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Die Polen wundern sich, dass die Deutschen einen humorvollen, großartigen Film machen können

Gespräch über das deutsche Kino der Gegenwart mit Ewa Fiuk, Filmwissenschaftlerin und Autorin

 

Natalia Prüfer: Wir treffen uns am Eröffnungstag der Berlinale, des größten Filmfestivals, also werden wir natürlich über das deutsche Kino sprechen. Meines Erachtens sind Sie gegenwärtig die bekannteste Person, die sich mit der Erforschung des deutschen Kinos sowie mit seiner Förderung in Polen beschäftigt. Sie sind als Wissenschaftlerin im akademischen Bereich tätig, schreiben Bücher, führen aber auch Interviews mit Regisseuren, sind bei Filmfestivals aktiv dabei, erzählen hochinteressant über Filme. In Polen gibt es wenige Personen, die sich mit Ihrem Thema auseinandersetzen. Ist das ein Nischenbereich?

Ewa Fiuk: Auf der akademischen Ebene gehöre ich in der Tat zu einem überschaubaren Personenkreis, ebenso, was die Anzahl von Publikationen und Monografien zu dem Thema angeht. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen bereits verschiedene Epochen des deutschen Kinos; ich habe mir das deutsche Kino der Gegenwart zu eigen gemacht. Meine Kolleginnen und Kollegen sind für andere Zeitabschnitte zuständig, und so forschen Professor Adam Gwóźdź und Professor Tomasz Kłys seit vielen Jahren erfolgreich zu früheren Perioden des deutschen Kinos. Unter jungen Forschenden findet man unter anderem Olga Wesołowska oder Jakub Gortat. Darüber hinaus arbeitet Professor Andrzej Dębski vom Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław zu diesem Thema. Es gibt mehrere interessante Initiativen, um den deutschen Film populär zu machen, wie die Deutsche Filmwoche. Früher wurde sie in mehreren polnischen Städten veranstaltet, heute findet die Filmwoche nur an einigen wenigen Orten statt. Das Festival wird seit etlichen Jahren mit Erfolg von Renata Kopyto vom Nürnberger Haus in Krakau, Renata Prokurat vom Goethe-Institut in Warschau und Michał Tomiczek vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Breslau organisiert. Sie zeigen dem polnischen Publikum oft die besten und wichtigsten deutschen Filme. Die Zuschauenden können sich auf diese Weise mit dem deutschen Kino vertraut machen, sich daran gewöhnen. Es ist nämlich gar nicht so selbstverständlich, dass dieses Kino unsere Herzen sofort erobert, wie das amerikanische oder französische Kino es tun. In Polen gibt es längst einige Personen, deren viel daran liegt, das deutsche Kino zu fördern, nicht nur ich.

Woher rührt das Interesse am deutschen Kino? Das ist doch ein kleines Spezialgebiet. Wie kam es, dass Sie sich darin so gut zurechtfanden?

Als Jugendliche verbrachte ich mehrere Jahre in Deutschland, dort schloss ich das Gymnasium ab. Nach Polen bin ich dann zurückgegangen mit der Erkenntnis, wie gut man gleichzeitig in zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei soziokulturellen Identitäten funktionieren kann. Ich habe Germanistik studiert, danach Filmwissenschaft. Aus den beiden Leidenschaften, Deutschkunde und Kino entwickelte ich ganz einfach den Plan, beide zu verbinden und sich damit zu beschäftigen. Übrigens gab mir mein Doktorvater, Professor Andrzej Pitrus einen ähnlichen Hinweis; er legte mir nah, das deutsche Gegenwartskino unter die Lupe zu nehmen. Und so geschah es dann.

Und was meinen Sie, was ist in Polen weniger massentauglich: das deutsche Kino oder die deutsche Literatur?

Meinem Eindruck nach wohl das Kino. Ich bin mir gewisser kultureller Gründe bewusst, warum in meinen Augen die deutsche Literatur bekannter ist, insbesondere Bücher, die zur Weltklassik gehören. Einer davon ist das auf die Literatur fixierte Germanistikstudium. Die Studierenden haben Unterricht in Literatur, sie bekommen eine Literaturliste, die sie abarbeiten. Meiner Ansicht nach sind im Studienplan kaum andere Medien vorhanden. Deutsche Filme werden überhaupt nicht wahrgenommen. Das polnische germanistische Milieu neigt womöglich dazu, sich mit der Literatur als höherer Kunst zu befassen; das Kino wird immer noch anders eingeordnet, mehr als Popkultur und nicht als Forschungsobjekt.

Verlassen wir jetzt den akademischen und germanistischen Kreis. Woher soll der durchschnittliche polnische Rezipient eigentlich Informationen über das deutsche Kino gewinnen? Sie erwähnten die Deutsche Filmwoche, gibt es noch andere Quellen?

Die Großstädte haben hier einen gewissen Vorteil. Ich denke da beispielsweise an Filmfestivals: die Breslauer Nowe Horyzonty (Neue Horizonte) oder andere mehr. Es ist nicht gesagt, sie würden das deutsche Kino fördern, dennoch haben sie in ihrem Angebot deutsche Filme. Die Organisatoren suchen neue Titel für das Festivalprogramm aus oder zeigen Klassiker des deutschsprachigen Kinos, zum Beispiel die Filme von Wim Wenders, Michael Haneke und anderen. Der einzige verfügbare Informationskanal außerhalb der großen Städte sind die Streamingplattformen, wo überraschend viel angeboten wird, sowohl Filme als auch Serien. Streamen kann man solche wunderbaren Serien wie „Babylon Berlin“ oder „Dark“, daneben hervorragende Filme wie „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ und „Nebenan“. Die Auswahl ist hier tatsächlich größer als im Kino. Die Filmverleiher haben wahrscheinlich Hemmungen, was das deutsche Kino betrifft, ähnlich wie das polnische Fernsehen. Eine Ausnahme wird nur dann gemacht, wenn ein deutscher Film einen Preis bei einem wichtigen europäischen Festival bekommt, oder für den Oscar nominiert wird. Als ob eine Auszeichnung von den Amerikanern oder Franzosen für die polnischen Filmverleiher ein Garant für Qualität wäre. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist der Film „Toni Erdmann“ in der Regie von Maren Ade von 2016. Alle in Polen waren überrascht, dass die Deutschen einen so humorvollen, großartigen Film machen können.

Vor kurzem war ich Co-Moderatorin bei einer Veranstaltung des Deutschen Polen-Instituts in der Villa Decius in Krakau. Es ging um das heutige gegenseitige Interesse für den Kulturbereich unter Polen und Deutschen, oder eher um dessen Abwesenheit. Einer der Referenten, der Schriftsteller und Übersetzer Lothar Quinkenstein nannte dieses Verhältnis „gutmütige Gleichgültigkeit, freundliche Arroganz“[1]. Will heißen, wir interessieren uns einfach nicht füreinander, ohne dabei feindselig gegenüberzustehen. Wären Sie mit dieser Behauptung einverstanden, in Anbetracht der polnisch-deutschen Beziehungen im Bereich Film?

Ja, allerdings ist es meiner Meinung nach ein Phänomen, das sich überall zeigt, nicht nur zwischen den Polen und Deutschen, sondern ebenso zwischen den anderen Nachbarn. Die polnisch-deutschen Beziehungen sind natürlich geschichtlich belastet, und darauf konzentrieren wir uns nun mal. Wir erwarten wahrscheinlich einiges mehr, hinsichtlich der schwierigen und schmerzlichen Vergangenheit. Unter Umständen ist das eine weitreichende Zeiterscheinung. In Polen werden halt nicht viele deutsche Filme gezeigt, aber in Deutschland sind es noch weniger polnische Filme, die ins Kino kommen. Und obwohl Filmkooperationen realisiert werden, gibt es dabei kaum polnisch-deutsche Themen. Seit Anfang der 1990er Jahre bis 2020 war die Zahl der Kooperationen in jedem Jahrzehnt fast gleich: 17–15–17. Seit Ende der 1980er Jahre wurden Filme über polnische Migranten gedreht, in denen polnische Schauspieler wie Mirosław Baka und Cezary Pazura spielten. Ich denke hier an solche Produktionen wie „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“, „Ostkreuz“, „Engelchen“ und „Zutaten für Träume“. Beide Schauspieler standen sinnbildlich für die Figur eines polnischen Migranten, erst später kamen Frauenfiguren dazu. In den Rollen der Migrantinnen schlüpften zum Beispiel Grażyna Szapołowska (im Film „Die Nachbarinnen“) oder Agata Buzek („Valerie“). Nachdem Polen in die Europäische Union eingetreten war, konnte man ein größeres Interesse an Polen im deutschen Film beobachten, nur die Schwerpunkte lagen dann auf anderen Themen. In den 1990er Jahren wurde Polen als ein exotisches, fremdes Land gezeigt, ganz anders als Deutschland. In der Zeit rund um den EU-Beitritt wurde hingegen das gleiche Polen in den Filmen als ein Land dargestellt, das Deutschland sehr ähnlich ist. Dieses Element des Andersseins wurde allmählich verdrängt, man unterstrich die Ähnlichkeiten, etwas in der Landschaft und Architektur.

Da wir nun über die polnisch-deutschen Beziehungen im Filmbereich sprechen, wollte ich fragen, ob der Zweite Weltkrieg, 80 Jahre nach dessen Ende, nach wie vor ein Thema für deutsche Künstler ist. Beschäftigt diese Thematik immer noch die nachfolgenden Generationen?

Der Zweite Weltkrieg, das Dritte Reich, der Holocaust, sind fortwährend im Kino anwesend, wobei dies nicht unbedingt auf die Darstellung der polnisch-deutschen Beziehungen abzielt. Die polnischen NS-Opfer und Polen als vom Krieg gezeichnetes Land spielen in der Erinnerung der Deutschen keine große Rolle. So ist das, ob uns das gefällt oder nicht. Ich selbst glaube, dies sollte anders laufen: Es wäre vielleicht von Vorteil, auf der politischen und kulturellen Ebene die Berührungspunkte aufzuzeigen. Produziert werden weiterhin viele Filme über das Dritte Reich, bloß die polnische Geschichte kommt darin kaum vor. Der Film von Robert Thalheim „Am Ende kommen Touristen“ von 2007, wo polnische Motive sehr stark vertreten sind, zählt hierbei zu den Ausnahmen. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Deutschen, der durch Zufall nach Oświęcim kommt, um im Museum Auschwitz-Birkenau sein Zivildienst zu leisten. In diesem Film gibt es aber noch einen anderen Erzählstrang, welcher in den deutsch-polnischen Beziehungen und deren filmischen Darstellungen ein Klassiker ist, nämlich die Liebe eines Deutschen zu einer Polin. Dieses romantische Motiv kommt in fast jedem Film zu deutsch-polnischen Fragen vor.

In ihrem neuen Buch schreiben Sie sehr viel über die deutsch-polnischen Filmbeziehungen. Darüber würde ich jetzt gerne sprechen, weil Sie dieser Problematik ein ganzes, sehr interessantes Kapitel widmen: „Vom Osten nach Westen – polnische Spuren auf der Leinwand und abseits davon“. Kommen wir also zu Ihrer neusten Publikation „Film jako przestrzeń transkulturowa. Współczesny przypadek niemiecki“ (Film als transkultureller Raum. Der aktuelle deutsche Fall). Im Mittelpunkt Ihrer früheren Arbeit „Inicjacje, tożsamość, pamięć“ (Initiationen, Identität, Erinnerung) stand das deutsche Kino von der Wende bis 2010, das neue Buch beinhaltet die Zeit 1990 bis 2024. Was ist denn in diesen letzten Jahrzehnten im deutschen Kino passiert, dass zu diesem Thema eine über 500 Seiten lange wissenschaftliche Arbeit erschienen ist?

Ich suchte nach Inspiration, nach einem neuen Forschungsobjekt, und gleichzeitig bemerkte ich (da ich ständig im Kontakt mit den Deutschen bin), wie viel sich in der Gesellschaft und im Kino in den Jahren geändert hatte. Diese Veränderungen traten zusammen mit der Umgestaltung der Gesellschaft ein – von einer migrantischen in eine postmigrantische. Dazu kamen offizielle Maßnahmen der Politik, die Deutschland als ein Einwanderungsland anerkannte. In der Gesetzgebung wurden Änderungen vorgenommen, das Staatsangehörigkeitsgesetz ist heute ganz anders. Alle diese Veränderungen führten zu einer Umformung der deutschen Gesellschaft und damit auch der Filmkultur. Daraufhin gab ich das nationale Leitbild auf und ergriff die transkulturelle Sichtweise.

Erklären wir nun, was „Film als transkultureller Raum“ bedeutet. Transkulturell, was heißt das?

Die Transkulturalität ist eine ziemlich neue Kategorie. Früher sprachen wir von Multikulturalität oder Mehrkulturalität, was der Beschreibung einer Gesellschaftsstruktur diente; eine analytische Kategorie in der Kulturwissenschaft war die Interkulturalität, die sich auf das Leben zwischen den Kulturen bezog. So wurde damals geforscht und erläutert. Später begann man, anders über das Thema nachzudenken. Hier tangieren wir die Postmigration, den Moment, wo die Kinder und Enkelkinder der Migranten ihre Subjektivität innerhalb der Gesellschaft erlangen. Die Vorsilbe „trans“ bedeutet nicht „dazwischen“ sein, sondern gleichzeitig in zwei oder sogar drei Kulturen. Nicht nur das, sie ist gleichzusetzen mit Bewegung, Veränderung, Strömung und nicht mit Stillstand. Man kann eine kulturelle Identität haben, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt, darüber schreibe ich in meinem Buch. Die Kategorie der Transkulturalität habe ich innerhalb der geschichtlichen Ordnung definiert und präzisiert. Ich vergleiche die früheren Zeiten, ab den 1960er Jahren, als die ersten Migranten aus der Türkei, Italien und Portugal kamen mit der heutigen Zeit und sehe, wie sich alles wandelt und ändert. Ich benutze den Terminus Transkulturalität, um ihn zu normalisieren. Im Buch kommen meine Ansichten nicht direkt zum Ausdruck. Nach der Lektüre des Textes ist es jedoch einfach festzustellen, in welche Richtung ich gehe: eines offenen, antiessentialistischen Kulturbegriffs. Ich würde mich freuen, wenn die Transkulturalität als eine gewöhnliche Norm gelten würde, ich verweise darauf, dass es Zeit sei, dies zu akzeptieren, so ist nämlich die deutsche Gesellschaft. Und übrigens nicht nur die deutsche.

Na gut, aber jetzt erscheint am Horizont die nationalistische AfD-Partei, und die ist mit einem solchen Narrativ überhaupt nicht einverstanden. Welchen Einfluss können, oder haben bereits heute die populistischen, antimigrantischen Einstellungen auf das deutsche Kino? Können sie ihm schaden? Es nationalisieren?

Das ist eine interessante Frage. Im Vergleich zu anderen europäischen Kinematographien reagiert das deutsche Kino sehr schnell auf sozialpolitische Veränderungen. Ich bin selbst gespannt darauf, wie die Reaktion in diesem Fall aussehen wird. Ob und wie sich die Kunstschaffenden mit diesem Thema auseinandersetzen werden. Ich glaube, es wird keine systemischen Änderungen geben, welche die Filmemacher beeinflussen könnten. Ich hoffe, die Deutschen sind immun genug, um sich einer politischen Steuerung nicht zu unterwerfen, und das Kino seine Autonomie bewahrt.

Das Kino wird also nicht von der Transkulturalität zum Nationalismus zurückkehren?

Meines Erachtens wird das nicht mehr möglich sein. Man kann die Augen vor der Realität verschließen und so tun, als ob es etwas nicht gäbe. In verschiedenen Teilen der Welt kann von einer monolithischen Gesellschaft gar keine Rede mehr sein. Die Deutschen betrifft das seit vielen Jahrzehnten und das lässt sich nicht rückgängig machen, weil es ein natürlicher Prozess ist. Die neuen Generationen transkultureller Deutscher werden geboren, die nicht eine, sondern mehrere Identitäten haben.

Dennoch kommt das Thema Rassismus in der Filmbranche vor. Sie erzählen unter anderem über einen Film von 2023, in dem übrigens eine polnische Migrantin eine Rolle spielt, ich meine den Streifen „Lehrerzimmer“. Regie führte İlker Çatak, in Berlin geborener Sohn türkischer Migranten. Sein fremdklingender Name wurde überall weggelassen, sogar als der Film eine Oscar-Nominierung für nicht-englischsprachige Produktionen bekam. Der Regisseur veröffentlichte ein mutiges Protestschreiben; darin schreibt er über die Diskriminierung, die er als kleiner Junge und später als Künstler in Deutschland erlebte[2]. Rassismus ist Alltag, wenn es um führende Positionen, wissenschaftliche Titel oder eben um die Arbeit beim Film und im Theater geht. Wie würden Sie das kommentieren?

Vor einigen Jahren fanden bei verschiedenen Filmveranstaltungen Diskussionen zu diesem Thema statt. Veröffentlicht wurden Studien zur Beteiligung von Personen anderer Hautfarbe, anderen Glaubens, anderer Herkunft an der Filmindustrie. Das betraf ebenfalls Personen mit Behinderungen. Aus den Gutachten geht hervor, dass die Situation nicht die beste ist. In der Filmindustrie haben Menschen das Gefühl, diskriminiert zu werden. Um die Mitarbeitende besser zu schützen und die Gleichstellung zu erreichen gab es einen Vorschlag, das Gesetz zur Kinematographie zu ändern, doch soweit ich weiß, ist bis heute nichts passiert. Die Filmschaffenden reichten ein offizielles Schreiben in dieser Angelegenheit ein, mit mehreren Ideen zu Verbesserung der Arbeitsbedingungen, auf die eine Menge Filmleute warten…

Und MeToo, eine soziale Bewegung mit dem Ziel, auf sexuelle Belästigung und Gewalt, unter anderem in der Filmbrache aufmerksam zu machen – hat sie im deutschen Kino Probleme aufzeigen können?

Zuweilen schon, die Resonanz ist jedoch nicht so groß wie in Amerika. Letztens wurde mehrfach über Til Schweiger berichtet, ein sehr bekannter Schauspieler, Regisseur und Produzent. Veröffentlicht wurden Informationen über seine Alkoholexzesse auf dem Filmset, über seinen hässlichen Umgang mit den Mitarbeitenden, Konflikte mit sexistischem Hintergrund. Allerdings wird darüber nicht so ausführlich berichtet wie in den USA.

Vielleicht sollten wir uns einem leichteren Thema zuwenden. Das deutsche Kino der Gegenwart richtet sich oft an Kinder und Jugendliche, was irgendwie außergewöhnlich ist. Denn diese Produktionen sind meistens groß angelegt und mit hohem Budget ausgestattet. Wie bewerten Sie solche Filme und gibt es im deutschen Kino so was wie ein Narrativ über die deutsche Kindheit?

Ja, das stimmt, heutzutage werden zahlreiche Filme für Kinder und Jugendliche gedreht. Sie sind oft wirklich sehr schön und verkaufen sich in der ganzen Welt, auch in Polen. Nur hat der polnische Zuschauer keine Ahnung, dass er einen deutschen Film sieht, weil immer eine polnische Synchronfassung vorbereitet wird. Zudem werden viele Coming of Age-Filme über das Erwachsenwerden gemacht. Dieses interessante Filmgenre geht zurück auf die deutsche Literatur mit ihrem „Bildungsroman“. Mehr darüber habe ich in meinem Buch geschrieben „Inicjacje, tożsamość, pamięć“ (Initiationen, Identität, Erinnerung). Meine dort formulierte These heißt: Nach der Wende suchten die Deutschen auf verschiedenen Ebenen nach einer neuen Identität für sich, und so wurde der Coming of Age-Film zu einer unterbewussten Umsetzung jener Suche. Das Coming of Age eines Protagonisten sollte den Beginn, den neuen Lebensabschnitt wiedergeben. Diese Filme werden nach wie vor produziert, darunter solche wie „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, „Der Junge muss an die frische Luft – Meine Kindheit und ich“ oder eine bezaubernde, einige Jahre ältere Komödie „Wer früher stirbt ist länger tot“, komplett im bayerischen Dialekt gedreht. Überdies gibt es mehrere Beispiele von Filmen über Kinder, die nicht unbedingt nur für Kinder bestimmt sind. Einer dieser Produktionen ist „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, von Caroline Link, über ein kleines jüdisches Mädchen und seine Kindheit in der Nazi-Zeit. In den Coming of Age-Filmen wird oft das Schicksal der Kinder zur Erzählung über die deutsche Geschichte. Der von mir genannte Film „Meine Kindheit und ich“ nach einem Roman von dem Komiker und Schauspieler Hape Kerkeling ist dafür ein gutes Beispiel.

Und wie würden Sie als Autorin zum Lesen von „Film als transkultureller Raum“ ermutigen?

Es ist ein Buch, aus dem man vieles über die Veränderungen im deutschen Film erfahren kann, darüber, was darin interessant ist und was davon gar nicht nach Polen kommt. Ich beschreibe außerdem die Gründe dafür, warum jene und nicht andere Filme gedreht werden, und welche Parallelen zwischen der polnischen und deutschen Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Filmkultur sichtbar werden. Dieses Buch hilft, Deutschland als Ganzes zu entdecken, seine Kultur, seine Mentalität; es ist ein Land, das sich in den letzten Jahren enorm verändert hat.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

[1] Gesprächsaufzeichnung: Radar – relacje polsko-niemieckie; polska i niemiecka literatura

[2] İlker Çatak: Zu früh gefreut | ZEIT ONLINE


 

Ewa Fiuk – Filmwissenschaftlerin, Assistenzprofessorin am Institut für Kunst der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Redakteurin der Zeitschrift „Kwartalnik Filmowy“. 2008–2010 Dozentin an der Päpstlichen Universität Johannes Paul II. in Krakau (Fakultät für Philosophie, Ethik und Kulturwissenschaft); 2010–2018 Dozentin im Institut für Pädagogik der Jagiellonen-Universität (philosophische Fakultät). Autorin folgender Monografien: Inicjacje, tożsamość, pamięć. Kino niemieckie na przełomie wieków (2012), Obrazo-światy, dźwięko-przestrzenie. Kino Toma Tykwera (2016) i Film jako przestrzeń transkulturowa. Współczesny przypadek niemiecki (2024) sowie mehrerer Publikationen, darunter Übersetzungen aus dem Deutschen in Sammelbänden und Zeitschriften. Ideengeberin und Organisatorin der Filmschau „Bilder der Geschichte“ mit deutschen Filmen zur Geschichte Deutschlands und Europas, veranstaltet 2007–2015 in Krakau, Breslau, Katowice und Gliwice. Sie arbeitet mit Kultur und Filmkunst fördernden Institutionen und Organisationen zusammen, u.a.: Goethe Institut, Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław sowie dem Nürnberger Haus in Krakau.

Natalia Prüfer ist Theaterwissenschaftlerin, freiberufliche Journalistin und Übersetzerin.

 

 

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