag unterzeichnet und vom gesamtdeutschen Parlament ratifiziert werden. Formal hatte sich damit Helmut Kohl durchsetzen können: es gab vor der Einheit keine Paraphierung eines schon ausgehandelten Grenzvertrages. In der Sache aber war die polnische Westgrenze nach der Überzeugung aller damit jedoch besiegelt – und damit dem Wunsch Polens nach Verbindlichkeit noch vor der Vereinigung Rechnung getragen. Polen hatte sich durchgesetzt: Die Westgrenze war sicher, die Alliierten standen dafür ein[9]. Doch war das Drama mit Paris und dem Abschluss der 2+4-Verhandlungen im September noch nicht zu Ende. Am 13. Juli hatte Kohl in einem Brief an Mazowiecki vorgeschlagen, dass der Grenzvertrag innerhalb von drei Monaten nach der Vereinigung abgeschlossen sein sollte. Nun war in Paris beschlossen worden, dass der Vertrag „innerhalb der kürzest möglichen Frist“ unterzeichnet und dem gesamtdeutschen Parlament zur Ratifizierung vorgelegt wird. Darauf bezog sich Tadeusz Mazowiecki in seinem Antwortbrief an Helmut Kohl vom 25. Juli. Er drängte auf Gespräche zur Vorbereitung des Grenzvertrages im September[10]. Dem verweigerte sich Helmut Kohl. Ein Treffen mit Mazowiecki, das dieser angefragt

hatte, kam erst am 8. November 1990 zustande, fünf Wochen nach der Vereinigung. Bedenkt man, dass Mazowiecki in Polen in diesen Wochen heftig unter Druck stand und mitten im Präsidentschaftswahlkampf war – also dringend einen außenpolitischen Erfolg brauchte, war allein diese Terminwahl schon zumindest ein Zeichen fehlender Empathie und Solidarität! In einer Presseerklärung zum Abschluss der 2+4-Verhandlungen hatte ich am 13. September 1990 gefordert, dass unmittelbar nach der Vereinigung der Grenzvertrag unterzeichnet und ratifiziert werden sollte.

Weit problematischer als diese Verzögerung des Treffens aber war die Ankündigung Helmut Kohls, dass der Grenzvertrag nun zwar unterzeichnet werden solle, ratifiziert werde er aber erst gemeinsam mit dem Grundlagen- und Freundschaftsvertrag, der anschließend verhandelt werden sollte. Damit wurde der in Paris beschlossene zügige Abschluss des Grenzvertrages faktisch wieder auf die lange Bank geschoben. Den Vertriebenenverbänden wurde damit drei Wochen vor der Bundestagswahl das Signal gegeben, dass die Grenzanerkennung völkerrechtlich erst gültig werde, nachdem sie die Chance hätten, alle ihre Forderungen gegenüber Polen in die weiteren Vertragsverhandlungen mit Polen einzubringen. Ich gestehe, diese Erklärung ließ mir den Atem stocken. Das war noch einmal eine Ohrfeige für Tadeusz Mazowiecki und Wahlkampf pur.

Am 17. Juni 1991 wurde der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag unterschrieben, ein Vertrag zwischen zwei Ländern, die es vorher so nicht gab: ein junger demokratischer polnischer Staat, der Freiheit und Demokratie selbst erkämpft hatte einerseits, andererseits ein Deutschland, das mit der Vereinigung 45 Jahre nach all den Schrecken des Zweiten Weltkrieges, die es über die Nachbarvölker und gerade auch Polen gebracht hatte, die glücklichste Stunde im 20. Jahrhundert erlebt hatte. Dieser Neuanfang setzte ungeheure Kräfte und Dynamiken frei. Es öffnete sich ein breites Feld von Kooperationen zwischen beiden Ländern, sowohl gesellschaftlich, politisch wie auch wirtschaftlich. Polens tiefer Wunsch, Mitglied von EU und NATO zu werden, wurde insbesondere von Deutschland nachhaltig unterstützt, und zwar sowohl von der Regierung Kohl wie dann ab 1998 auch von der Regierung Schröder. Über viele Jahre wurde immer wieder der Satz ausgesprochen, dass die deutsch-polnischen Beziehungen so gut seien, wie noch nie. Und er stimmte all diese Zeit. Dass dies später nicht mehr so war, hat vielfältige Ursachen, die hier nicht behandelt werden können. Ein Indiz dafür war, dass Polen unter der Regierung der PiS nach jahrelanger Vorbereitung und vielfältigen Berechnungen von Deutschland Reparationen forderte. Dabei wurde der Regierung Mazowiecki vorgeworfen, dass sie im Zuge der Vereinigung Deutschlands die Reparationsfrage nicht erneut aufgeworfen habe. Mit diesem Vorwurf wurde suggeriert, die Regierung Mazowiecki habe die Interessen Polens nicht in ausreichendem Maße vertreten. Zum Abschluss dieses Artikels kann auch dieses Thema nicht umfassend behandelt werden. Ich möchte jedoch ausdrücklich diesem Vorwurf entgegentreten und nur ein Argument hervorheben: Im Februar 1990 war in Ottawa beschlossen worden, für die Behandlung der internationalen Dimension der deutschen Vereinigung nicht mit allen früheren Kriegsgegnern Verhandlungen zu führen, sondern nur zwischen den beiden deutschen Staaten und den Alliierten, den Siegern des Zweiten Weltkrieges, welche nach wie vor „über Deutschland als Ganzes“ zu entscheiden das Recht hatten – beide deutschen Staaten waren bis zu diesem Zeitpunkt nicht völlig souverän und es galt, die Souveränität des vereinten Deutschlands herzustellen. Verschiedene Länder übten Kritik an dieser Entscheidung, hatten doch viele Länder unter Hitlerdeutschland gelitten und vielfältiges Unrecht erfahren. Allein Polen setzte sich nach intensiven Bemühungen Tadeusz Mazowieckis durch und wurde zum Beteiligten dieses zentralen Vertrages zur deutschen Einheit – und dies ausschließlich mit dem Argument, dass Polens Grenze völkerrechtlich genauso offen war wie die deutsche Frage. Beides musste in einem Prozess verbindlich und dauerhaft geklärt werden – und das ging nur mit der Beteiligung Polens. Doch hatte Polen auch nur eine Chance, indem es sich allein auf die Grenzfrage konzentrierte. Kein anderes Land hatte ein solches Problem – und das war von allen anerkannt. Hätte Polen versucht, auch das Thema von Reparationen neu aufzurollen – ein Thema, an dem auch viele andere Staaten Interesse hatten – hätte es die Singularität der eigenen Rolle gefährdet, nämlich wegen der Grenzfrage und ausschließlich wegen dieser (!) an den 2+4-Gesprächen beteiligt zu werden. Insofern entsprach die Begrenzung auf diese Frage in höchstem Maße dem polnischen nationalen Interesse, hätte doch jede Erweiterung des Themas die schließlich glückliche Lösung der endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze gefährdet.

Im Oktober 2023 wurde die PIS nach acht Jahren Regierungszeit abgewählt. Donald Tusk wurde wieder Ministerpräsident, getragen von einer Koalition, welche sich wieder zu einem Player in Europa machte und zu einen Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen bekennt. Damit ist jedoch die Frage nach der deutschen Verantwortung der im 2. Weltkrieg und in den Jahren der deutschen Besatzung verübten Verbrechen nicht vom Tisch. Deutschland bleibt herausgefordert, sich über Wiedergutmachung Gedanken zu machen. So wäre es wichtig, etwas für die letzten überlebenden polnischen Opfer in ihrem hohen Alter zu tun. Ein anderes Feld wäre die finanzielle Beteiligung an der Gestaltung von Gedenkstätten der deutschen Vernichtungslager in Polen, wie es bei Auschwitz schon geschehen ist, etwa für Treblinka. Im nächsten Jahr jähren sich die großen Initiativen der deutsch-polnischen Versöhnungsgeschichte zum 60. Male: die Ost-Denkschrift der EKD mit ihrem Eintreten für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aus dem Jahr 1965 sowie der Brief der katholischen Bischöfe wenige Wochen später mit den berühmten Worten „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“. Aus diesem Anlass sollte etwa das vor Ort breit unterstützte Projekt des israelischen Künstlers Yvell Gabriel finanziert werden, in der Kirche St. Maria auf dem Sande hinter dem Denkmal von Kardinal Kominek drei Fenster als „Vergebungs- und Friedensfenster“ zu gestalten. Kominek war Initiator und wesentlicher Autor dieses Briefes der Bischöfe. Breslau wäre ein guter Ort, dieser prägenden Ereignisse gemeinsam zu erinnern und damit einer angesichts der Schrecken der Vergangenheit erstaunlichen und beispielgebenden Versöhnungsgeschichte über Jahrzehnte.

Im bilateralen Verhältnis wäre es wichtig, eine der letzten Fragen zwischen Polen und Deutschland aus der Kriegszeit zu lösen, der Verbleib der deutschen Kulturgüter, die im 2. Weltkrieg ausgelagert waren und mit der Westverschiebung Polens in polnischen Besitz gerieten. Hier sollten in offenem Geist gemeinsame Lösungen möglich sein, nachdem Gespräche darüber in den 90er Jahren gescheitert sind. Gleichzeitig findet sich in deutschen Museen noch vielfältig polnisches kulturelles Raubgut, das nach Polen zurückgeführt werden sollte. Auch in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gäbe es ein breites Feld von Möglichkeiten, diesen Raum noch viel stärker zu vernetzen und als gemeinsamen Lebensraum an Oder und Neiße zu gestalten.

Die zentralen Herausforderungen jedoch liegen in einer Gestaltungspartnerschaft für Europa und die gemeinsamen Sicherheitsinteressen im Rahmen der Nato. Der Wiederaufbau der Ukraine und deren Integration in die Europäische Institution sind ein weites Feld für strategische Kooperation. Doch auch da, wo Polen und Deutschland verschiedene Wege gehen, wie im Energiesektor, wird eine enge Abstimmung und Kommunikation nötig sein.

Die Stärkung der östlichen Region der Nato, gemeinsam mit den baltischen Staaten und Rumänien, stellt eine wesentliche Aufgabe dar, der sich Polen strategisch stellt. Sich hier zu beteiligen und gemeinsame Initiativen zu entwickeln ist von großer Bedeutung. Zu denken wäre z.B. an gemeinsame Rüstungsprojekte, enge militärische Kooperation etwa im Bereich der Ausbildung und auch das Aufstellen einer wirklich einsatzfähigen gemeinsamen deutsch-polnischen militärischen Einheit.

 

Dieser Beitrag bildet das Schlusskapitel des jüngst erschienenen Buches Deutschland und Polen. Die Geschichte der amtlichen Beziehungen.


[1] Siehe dazu meine Erinnerungen: Markus Meckel: Zu wandeln die Zeiten, Leipzig 2020.

[2] Die Initiative dazu ging schon vom Runden Tisch aus. Dort hatte die die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM)“ am 12. Februar 90 einen Antrag zur „Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR“ eingebracht. Dieser nahm einen entsprechenden Aufruf des „Jüdischen Kulturvereins in der DDR“ auf und wurde am gleichen Tag einstimmig beschlossen. (Dok Rd. Tisch 12. Sitzung, Vorlage 12/33). Darin heißt es: „Seit Wochen hören wir von antijüdischen Pogromandrohungen in verschiedenen sowjetischen Städten. Antisemitische und nationalistische Kräfte haben sich organisiert und bedrohen das Leben von Juden. Diese Entwicklung bedroht nicht nur Menschenleben, sie stellt auch den Erfolg der Perestrojka in der Sowjetunion in Frage.“

[3] Siehe dazu die Bemerkung Horst Teltschiks, als Francois Mitterand sich in der Grenzfrage nach dem Besuch Mazowieckis in Paris auf die Seite seines polnischen Gastes stellt und diesen unterstützte. „Kohl reagiert deutlich verärgert und enttäuscht. Die Grenzen der Freundschaft werden für mich sichtbar“ Horst Teltschik: 329 Tage – Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 171.

[4] Dokumente zur Deutschlandpoliꢂk, Deutsche Einheit, München 1998, S. 1008

[5] Am 7. November 1999 zur Verleihung des Lothar-Kreyssig-Preises in der Johanneskirche in Magdeburg; in: Markus Meckel: Selbstbewusst in die Deutsche Einheit, Berlin 2001, S. 237-244, sowie am 30. November 2009 zur Verleihung des Viadrina-Preises an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

[6] Siehe dazu den Drahtbericht des Gesandten Johannes Bauch der westdeutschen Botschaft: Die Einheit – Das Auswärtiꢂge Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, Göttingen 2015, S. 453–458.

[7] S. Depositum Markus Meckel im Archiv der Bundessꢂtiftung Aufarbeitung, Mappe 622; s. auch Depositum Ulrich Albrecht daselbst, Nr. 9

[8] Weidenfeld: Außenpolitik für die deutsche Einheit, S. 503. Die französische Präsidentschaft gab zu Protokoll:

„Die Vier Mächte erklären, dass der Charakter der Grenzen Deutschlands durch keine auswärtigen Umstände oder Ereignisse in Frage gestellt werden kann.“, so die Übermittlung durch die französische Botschaft vom 3.7.90, vgl. Hans Misselwitz: In Verantwortung für den Osten – Die Außenpolitik der letzten DDR-Regierung und ihre Rolle bei den „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen; in: Elke Bruck/ Peter M. Wagner (Hrsg.), Wege zum „2+4“-Vertrag – Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, S. 63.

[9] Genau das aber war der Pferdefuss an dieser Lösung. Das war auch Hans-Dietrich Genscher bewusst, der deshalb darauf bestand, dass Polen zu Protokoll gibt: die Alliierten wären nicht als Garantiemächte für die Grenze zu verstehen. In einem Brief vom 31. Juli 1990 bedankte sich Skubiszewski bei mir für mein Engagement für die polnischen Anliegen. Gleichzeitig begründete er noch einmal seine Entscheidung von Paris. Depositum Markus Meckel, Mappe 622.

[10] Der Briefwechsel in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit, S. 1339f. und 1418–1421.

Markus Meckel

Markus Meckel

Theologe und ehemaliger Politiker (SDP, SPD). Von 1990 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, zuvor von April bis Oktober 1990 Mitglied der einzigen frei gewählten Volkskammer und von April bis August 1990 Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR.

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