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Polen und Deutschland – alles auf gutem Weg? Ein Gedankenanstoß

Mit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 vereinbarten beide Länder eine Stärkung des gegenseitigen Vertrauens, wirtschaftliche Zusammenarbeit und regelmäßige Konsultationen. Seither hat sich die Zusammenarbeit vertieft, aber es gab auch eklatante Versäumnisse auf deutscher Seite. Bis heute fehlt in Deutschland das Bewusstsein für die Schwere der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Die positive Entwicklung Polens in den letzten 35 Jahren wird in Deutschland oftmals nicht wahrgenommen.

 

Am 17. Juni 1991 unterzeichneten Bundeskanzler Helmut Kohl, der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Jan Krzysztof Bielecki, der Ministerpräsident Polens und der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski den „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“, der nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Polen und der deutschen Wiedervereinigung die Grundlage legte für eine neue Etappe der deutsch-polnischen Beziehungen. Am 7. März 2025, nur einen Tag nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, besuchte Friedrich Merz am selben Tag sowohl Paris als auch Warschau. Ein solches Zeichen hatte vor ihm noch kein Bundeskanzler gesetzt.

Nur wenige Tage später reiste er gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem polnischen Premierminister Donald Tusk und dem britischen Premierminister Keir Starmer nach Kyjiw, um Präsident Wolodymyr Selenskyj ihrer Unterstützung zu versichern.

Vom 4. bis 5. Juni 2025 fand nach siebenjähriger Pause wieder das ‚Deutsch-Polnische Forum‘ statt – ein weiteres Signal für einen frischen Anlauf in den Beziehungen beider Länder. Bezeichnenderweise wurden dort mit dem Deutsch-Polnischen Preis der beiden Regierungen eine polnische Regisseurin und eine Initiative in Deutschland ausgezeichnet, die sich in deutsch-polnischer Zusammenarbeit für die Unterstützung der Ukraine engagieren.

All dies sind starke Zeichen für die Enge der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, vor allem wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz vor seiner Reise im Juni 2022 nach Kyjiw Präsident Macron zwar in Polen traf, aber ohne den polnischen Premier weiterreiste und diese Missachtung Polens offenkundig für richtig hielt.

Jedoch war bei aller Herzlichkeit in Warschau für Friedrich Merz nicht zu übersehen, dass mit seiner bewusst gesetzten Geste die Schwierigkeiten in den deutsch-polnischen Beziehungen nicht verschwunden sind. Manch ein politischer Verantwortlicher in Polen sagte nach dem Besuch von Merz mit Goethes Faust sinngemäß: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt (noch) der Glaube. Und dies schon vor der Wahl des nationalkonservativen Karol Nawrocki am 1. Juni 2025 zum neuen polnischen Präsidenten.

Prioritäten der nationalkonservativen Regierung seit 2015

Die acht Jahre der Regierungsverantwortung der nationalkonservativen Regierung unter der Partei ‚Recht und Gerechtigkeit‘ (PiS) von 2015 bis 2023 stellten die deutsch-polnischen Beziehungen auf eine harte Probe: Die Verantwortlichen der PiS demonstrierten eine dezidiert Deutschland-kritische Haltung, die auch die Europäische Kommission als verlängerten Arm deutschen Hegemoniestrebens attackierte.

Was in Deutschland meist übersehen wurde, waren zwei wichtige Aspekte:

Erstens: Die PiS stellte ihre Außenpolitik unter die Prämisse, alles dafür zu tun, um eine amerikanische Truppenpräsenz auf polnischem Boden zu erreichen, um gegen einen Angriff Russlands geschützt zu sein. In Polen konnte man schon vor 2014 hören: „Es ist nicht die Frage, ob Russland angreift, sondern wann.“

Diese parteiübergreifende Sorge war in Deutschland und im westlichen Europa lange Zeit auf eine Mischung aus Ignoranz und Arroganz gestoßen. Während Polen aus dem russischen Überfall auf die Krim 2014 die richtigen Konsequenzen zog und seit 2015 stets über zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgibt, blieb Deutschland bis zur ‚Zeitenwende‘ 2022 signifikant darunter – und dies wurde nicht nur von Politikern wie Rolf Mützenich (SPD) betrieben, der noch im Mai 2022 das von Deutschland mitbeschlossene Zwei-Prozent-Ziel der NATO als eine „vollkommen abstruse Kennziffer“ kritisierte und am 10. Juni 2025 ein Manifest veröffentlichte, das die Unterstützung der Bundesregierung für die Ukraine fundamental in Frage stellt.  Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte zwar im November 2019 zu, dass Deutschland „bis Anfang der 2030er Jahre“ die zwei Prozent erreichen werde, aber – so sehr sie persönlich für dieses Ziel einstand – nicht wenige in den östlichen Nachbarländern hörten daraus ein Verschieben auf den Sankt Nimmerleinstag – nicht nur wegen des Widerstandes vieler mitregierender Sozialdemokraten, sondern auch, weil es in der Union Stimmen gab, die der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands nicht die höchste Bedeutung beimaßen. In Polen blieb im Ohr, dass Länder wie Frankreich und Deutschland über Jahre alle Wünsche nach einer wirklichen Präsenz ihrer Truppen in Polen zurückwiesen.

Zweitens: Die PiS-Außenpolitik folgte innenpolitischen Prioritäten. Deshalb verschlechterten sich die Beziehungen zu allen Nachbarn, selbst zur Ukraine. Nach 2014 gehörte Polen zwar zu den entschiedensten militärischen Unterstützern der Ukraine, aber die PiS rückte historische Probleme in den Vordergrund ihrer Propaganda, insbesondere die Massaker in der heutigen Westukraine während und nach dem Zweiten Weltkrieg, weil sich die Verantwortlichen in der PiS davon Stimmengewinne besonders in ihren Hochburgen an der Grenze zur Ukraine versprach. Dies funktionierte auch bei der Präsidentenwahl am 1. Juni 2025: Nawrocki gewann mit Ukraine-kritischen Untertönen mit einer Zweidrittelmehrheit in der Grenzregion Podkarpatien. Der polnische Präsident Andrzej Duda (PiS) hatte schon vor der Sejm-Wahl 2023 verkündet, die Waffenlieferungen an die Ukraine auszusetzen, bis die Opfer der Massaker exhumiert und angemessen beigesetzt seien. Solche Stimmen sind auch in der jetzigen polnischen Regierung zu hören.

In Berlin wurde der innenpolitisch motivierte Rundumschlag der polnischen Außenpolitik unter der PiS allerdings gern zum Vorwand genommen, selbst nicht mehr viel für die deutsch-polnischen Beziehungen zu tun. Die jährlichen Regierungskonsultationen fielen aus – nicht zum reinen Bedauern der deutschen Seite, ersparte dies doch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob nicht manche polnische Kritik an der deutschen Politik ein Element Wahrheit für sich haben könnte.

 

Versäumnisse Deutschlands

In ihrem Koalitionsvertrag hat die seit Mai 2025 amtierende Bundesregierung nun die Stärkung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit an mehreren Stellen verankert. Welche Herausforderungen müssen dabei gemeistert werden? Vor allem geht es um folgende drei Aufgaben:

1. Die Mehrheit der Polen zeigt sich besorgt, ob Deutschland endlich ein verlässlicher Bündnispartner wird. Die Anmerkung des heutigen polnischen Außenministers Radosław Sikorski aus dem Jahr 2011 in Berlin trifft diese Sorge immer noch genau: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Leider zeigte sich nach 2011 viel von dieser Untätigkeit, zumindest der Unwille, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die geopolitische Lage dramatisch zu verändern begonnen hatte – auch in den USA, spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Aber schon vorher hatten die USA Europa und besonders Deutschland immer wieder aufgefordert, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Donald Tusk brachte dies 2025 auf den Punkt, als er kommentierte, es sei schwer zu erklären, warum 300 Millionen Amerikaner 500 Millionen Europäer vor 140 Millionen Russen schützen müssten.

So sehr Antiamerikanismus in Deutschland immer schon auf Resonanz stößt, sowohl an den rechten wie auch den linken Rändern und bisweilen auch innerhalb der SPD, so sehr war es bequem, sich auf den Schutz der Amerikaner zu verlassen und sich darauf zu konzentrieren, mit Putins Russland Geschäfte zu machen. 2015 wurden die ersten Verträge zum Bau der Erdgasleitung Nord Stream 2 unterzeichnet – ein Jahr nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte. Niemand in Polen glaubte, dass dies ein „rein wirtschaftliches Projekt“ sei. Neben dem legitimen Versuch, Russland durch solche Projekte einzubinden, standen Interessen der deutschen Wirtschaft im Zentrum, die neben der SPD auch nicht unbedeutende Teile der CDU und CSU zu ihrem Anliegen machten. Heute erheben sich schon wieder Stimmen, die fordern, den Bezug von Gas und Öl aus Russland zu steigern. Doch schon einmal ist die Strategie, Russland dadurch einzubinden, gescheitert. Dies nochmals versuchen zu wollen, weckt in den östlichen Nachbarländern Deutschlands umso mehr Erinnerungen an Zeiten, in denen sich erst Preußen und dann das Deutsche Reich mit Russland geeinigt hatten – auf Kosten Polens und der baltischen Nationen.

Die Regierung Tusk erwartet, dass aus den gemachten Erfahrungen Taten folgen. Vor allem geht es dabei um eine verlässliche Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion. Die ersten Taten sowohl von Bundeskanzler Merz als auch von Außenminister Johann Wadephul werden in Polen als ermutigend empfunden. Dazu gehört das klare Bekenntnis von Friedrich Merz bei der Indienststellung der Bundeswehrbrigade in Litauen, dass jeder Zentimeter des Bündnisgebiets verteidigt werde. Denn Polen fühlt sich von Russland ganz unmittelbar bedroht: Ein gutes Drittel der Polen ist überzeugt, dass Russland Polen angreifen werde, wenn es in der Ukraine Erfolg haben sollte. Man muss diese Meinung nicht teilen. Aber deutsche Politik gegenüber Polen muss auf diese Besorgnis eine Antwort geben.

Eine Verlegung der deutsch-polnisch-dänischen Brigade von Stettin an die Suwalki-Lücke könnte eine solche sichtbare Geste sein. Deutschland könnte auch eine Initiative der NATO-Ostseeanrainer ins Leben rufen, um den maritimen Schutz gemeinsam zu verbessern – wobei sich jedes Land nach seiner Wirtschaftskraft gestaffelt beteiligt. Mit Blick auf die Ukraine sollten neben der militärischen Unterstützung zudem Initiativen gestartet werden, zum Beispiel die deutsch-polnische Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Słubice um einen Campus an der polnisch-ukrainischen Grenze zu erweitern.

 

2. Die zweite aktuelle Herausforderung ist das Thema Migration. In Polen war man immer skeptisch gegenüber einer als ungesteuert empfundenen Migrationspolitik in Deutschland. Zudem sah man es in Polen als ungerecht an, dass in Berlin und Brüssel die Aufnahme von hunderttausenden Ukrainern insbesondere ab 2014 und dann von Millionen Flüchtlingen im Frühjahr 2022 nicht als Beitrag zur europäischen Migrationspolitik gewürdigt wurde. Polen schaffte 2022 und 2023 etwas Bewundernswertes: die schnelle Aufnahme und Integration dieser Flüchtlinge – ohne die Unterbringung in Massenflüchtlingsunterkünften wie in Deutschland, dafür mit einer schnellen Integration in Schulen und in den Arbeitsmarkt. Während in Deutschland die Einstellung ukrainischer Lehrerinnen häufig daran scheiterte, dass der ukrainische Lehramtsabschluss nicht anerkannt wurde und dass entsprechende deutsche Sprachkenntnisse verlangt wurden, einigte sich die polnische Regierung schnell mit der ukrainischen darauf, ukrainische Lehrerinnen in Polen gemeinsam zu bezahlen und ihnen die Unterrichtung der ukrainischen Jugendlichen anzuvertrauen: ein gutes Beispiel für das in Deutschland von manchen geforderte „Einfach mal machen“.

 

Aber auch in Polen zeigen sich Ermüdungserscheinungen, ukrainische Flüchtlinge weiter zu unterstützen. Rechte und rechtsradikale Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen fischten erfolgreich in der trüben Suppe und behaupteten, dass Ukrainer in Polen besser unterstützt würden als Polen.

Zudem lehnt die polnische Regierung die 2024 eingeführten einseitigen Kontrollen auf der deutschen Seite der Grenze ab und schlägt stattdessen vor, gemeinsam in den Schutz der EU-Außengrenze gegenüber dem russischen Bezirk Kaliningrad im Norden und gegenüber Weißrussland zu investieren, wo beide Regime systematisch Schleusertätigkeiten fördern. Bundeskanzler Merz hat bei seinem Antrittsbesuch in Warschau zugesagt, diesen Vorschlag ernsthaft zu prüfen. Es wäre ein gutes Zeichen für den Willen zu gemeinsamem Handeln, vor allem, wenn man sich die Realität an der Grenze anschaut: Die A12 zwischen Berlin und Warschau ist ein betrübliches Beispiel, denn die Kontrollinfrastruktur liegt auf der polnischen Seite der Oder und darf nicht benutzt werden. Auf der deutschen Seite der Grenze gibt es keinerlei Platz für solche Kontrollen, weshalb kilometerlange Staus entstehen, aber kaum Fahrzeuge kontrolliert werden können. Dies ergibt keinen Sinn.

3. Die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen kann nur gelingen, wenn die Vergangenheit im Blick bleibt. Ein zentraler Unterschied zwischen Deutschen und Polen wird im ‚Deutsch-Polnischen Barometer‘ deutlich, das von der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, dem Deutschen Polen-Institut und dem Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau erhoben wird: 60 Prozent der Polen, die die Beziehungen für schlecht halten, begründen dies mit einer „unzureichenden Aufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen in Polen und der fehlenden Wiedergutmachung durch Deutschland mit Blick auf die Verluste Polens im Zweiten Weltkrieg“. Dies sehen nur 31 Prozent der Deutschen ebenso. Der neue Präsident Karol Nawrocki war bislang Leiter des Instituts für nationales Gedenken. Er und große Teile der polnischen Gesellschaft werden dieses Thema weiterverfolgen.

Die Bundesregierungen verwiesen in der Vergangenheit immer wieder darauf, dass die Reparationsfragen rechtlich abgeschlossen seien. Wie immer man dies bewertet, in Polen bleibt der schale Geschmack, dass Deutschland seiner Verantwortung nicht gerecht werde. Als Bundeskanzler Scholz zu unhöflich nur einige Stunden dauernden Regierungskonsultationen im Sommer 2024 nach Warschau kam, brachte er als humanitäre Geste das Angebot mit, den noch lebenden NS-Opfern in Polen Mittel in Höhe von 200 Millionen Euro auszuzahlen. Premierminister Tusk wies dies mit harschen Worten zurück.

Ein weiteres Beispiel: Schon im Oktober 2020 hatte der Bundestag parteiübergreifend beschlossen, in Berlin mit einem „Ort des Erinnerns und der Begegnung dem Charakter der deutsch-polnischen Geschichte gerecht werden und zur Vertiefung der besonderen bilateralen Beziehungen beitragen“ zu wollen. Seither ist dieses Projekt in administrativem Kompetenzgerangel und Verschleppungen gefangen. In Polen wird dies als mangelnder Wille zur Umsetzung gedeutet.

In Berlin fehlte lange der Wille, einen für beide Länder akzeptablen Weg nach vorne zu finden, für eine historische Schuld, die sich eben nicht „wiedergutmachen“ lässt. Hierzu gehören:
– fünf bis sechs Millionen ermordete Menschen in Polen während des Zweiten Weltkriegs, darunter drei Millionen Juden;
– massive Vertreibungen durch Deutsche an Polen;
– zwei blutig niedergeschlagene Aufstände in Warschau mit hunderttausenden Toten
– eine von Deutschen systematisch zerstörte Hauptstadt;
– der Hitler-Stalin-Pakt, der zum Verlust polnischer Gebiete im Osten und der jahrzehntelangen Unterjochung Polens durch die Sowjetunion führte;
– die Hinterlassenschaft vieler Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka auf polnischem Boden, was Polen bis heute in die unerträgliche Situation bringt, sich international dagegen wehren zu müssen, wenn in Medien wieder einmal von „KZs in Polen“ oder gar „polnischen KZs“ die Rede ist;
– Täter, die in Deutschland später zumeist nicht bestraft wurden, wie SS-Gruppenführer Heinz Reinefahrt, der „Schlächter von Warschau“, später Bürgermeister von Westerland und 1958 sogar Landtagsabgeordneter;
– nach Entschuldigung klingende Erklärungen, damals sei „die Zeit noch nicht reif“ gewesen für eine Aufarbeitung;
– das von einer Mehrheit der Deutschen geteilte Gefühl, es sei Zeit für einen „Schlussstrich“:
all dies und manches mehr wird in Polen zu Recht nicht vergessen, wenngleich es für die meisten Polen nicht mehr ihren Blick auf Deutschland dominiert.

Unterschiedliche Wahrnehmung in beiden Ländern

Im Gegenteil: Selbst die antideutsche Politik der PiS konnte das Deutschland-Bild der Polen zwar trüben, aber nicht umstürzen. Obwohl in den Jahren nach 2016 der Anteil der Polen, die in Deutschland in erster Linie einen Aggressor sehen, von 21 Prozent auf 30 Prozent stieg, fiel dieser Wert nach dem Regierungswechsel drastisch wieder auf 20 Prozent. 65 Prozent hingegen halten Deutschland für ein modernes Land, wenngleich die schleppende deutsche Wirtschaftsentwicklung und mangelnde Reformkraft die Polen verwundern – bei den einen mit leiser Schadenfreude angesichts des beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwungs in Polen, bei den anderen mit Sorge, weil die wirtschaftlichen Beziehungen so eng geworden sind.

Ein weiterer Grund, warum es der PiS nie gelang, das Bild der Polen von Deutschland zu stürzen, liegt in der engen Verflechtung beider Länder: Millionen Polen waren in Deutschland als Touristen und arbeiteten dort; Deutsche waren auch im Nachbarland tätig,  wenn auch weniger häufig. Zudem sichern Institutionen wie die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (SdpZ), das Deutsch-Polnische Jugendwerk, das Deutsche Polen-Institut und die vielen Deutsch-Polnischen und Polnisch-Deutschen Gesellschaften das Kennenlernen und gemeinsames Handeln: Allein die SdpZ hat seit ihrer Gründung zehntausende solcher Initiativen gefördert. Die fünfzig Deutsch-Polnischen Gesellschaften überall in Deutschland arbeiten jeden Tag mit konkreten Projekten an der Zukunft des Zusammenkommens und haben der neuen Bundesregierung zehn konkrete Empfehlungen für die Stärkung der Zusammenarbeit auf den Tisch gelegt: vom überfälligen Ausbau der Eisenbahnverbindungen (einschließlich einer Hochgeschwindigkeitsverbindung Paris-Berlin-Warschau-Kyjiw) bis hin zur finanziellen Stärkung des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

Von Deutschland erwarten alle Polen, dass Deutsche um Verbrechen wissen, die begangen wurden. In Polen wird parteiübergreifend beklagt, dass in der deutschen Erinnerung Verbrechen in der früheren Sowjetunion erinnert werden (auf Kosten der Ukrainer und Weißrussen zumeist gleichgesetzt mit Russen), viel weniger aber diejenigen, die Deutsche sechs furchtbare Jahre lang in Polen begangen haben mit dem Ziel, ein ganzes Volk entweder auszurotten oder zu versklaven. Im Geschichtsunterricht an deutschen Schulen kommt dieses Thema immer noch zu kurz – auch weil das gemeinsame deutsch-polnische Schulbuch von den Kultusverwaltungen der Länder nicht gefördert wird. Umso wichtiger ist, dass die seit Mai 2025 amtierende Bildungsministerin Karin Prien (CDU) vorgeschlagen hat, dass künftig alle Jugendlichen wenigstens einmal ein Konzentrationslager besuchen.

Deutsche Unwissenheit ist auch mit Blick auf das moderne Polen ein Problem: Polen ist das Land in Europa mit dem höchsten wirtschaftlichen Wachstum seit der Wende 1989. Dies gilt auch für 2025: Während für Deutschland wieder kein Wachstum erwartet wird, soll Polens Wirtschaft um weitere 3 Prozent wachsen. Polen ist inzwischen Deutschlands viertwichtigster Partner bei Exporten wie bei Importen. Dabei hat Polen 2024 China bei den deutschen Exporten überholt. Und: Warschau liegt von Berlin aus näher als Bonn. In deutschen Köpfen jedoch ist es von der Spree sehr viel weiter an die Weichsel als an den Rhein.

Polen als Vorbild

Deutsche haben vielfach ein im besten Fall veraltetes Bild von Polen, das sie irgendwie für rückständig halten. Heute ist es jedoch eher andersherum: Polen hat in den letzten 35 Jahren Verwaltung, Infrastruktur und Wirtschaft radikal modernisiert. In einem etwas verkürzten Vergleich zwischen den Partnerstädten Berlin und Warschau ist augenfällig:
– In beiden Städten bekommt man keinen Termin auf dem Bürgeramt – in Warschau allerdings, weil man keinen benötigt: Fast alles lässt sich digital erledigen, und falls nicht, kommt man einfach dran.
– In Warschau werden U-Bahn- und Straßenbahnlinien nicht nur diskutiert, sondern zügig gebaut. Die Busse fahren elektrisch. Das Fahrradwegnetz wächst rapide. Der öffentliche Nahverkehr ist pünktlich und sauber.
– Warschau gehört zu den sichersten Städten der Welt.
– Während in Berlin die Anzahl der Bäume von hohem Niveau aus seit Jahren langsam zurückgeht auf jetzt noch gut 400.000, setzt die polnische Hauptstadt ein Programm um, das sich stolz „1 Million Bäume für Warschau“ nennt. Jeden Monat sieht man neue Bäume im Stadtbild.

Deutschland krankt an langsamen Verwaltungswegen. Auch in Polen dauert der Rechtsweg zu lange. Aber ansonsten funktioniert die Verwaltung: Die Gründung eines Unternehmens kann man buchstäblich an einem Nachmittag vom Küchentisch aus online verwirklichen. Polen hat das Steuersystem, das sich manche in der CDU auf dem Leipziger Parteitag 2003 erträumt hatten: Es gibt nur zwei Steuersätze; dafür sind fast alle steuerlichen Ausnahmetatbestände gestrichen. De facto ist die Steuerlast für Gutverdienende in Polen so hoch wie in Deutschland. In Deutschland hält man lieber an der Fiktion fest, hohe Steuersätze mit vielen Möglichkeiten, Ausgaben von der Steuer abzusetzen, seien gerechter.

Polen als Vorbild zu nehmen für überfällige Reformen in Deutschland? Dies erntet Erstaunen. Es wäre hilfreich, wenn sich die Mitglieder des Bundeskabinetts oder auch des Berliner Senats einmal Zeit nähmen, um vor Ort selbst zu erleben, was man vom Nachbarn lernen kann. Das gilt nicht nur für die Herkulesaufgabe des seit Mai 2025 amtierenden Bundesministers für Digitalisierung und Staatsmodernisierung Karsten Wildberger.

Polen ist ein modernes Land inmitten Europas und ein zentraler Partner innerhalb der EU und der NATO. Geschichtsbewusst zu sein hilft, zukunftsorientiert zu handeln. Verbesserte internationale Kooperation kann auch manche bilateralen Herausforderungen lösen helfen. Die anhaltende Spaltung der polnischen Gesellschaft und die Spaltung zwischen einem nationalkonservativen Präsidenten und einer von der Bürgerkoalition geführten komplex zusammengesetzten Regierung werden die deutsch-polnische Zusammenarbeit fordern. Genug zu tun für Deutsche und Polen – und genug für den neu ernannten Koordinator der Bundesregierung für die zivilgesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit mit Polen, Knut Abraham, der Polen aus eigener Erfahrung gut kennt.

 

Quellen und Literatur:

Vorschläge des Bundesverbandes Deutsch-Polnischer Gesellschaften für konkrete deutsch-polnische Projekte in der neuen Legislaturperiode vom 17. Februar 2025 [Deutsch – Polnische Zusammenarbeit in die Zukunft führen – Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband e.V.]

Andreas Mihm: Polen – der übersehene Nachbar im Osten. FAZ, 26.05.2025.

Hildebrand, Markus: Deutsch-polnische Beziehungen in der Außen- und Sicherheitspolitik 2007–2015: Eine zeitgeschichtliche Analyse. Paderborn 2024

Kucharczyk, Jacek und Łada-Konefal, Agnieszka: Hoffnung und Krise: Die öffentliche Meinung zu den gegenseitigen Beziehungen und den gemeinsamen Herausforderungen. Deutsch-Polnisches Barometer 2024. Darmstadt 2024.

Lehnstaedt, Stephan: Der Zweite Weltkrieg in Polen. Bilanz und Erinnerung an deutsche Besatzung und Verbrechen.https://www.kas.de/de/web/geschichtsbewusst/essay/-/content/der-zweite-weltkrieg-in-polen [28. 4. 2025].

Philaire, Maxime: La Pologne et la défense de l’Europe face à la Russie, Réseau d’analyse stratégique  https://ras-nsa.ca/fr/la-pologne-et-la-defense-de-leurope-face-a-la-russie [11. 4. 2025].

Thadden, Johannes von: Mut zu einer genialen Idee – 30 Jahre Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. (15. Oktober 2021) https://sdpz.org/assets/Johannes_von_Thadden___Mut_zu_genialen_Ideen_-_30_Jahre_SdpZ.pdf

The remarkable rise of Poland. The Economist, 24.05.2025

 

Der Artikel erschien zuerst auf der Website der konrad-Adenauer-Stiftung unter: https://www.kas.de/de/web/geschichtsbewusst/essay/-/content/polen-und-deutschland-alles-auf-gutem-weg

Wir danken der KAS für die Möglichkeit der Veröffentlichung des Beitrags.

 

Johannes von Thadden

Johannes von Thadden

Johannes v. Thadden, CEO von Draco Aircraft in Warschau, war bis vor einem Jahr Co-Vorsitzender der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und ist Stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundesverbandes Deutsch-Polnischer Gesellschaften.

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