Die ersten Wochen der neuen Amtszeit des „unorthodoxen“ Präsidenten Donald Trump haben Europa und seine Führungskräfte unmissverständlich in eine ernste Zwickmühle gebracht. Denn er zwingt uns, grundlegende Fragen zu stellen: Wie geht es weiter mit der Ukraine und sogar mit der Europäischen Union (EU) als Integrationsprojekt? Natürlich sollte man im Bündnis mit Amerika bleiben, dem nach wie vor stärksten Akteur der Welt – aber zu welchen Bedingungen? Auch das ist eine entscheidende Frage.
Wir befinden uns an einem strategischen Scheideweg. Nach über drei Jahrzehnten strategischen Schlummerns muss Europa aufwachen, sich neu definieren und in den veränderten Bedingungen zurechtfinden. Denn die Jahre unbeschwerter Glückseligkeit sind offensichtlich vorbei. Zunächst mussten wir aus Notwendigkeit eine unserer wichtigsten Energiequellen schließen – den billigen russischen Markt. Und nun droht Trump, uns den äußerst komfortablen Sicherheitsschirm zu entziehen. Es gibt keine Gewissheit mehr darüber, ob die Amerikaner uns nicht nur weiterhin verteidigen werden, sondern sogar, ob sie sich nicht gänzlich aus Europa zurückziehen.
Mars und Venus
In den vergangenen Jahrzehnten blühte Europa auf, entwickelte sich, wurde wohlhabend und lebte wie die Made im Speck. Heute jedoch, angesichts der beispiellosen Herausforderungen, die Trump und sein ihm vollkommen untergeordnetes Team aufwerfen, wird deutlich, dass die EU und der gesamte Kontinent zwar reich sind, aber im Grunde wehrlos. Die bereits stark skizzierte amerikanische Neuausrichtung der Beziehungen zu Russland sowie die schon in Trumps erster Amtszeit wiederbelebte Großmachtpolitik (hard power) drohen erneut, ähnlich wie im 19. Jahrhundert, zu einem Konzert der Mächte zu führen.
Die EU hingegen ist eine normative und höchstens wirtschaftliche Macht – ohne jegliche Merkmale harter Stärke. Die Thesen von Robert Kagan vom Beginn dieses Jahrhunderts haben sich bestätigt: In seinem scharfsinnigen Essay Of Paradise an Power trennte er deutlich beide Seiten des Atlantiks. Er argumentierte, dass „die Amerikaner vom Mars kommen“, weil sie auf (nackte) Macht setzen, denn – so schrieb er – „in ihrer Wahrnehmung teilt sich die Welt in Gute und Böse, Freunde und Feinde… Amerikaner ziehen Zwang der Überzeugung vor, setzen eher auf Sanktionen als auf Anreize, den Stock statt auf die Karotte.“ Dieses Vorgehen sehen wir bei Trump wie auf dem Präsentierteller.
Die Europäer hingegen kommen von der Venus, denn sie setzen auf Diplomatie, Überzeugungskraft, Normen und Abkommen. Mit der Nutzung externer Schutzschirme – amerikanischer Sicherheit, russischer Rohstoffe und chinesischer Warenlieferungen – sind wir reich geworden, aber leider auch wehrlos. Und nun stehen wir alle in Europa, ebenso wie unsere politischen Eliten, vor existenziellen Herausforderungen. Wenn wir uns und unsere Interessen – individuell und kollektiv – verteidigen wollen, müssen wir unsere Verhaltensweisen und die Mechanismen, die uns seit über drei Jahrzehnten steuern, tiefgreifend überdenken. Denn erneut ist es Amerika, das als Katalysator wirkt.
Damals, nach dem großen Triumph des Westens und seiner Werte – den Francis Fukuyama mit dem berühmten, wenn auch irrtümlichen Begriff des „Endes der Geschichte“ definierte –, sahen wir keine Alternative zur westlichen Dominanz in nahezu jeder Hinsicht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung der bipolaren (kalten) Weltordnung sowie der Implosion eines der Machtpole – deren Auswirkungen wir bis heute spüren, unter anderem in der Ukraine – entstand quasi automatisch die einzige, in ihrer Größe, Reichweite und Macht beispiellose Supermacht: die USA. Damit trat auf der internationalen Bühne das auf, was Zbigniew Brzeziński in seinem ebenso scharfsinnigen Werk Die einzige Weltmacht als das „unipolare Moment“ beschrieb – eine Phase vollständiger amerikanischer Vorherrschaft.
Zwei amerikanische Pakete
Damals diktierten die USA der postkommunistischen Welt – aber auch der sich damals auf dem Weg der europäischen Integration befindlichen EU (seit dem Vertrag von Maastricht) – zwei Pakete. Das erste war wirtschaftlicher Natur, neoliberal in Geist und Buchstaben, fast ausschließlich auf den Markt gestützt und mit einer minimalen Rolle des Staates in der Wirtschaft. Dieses Modell wurde von Kritikern wie Joseph Stiglitz oder Branko Milanović als „Washington-Konsens“ bezeichnet – oder gar als „Marktfundamentalismus“.
Dem amerikanischen ideologischen und programmatischen Diktat, das Margaret Thatcher geschickt mit dem Begriff TINA (There Is No Alternative) auf den Punkt brachte, widersprach nicht einmal die Russische Föderation unter Boris Jelzin. Lediglich China stellte sich gegen die Alternativlosigkeit des „Endes der Geschichte“ – mit den heute bekannten Folgen.
Die damals aufstrebende EU kodifizierte im Juni 1993 die amerikanischen Anforderungen als sogenannte Kopenhagener Kriterien, die von da an ihr kognitives und axiologisches Fundament bildeten. Dazu gehörten: liberale Demokratie (also das aus den USA stammende System der Gewaltenteilung und gegenseitigen Kontrolle – checks and balances), Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft (also der „Washington-Konsens“) sowie Minderheitenrechte, wie auch immer sie damals verstanden wurden (der Begriff LGBTQ war damals noch nicht gebräuchlich). Dies waren auch die grundlegenden Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder und bildeten eine damals weit verbreitete Definition der EU als „Wertegemeinschaft“.
Der Washington-Konsens wurde in den Jahren 2008–2010 durch die große Finanz- und Wirtschaftskrise stark infrage gestellt, die in der EU mit dem Begriff Grexit (also der drohende Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone und sogar aus der EU) und dem Kürzel PIGS (Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) für die Schuldenkrise der Mittelmeerländer (die auch Frankreich stark belastete) einherging. Der Neoliberalismus führte entgegen den Versprechungen nicht zu einem Rückgang der Ungleichheiten, sondern zu deren Zunahme und neuen Spaltungen – sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen. Dennoch wurden die Kopenhagener Kriterien nicht geändert – und sie gelten bis heute. Genau das beginnt nun, sich zu rächen.
Die konservative Revolution
Denn heute greift Donald Trump alle verbleibenden Elemente des ultraliberalen Pakets an. Zwar lässt er die Marktmechanismen für die um ihn versammelten Großkonzerne – die Big Techs – unangetastet, doch nach außen droht oder verhängt er zusätzliche Zölle, Tarife und Handelsbarrieren und setzt auf Isolationismus und Protektionismus. Dabei trifft er die Interessen seiner größten Handelspartner – Kanada, Mexiko, China und die EU –, mit denen die USA das größte Handelsdefizit haben.
Gegenüber der EU hat Trump das Spiel noch nicht vollständig eröffnet, denn entscheidend sind die Wahlen – die in Deutschland gerade beendet wurden und in Frankreich (aufgrund des dort geltenden Wahlrechts) frühestens im Juni stattfinden können. Diese Auseinandersetzung steht also noch bevor.
Trump wartet ab, wer in Europa gewinnt, während er selbst – oder durch andere, sei es Elon Musk in den USA oder Viktor Orbán in Europa – gegen „Brüssel“ und die dort vertretenen Werte wettert. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die bislang dominierenden liberalen Eliten geht, und hat sogar den Milliardär Elon Musk für die „Drecksarbeit“ angeheuert – zur Säuberung des sogenannten deep state, also der bestehenden Strukturen, Institutionen und ihrer Vertreter.
Die Gefahr ist real. Wir müssen uns davor hüten, dass sich die Geschichte wiederholt – und dass Europa auf einen gefährlichen Kurs gerät, der übertriebenen Liberalismus durch radikalen Nationalismus ersetzt. Denn das Pendel schwingt bereits gefährlich in diese Richtung.