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Die Katastrophe der Fähre „Jan Heweliusz”

Was unmittelbar zum Untergang der „Heweliusz“ führte, wissen wir bis heute eigentlich nicht – sagt Adam Zadworny im Gespräch mit Kaja Puto.

Kaja Puto: Am 14. Januar 1993 kam es vor der Küste Rügens zur größten polnischen Schiffskatastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg. Beim Untergang der Fähre „Jan Heweliusz“ kamen sechsundfünfzig Menschen ums Leben. Wie kam es dazu?

Adam Zadworny: Die „Jan Heweliusz“ sank auf ihrer routinemäßigen Route von Świnoujście ins schwedische Ystad. Vor dem Auslaufen erwartete die Besatzung Windstärken von 6 bis 7 Beaufort. Doch plötzlich traf von Westen der Orkan „Junior“ ein, den keine Wetterprognose für die Ostsee vorhergesehen hatte. Wind und Wellen waren so stark, dass die Besatzung die Kontrolle verlor, das Schiff manövrierunfähig wurde und auf die Orlów-Bank abtrieb – dort sind die Wellen noch höher, weil es sich um eine Untiefe handelt. Dort kam es durch eine Krängung von dreißig Grad, die sich rasch verschärfte, dazu, dass die auf der Fähre transportierten Lkw und später auch Eisenbahnwaggons umkippten – bis sich die Fähre schließlich kieloben drehte.

Wir wissen mit Sicherheit, dass die „Jan Heweliusz“ ein beschädigtes Hecktor hatte, weil sie drei Tage zuvor in Ystad gegen die Kaimauer gestoßen war. Die Abdichtung wurde nur notdürftig repariert. Wir wissen auch, dass es der Besatzung sehr eilig war, da sie 2,5 Stunden Verspätung hatten – höchstwahrscheinlich wurden deshalb die Lkw auf dem unteren Deck nicht mit Ketten gesichert. Schließlich wissen wir, dass die Besatzung das Anti-Krängungssystem falsch nutzte. Es wurde in der norwegischen Werft entwickelt, in der die Fähre 1977 gebaut worden war. Dabei handelte es sich um Tanks an beiden Bordseiten mit einem System aus Rohrleitungen, Pumpen und Ventilen, das zur Stabilisierung bei Be- und Entladung im Hafen diente. Die Polen ließen jedoch auch auf offener See Wasser zwischen den Tanks umpumpen – wie aus den Aussagen der Überlebenden hervorgeht, auch in jener verhängnisvollen Nacht.

Was letztlich direkt zum Untergang der „Heweliusz“ führte, wissen wir bis heute eigentlich nicht.

In Ihrem Buch „Heweliusz. Das Geheimnis der Katastrophe in der Ostsee“ schreiben Sie, dass dieses Schiff als Unglücksfähre galt…
Einer seiner Kapitäne sagte mir, dass das Navigieren dieser Fähre bei stärkerem Wind einem Seiltanz mit einer Stange gleiche. Ein anderer meinte: „Diese Fähre hat einen nervlich fertiggemacht.“ Gemeint waren Probleme mit der Stabilität und Steuerbarkeit, die bei Windstärken über 10 Beaufort begannen – was in der Ostsee jeden Winter vorkommt. Sie rührten unter anderem daher, dass die Fähre zu hoch gebaut war.

War das ein Fehler der norwegischen Werft, die sie gebaut hat?
Den zusätzlichen Deckaufbau hatte sich der Eigner der Fähre gewünscht – die Polnische Ozeanlinien-Gesellschaft (Polskie Linie Oceaniczne). So konnten auf dem Schiff mehr Passagierkabinen für Lkw-Fahrer untergebracht werden. Zudem wurde nach einem schweren Brand auf der Fähre im Jahr 1986 eines der Decks mit Beton ausgegossen. Beide Maßnahmen führten dazu, dass sich der Schwerpunkt des Schiffs nach oben verlagerte.

Während der mehr als zehnjährigen Betriebszeit verzeichnete die „Heweliusz“ insgesamt sechsundzwanzig offiziell dokumentierte Unfälle und Havarien. Die meisten ereigneten sich zu Zeiten der Volksrepublik Polen, als Probleme mit dem Schiff vertuscht wurden – auch gefährliche Schräglagen, zu denen es auf See kam. Es wurden zwar Berichte erstellt, aber das Polnische Schiffsregister unternahm nichts und erlaubte der „Heweliusz“, weiterhin zu fahren.

Die Seeleute kannten diese Probleme jedoch gut. Und trotzdem meldeten sie sich gerne freiwillig für die „Heweliusz“. Warum?

Zum einen, weil die Schiffe der Polnischen Ozeanlinien, auf denen sie zuvor gearbeitet hatten, sehr lange Reisen unternahmen – etwa nach Asien oder Westafrika. Das waren monatelange, anstrengende Fahrten, die eine lange Trennung von der Familie bedeuteten. Auf der „Heweliusz“ konnte man zwei Wochen arbeiten und dann zwei Wochen zu Hause verbringen.

Zum anderen konnte man sich auf der „Heweliusz“ neben dem regulären Matrosenlohn gut etwas dazuverdienen. In der Volksrepublik Polen, als es auf dem Markt an vielem fehlte, lohnte es sich, aus dem Westen fast alles mitzubringen – und zu verkaufen. Umgekehrt wurden nach Schweden Alkohol und Zigaretten transportiert. Die Preisunterschiede waren so groß, dass viele Seeleute mit diesem Schmuggel – oder Handel, wie man damals sagte – kleine Vermögen machten. Ihre Frauen mussten nicht arbeiten, sie bauten Häuser, und die Erfolgreichsten gehörten zur damaligen finanziellen Elite.

Der kommunistische Staat drückte darüber hinweg ein Auge zu, weil er sogenannte „Devisen“, also westliche Währungen, zur Rückzahlung der jenseits des Eisernen Vorhangs aufgenommenen Schulden benötigte.

Natürlich – wie mir ein ehemaliger Geheimdienstler erzählte – sah der Staat den Handel der Seeleute nur dann als Problem, wenn er außer Kontrolle geriet. Der Staat war sich sehr wohl bewusst, was auf der „Heweliusz“ geschah. Um die Seeleute scharten sich Devisenhehler – illegale Devisenhändler – und auch sogenannte „Möwen“, wie man in Hafenstädten damals die Devisenprostituierten nannte. Die Fähre stand unter besonderer Beobachtung der damaligen Sicherheitsdienste, da sie zur Flucht in den Westen genutzt werden konnte. Zudem wurden auf den Ostseefähren Druckereiausrüstungen für den Untergrund der „Solidarność“ geschmuggelt. In der Swinemünder Abteilung der Grenzschutztruppen gab es sogar eine eigene Gruppe, die damit beauftragt war, auf den Fähren Informanten zu rekrutieren.

Die Katastrophe ereignete sich jedoch bereits im neuen, demokratischen Polen, als die Fähre in die Hände der privaten Gesellschaft EuroAfrica überging. Auch der neue Reeder entschied sich nicht, die Mängel des Schiffs zu beseitigen. In Ihrem Buch zeigen Sie, dass auch der polnische Staat nach dem Unglück lieber nicht genauer hinschaute…

Drei Monate nach dem Untergang der „Heweliusz“ stellte eine Sonderkommission des Verkehrs- und Seeministeriums unter der Leitung von Minister Zbigniew Sulatycki fest, dass allein der Orkan „Junior“ für das Unglück verantwortlich sei. Die Seegerichte – spezielle Quasi-Gerichte, die in Polen Schiffsunglücke untersuchen – kamen zu drei unterschiedlichen Urteilen. Das Seegericht in Stettin befand, dass höhere Gewalt in Form des Orkans und Fehler des Kapitäns zur Katastrophe geführt hätten. Der zweite Prozess fand in Gdynia statt und wies dem Reeder und dem Schiffseigentümer einen Großteil der Schuld zu. Es wurde festgestellt, dass die Fähre am 13. Januar 1993 gar nicht hätte auslaufen dürfen, da sie nicht seetüchtig war. Doch dann fand ein dritter Berufungsprozess statt, der die Angelegenheit weitgehend verwässerte – das Urteil lautete, dass sich nicht feststellen lasse, was genau zum Kentern der Fähre beigetragen habe, etwa ob ein Schaden am Heckvisier Einfluss auf das Unglück gehabt habe oder nicht.

Im Jahr 2005 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg fest, dass diese Verfahren nicht fair und rechtmäßig gewesen seien, und sprach den Witwen der Seeleute Entschädigungen zu.

Der junge polnische Staat war nicht in der Lage, die Katastrophe aufzuklären. Vielleicht, weil er nicht die polnische Flagge kompromittieren wollte. Anfang der 1990er-Jahre war eine Zeit, in der Schiffe aus wirtschaftlichen Gründen massenhaft unter sogenannte „Billigflaggen“ flüchteten. Wie dem auch sei – das Unglück der „Heweliusz“ ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt worden. Vor allem deshalb, weil fast alle Personen von der Kommandobrücke, einschließlich des Kapitäns Andrzej Ułasiewicz, ums Leben kamen, und das Logbuch von Tauchern nicht gefunden werden konnte.

In Polen neigen wir dazu, große Katastrophen zu versinnbildlichen – wir fragen uns oft, was sie über den Zustand des polnischen Staates aussagen. In Ihrem Buch zitieren Sie Präsident Lech Wałęsa, der zwei Wochen vor dem Untergang der „Heweliusz“ in seiner Neujahrsansprache sagte, dass wir ein Staat auf der Reise in eine bessere Welt seien – ein Kommentator ergänzte, dies sei eine Reise über ein aufgewühltes Meer des Wandels. Was sagt also die Katastrophe der „Heweliusz“ über Polen aus?

Diese Frage wurde im Mai 1993 von der Staatlichen Arbeitsinspektion beantwortet, die wohl den gründlichsten Bericht über das Unglück verfasst hat. Damals entschied man sich, ihn nicht zu veröffentlichen – als wolle man verhindern, dass die polnische Öffentlichkeit, oder vielleicht eher die westliche, ihn kennenlernt. Der Bericht machte fast allen Beteiligten Vorwürfe: dem Hersteller der Rettungsinseln, der die Schnüre zum Verschließen der Luken falsch konstruiert hatte, wodurch eiskaltes Wasser in die Inseln eindrang; den Seeleuten, die die Passagiere nicht darüber informiert hatten, wie man sich zu evakuieren habe, und mit der Rettung des eigenen Lebens beschäftigt waren; dem Eigentümer des Schiffs, der die Mängel der Fähre ignorierte; und dem polnischen Staat, der in den drei Jahren des Systemwandels keine internationalen Abkommen zur Koordination von Seenotrettungen mit seinen Nachbarn unterzeichnet hatte.

Der Untergang der Fähre war das eine – die Rettungsaktion war ein einziges Chaos. Der Disponent der Seenotrettungsleitstelle, der von dem Mayday-Signal der „Heweliusz“ erfuhr, war seit zwanzig Stunden im Dienst und bearbeitete allein sämtliche Meldungen im Zusammenhang mit dem Orkan. Er informierte nicht die Marine, weil er annahm, dass der Hubschrauberlandeplatz in Darłowo geschlossen sei – was jedoch nicht stimmte. Während die Deutschen und Dänen mit Hubschraubern und dem Schiff „Arkona“ versuchten, Überlebende zu retten – letztlich konnten nur neun Besatzungsmitglieder gerettet werden –, war in Polen noch nicht einmal die Entscheidung über den Start eigener Hubschrauber gefallen.

Später versuchten die Polen, einen Teil der Verantwortung für die schleppende Rettungsaktion von sich zu weisen, indem sie die Deutschen beschuldigten.

Die Medien insinuierten, dass die deutschen Rettungskräfte nicht genug Mut gezeigt hätten, weil sie sich nicht an Rettungsleinen hinunterließen, um die Schiffbrüchigen aus dem Meer oder von den Rettungsinseln zu holen. Es wurde suggeriert, dass polnische Retter dies sicherlich getan hätten, da sie entsprechend ausgebildet worden seien.
Das ist ein sehr ungerechter Vorwurf, denn laut Aussagen von Augenzeugen, mit denen ich gesprochen habe, ließen sich einige Retter tatsächlich zu den Schiffbrüchigen hinunter – doch diese waren bereits tot. Andere taten es tatsächlich nicht, weil die Wellen riesig waren und – wie wir wissen – ein toter Retter niemandem hilft. Ich möchte hinzufügen, dass der Orkan nicht nachließ und die deutschen Rettungskräfte, die sich an der Aktion beteiligten, freiwillig aufs Meer hinausgefahren sind – sie waren darauf hingewiesen worden, dass die Bedingungen so extrem seien, dass sie ihr Leben riskieren würden. Ich habe den Eindruck, dass jemand absichtlich das Gerücht verbreitet hat, die Deutschen seien überfordert gewesen, um von unseren, den polnischen Versäumnissen abzulenken. Die traurige Wahrheit ist, dass die Deutschen acht Menschen retteten, die Dänen einen – und die Polen niemanden.

Wollte man das polnische Stereotyp über Deutsche bedienen, die sich zu starr an Regeln halten – im Gegensatz zu den „kreativen“ Polen?

Vielleicht ja. Es kam sogar zu einem polnisch-deutschen medialen Streit, weil die Polen den Deutschen vorwarfen, polnische Hubschrauber hätten den Unglücksort nicht erreichen können, da ihnen der Einflug in den deutschen Luftraum verweigert worden sei. Die Deutschen hingegen behaupteten, sie hätten nichts verboten, sondern lediglich informiert, dass sich bereits viele deutsche und dänische Maschinen in der Luft befänden. Das wurde nie abschließend geklärt, ein bitterer Nachgeschmack blieb.

Andererseits gab es auch in ausländischen Medien Insinuationen, die auf Stereotypen über Polen beruhten…

Schwedische Medien deuteten an, dass die Besatzung der „Heweliusz“ betrunken gewesen sei. Doch die Obduktionsprotokolle bestätigten diese Sensationsmeldungen nicht. Kein einziger der verstorbenen Seeleute hatte Alkohol im Blut.

Sie arbeiten seit Jahrzehnten als Journalist in Stettin, beschäftigen sich auch mit lokalen Kriminalfällen. Wie hat sich die Zusammenarbeit der polnisch-deutschen Dienste 32 Jahre nach der „Heweliusz“-Katastrophe verändert?

1993 war ich ein junger Journalist und erinnere mich sehr gut an diese Jahre. Stettin war damals voller Autogangs, die Fahrzeuge wohlhabender Berliner stahlen. Damals entstand auch der berühmte deutsche Witz: „Fahr in den Urlaub nach Polen – dein Auto ist schon dort.“ Ein gestohlenes Auto konnte man leicht verkaufen oder in den Osten – nach Russland oder Belarus – schaffen. Diese Stereotype waren so tief verwurzelt, dass sie die Realität verzerrten. Mitte der 1990er bat mich ein deutscher Journalist, ihm den Kontakt zu einer „Schule für Autodiebe“ zu vermitteln. In irgendeinem Boulevardblatt in Deutschland war mein Text über Autodiebe falsch übersetzt worden – darin schrieb ich, dass einige der von der Polizei gefassten Täter eine Kfz-Berufsschule besucht hatten. Daraus wurde dann, dass es in Stettin eine Schule für Autodiebe gäbe.
Die polnischen Behörden hatten die Lage anfangs tatsächlich nicht im Griff und konnten den Deutschen kaum helfen. Lange Zeit gab es keine Abkommen zur Regelung einer solchen Zusammenarbeit, auch kein gemeinsames Computersystem.
Das änderte sich jedoch Ende der 1990er Jahre. Heute gibt es viel weniger Autodiebstähle, ein gestohlenes Auto ist nur schwer zu verkaufen, weil man es in Polen nicht legalisieren kann. Außerdem patrouillieren polnische und deutsche Polizisten heute gemeinsam in den Grenzregionen.


Adam Zadworny (geb. 1967) – Journalist und Reporter, seit 1990 bei der „Gazeta Wyborcza“, zuvor Mitarbeiter von Untergrundzeitungen. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt Heweliusz. Das Geheimnis der Katastrophe in der Ostsee. Träger mehrerer Journalistenpreise, u. a. des Verbands der Polnischen Journalisten, des Verbands der Journalisten der Republik Polen – Westpommern sowie des Polnisch-Deutschen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreises für die historische Reportage Wilder Westen – Usedom. Im Jahr 2008 für den Preis MediaTory für die Reportagereihe Nangar Khel – tak było (zusammen mit Marcin Kącki und Marcin Górka) nominiert.

 

 

 

Kaja Puto – Publizistin und Redakteurin, spezialisiert sich auf die Themenbereiche Osteuropa und Migration. Sie schreibt u.a. für die Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ und für n-ost – The Network for Reporting on Eastern Europe.

 

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