In der Slowakei regieren heute Oligarchen, und das ist kein gelungenes Projekt – meint der Soziologe Michal Vašečka im Gespräch mit Aureliusz Marek Pędziwol.
Aureliusz M. Pędziwol: Hat es dich überrascht, dass die Slowaken Robert Fico wieder an die Macht gebracht haben – obwohl sie ihn zuvor zweimal abgewählt hatten?
Michal Vašečka: Es war absehbar, dass nach drei Jahren Chaos und inkompetenter Regierungsführung während der Pandemie unter dem damaligen Premierminister Igor Matovič seine Partei die Wahlen im Jahr 2023 nicht gewinnen würde. Überrascht hat mich hingegen, dass sich der sich selbst als Sozialdemokrat bezeichnende Robert Fico nach der Wahlniederlage im Jahr 2020 auf einen Weg des Extremismus und der Zusammenarbeit mit Neofaschisten begeben hat – und damit zusammen mit seiner Partei Smer (Richtung) alle roten Linien überschritt, die demokratische Politiker nicht überschreiten dürfen. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang auch nicht ganz unbedeutend, dass Fico bis 1989 Mitglied der Kommunistischen Partei war.
Fico und seine politischen Mitstreiter haben die Menschen mobilisiert und radikalisiert – durch Desinformation, Angstmache und die Stigmatisierung der Opposition. Es hat sich herausgestellt, dass genau das für viele von ihnen zur dominierenden Fähigkeit geworden ist; genau darin sind sie besonders gut. Und genau solche Leute behindern heute das Funktionieren des Staates. Und dieser Staat funktioniert nun nicht mehr.
Die Koalition, die zuvor regierte, hat allerdings auch viele Fehler gemacht.
Das stimmt. Zwar regierten die Kabinette Matovičs und Hegers ab 2020 unter den Bedingungen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine, aber vor allem waren sie die chaotischsten Regierungen der Slowakei seit 1989. Genau dieses ganze Chaos und all die irrationalen Entscheidungen, die in diesen drei Jahren getroffen wurden, haben Fico so viele Anhänger eingebracht.
Wie steht es also um die Slowakei? In den frühen 1990er-Jahren wählte sie Mečiar, konnte sich aber 1998 doch von ihm abwenden. Viermal wählte sie Fico, aber zweimal hat sie ihn auch wieder abgewählt. Was sagen soziologische Studien dazu?
Genau das, dass diese Erzählung unterschiedlich ausfallen kann. Mal ist es die Botschaft Mečiars oder auch Ficos – mit all ihren Attributen. Ein anderes Mal ist es die bürgerliche und prowestliche Erzählung der Eliten, denen es gelungen ist, die Demokratie zu bewahren – obwohl die Mehrheit der slowakischen Öffentlichkeit antiamerikanisch, antiwestlich, prorussisch und autoritär eingestellt ist.
Und eben diese zweite, die andere Seite der Slowakei, hat Zuzana Čaputová zur Präsidentin gewählt…
…und zuvor Andrej Kiska. In der Slowakei gibt es ein paar Tausend Menschen, die man im normativen Sinne als Eliten bezeichnen kann. Diesen Menschen ist es über 35 Jahre hinweg gelungen zu verhindern, dass der Staat vollständig entführt und weit in den Osten gezogen wird. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO erschwert ein solches Vorgehen zweifellos.
Der Preis dafür ist hoch. Dieser Staat funktioniert nicht gut.
In gewissem Sinne ist er jedoch tatsächlich entführt worden und hat sich von dem politischen Kurs verabschiedet, der während der Samtenen Revolution und unter Premierminister Dzurinda in den Jahren 1998–2006 eingeschlagen wurde – jener, der alle wichtigen Reformen durchsetzte und das Land in die NATO und die EU führte. Infolgedessen besteht die größte Herausforderung heute nicht mehr so sehr im Dilemma, ob die Slowakei eine liberale oder nur eine prozedurale Demokratie sein wird, sondern in der Gefahr, dass sie anstatt mit Schwierigkeiten zu funktionieren, nur noch ums Überleben kämpfen wird. Oder dass sie zwar funktioniert, aber als autoritärer Staat.
Das ist kein rein slowakisches Problem.
Einverstanden. Aber wenn man sich beispielsweise die Wirtschaft des Landes oder seine Infrastruktur anschaut, sieht man, dass sich Polen kontinuierlich weiterentwickelt – mal schneller, mal langsamer, aber doch stetig. Und das unabhängig davon, ob Tusk oder Kaczyński regiert. Die Slowakei hingegen, einst wohlhabender als Polen, durchlebt derzeit eine tiefe Regression. Wir haben es also mit zwei Problemen zu tun – einem politischen und einem wirtschaftlichen. Und Fico ist weder vorbereitet noch in der Lage, eines von beiden innerhalb eines demokratischen Systems zu lösen.
Und das dritte Problem ist die Haltung gegenüber der Ukraine?
Ja. Die Slowakei ist stärker für Putin, pro-russischer und vor allem viel anfälliger für Verschwörungstheorien als andere Länder in Mittelosteuropa.
Sogar stärker als Bulgarien. Zumindest laut den Umfragen von GLOBSEC TRENDS.
Die russische Propaganda war in der Slowakei über viele Jahre hinweg äußerst effektiv. Es ist ihr gelungen, einen beträchtlichen Teil der slowakischen Gesellschaft zu verwirren. Verschwörungstheoretiker stellen in der Slowakei inzwischen die Mehrheit. Natürlich gibt es solche Menschen in allen Ländern – aber das Ausmaß ist unterschiedlich.
Was also sollte die slowakische Opposition tun, deren stärkste Kraft die liberale Partei ist? Übrigens ist es bemerkenswert, dass ein großer Teil der slowakischen Wählerschaft für Populisten stimmt und ein ebenfalls beträchtlicher Teil für Liberale.
Die liberale Partei „Progressive Slowakei“ kommt laut manchen Umfragen bereits auf 24 Prozent Zustimmung. Das ist wirklich viel, wenn man bedenkt, dass der Liberalismus in der Slowakei keine große Tradition hat.
Und die zweite liberale Partei, SaS – also Freiheit und Solidarität?
Die liegt bei etwa fünf Prozent.
Zusammen also fast 30 Prozent. Was bedeutet das?
Dass „Progressive Slowakei“ nun auf die Fehler der Regierung Fico wartet.
Reicht das?
Es reicht für einen Wahlsieg, aber möglicherweise nicht, um eine Regierung zu bilden. „Progressive Slowakei“ möchte zeigen, dass Fico nicht regieren kann – was der Wahrheit entspricht. Er regierte stets nach jemandem, der zuvor die Finanzen und den Staat konsolidiert hatte. Wenn er an die Macht kam, war der Tisch reich gedeckt. Und er hat alles verteilt.
So war es auch, als er 2006 zum ersten Mal antrat, nach acht Jahren der Regierung Dzurindas, die eine Zeit großen Aufschwungs war. Nach vier Jahren kam die Rechte zurück an die Macht – aber nur für zwei Jahre. Hat sie es geschafft, die Slowakei wieder auf die Beine zu stellen?
Nein, aber als Fico 2012 zurückkam, war der Staat erneut ausreichend konsolidiert. Sowohl beim ersten als auch beim zweiten Mal, als er die Macht übernahm, war das politische Wetter sonnig und angenehm. Aber jetzt ist es schlecht, sehr schlecht.
Und ihm bricht der Haushalt zusammen.
Ihm bricht alles zusammen – das ganze Land. „Progressive Slowakei“ kann also mit Erfolg rechnen. Das Problem ist jedoch, ob die demokratischen Parteien eine Mehrheit im Parlament erreichen können. In den Umfragen kommen sie seit Längerem auf rund 40 Prozent. Optimisten sagen zwar, dass Fico keine bedeutende Mehrheit im Parlament hat. Das Problem ist aber: Drei Parteien, die ihn unterstützen könnten, haben es nicht ins Parlament geschafft. Hätten sie es geschafft und wären in die Koalition eingetreten, hätte seine Regierung theoretisch sogar eine verfassungsändernde Mehrheit haben können.
Welche Parteien sind das?
Die rechtsextreme „Republika“, die fast fünf Prozent erreichte. Sehr nah an fünf Prozent lag auch die Orbán-nahe ungarische Koalition. Und schließlich die populistische „Sme rodina“ (Wir sind Familie), die zweieinhalb Prozent erhielt. Fico hat also das Potenzial, auch nach den nächsten Wahlen erneut eine Regierung zu bilden – selbst wenn die demokratische Partei „Progressive Slowakei“ sie gewinnt.
Und kann nach Mečiar und Fico ein weiterer Volkstribun erscheinen, der erneut die Massen mitreißt?
Ein solches Risiko besteht. Wir kennen seinen Namen nicht, wir wissen nicht, welche Partei er anführen wird, aber sie wird mit Sicherheit antieuropäisch und autoritär sein.
Weil die Slowaken sich eine Regierung der starken Hand wünschen?
Genau. Das Wahlergebnis von 2023 war kein Ausreißer, und es lag nicht nur daran, dass die Regierung Matovičs für die Slowakei zum Unglück wurde. Vielmehr ist es so, dass ein großer Teil der Slowaken – vielleicht sogar die Mehrheit – sich eine Politik der starken Hand wünscht. Ja, die Slowaken wollen einen Anführer. Vielleicht sogar einen Erlöser.
Und ihre Haltung zum Krieg Russlands gegen die Ukraine? Deckt sich diese mit dem, was Fico sagt?
Er hat ein Problem, denn im Wahlkampf hat er ständig wiederholt, dass er gegen den Krieg in der Ukraine sei – und gleichzeitig gegen die ukrainische Regierung. Fico versucht, es allen recht zu machen, der Freund von allen zu sein – von Moskau, Brüssel, Washington und Berlin. Und zugleich will er den Erwartungen seiner Wähler gerecht werden, von denen die Mehrheit offen antieuropäisch und prorussisch ist.
„Wir wollen eine Brücke sein“, weil die Slowakei weder im Osten noch im Westen liegt?
Ganz genau. Nur ist so eine Strategie gut in sonnigen Zeiten, wenn nichts passiert und für uns keine Werte zählen außer einem: so gut wie möglich zu überleben. Aber jetzt herrscht Krieg, und wer sagt, er sei mit allen befreundet, ist in Wirklichkeit niemandes Freund. Niemand hält ihn für einen verlässlichen Partner. Die Slowakei ist heute ein Staat, mit dem niemand spricht. Diesmal funktioniert Ficos Politik, in alle vier Himmelsrichtungen zugleich zu schauen, nicht mehr. Wahrscheinlich deshalb, weil sich letztlich gezeigt hat, dass er prorussisch, für Putin und für Trump ist.
Die Slowakei hat zwei Partner aus der Visegrád-Gruppe verloren, aber einen gewonnen. In der EU und in der NATO ist eine antieuropäische und NATO-skeptische Koalition entstanden: Orbán und Fico. Welche Konsequenzen zieht dies nach sich?
Es gibt allerdings Unterschiede. Orbán spielt dieses Spiel offen. Mit der AfD in Deutschland, mit Marine Le Pen in Frankreich, mit Giorgia Meloni in Italien. In Washington hat er sogar einen Think Tank gegründet, um Einfluss auf die Republikanische Partei zu nehmen. Auf der Sommerschule in Rumänien, die er jedes Jahr besucht und wo er stets mit markigen Sprüchen auffällt, sagte er diesmal: Europa sei vorbei, die Zukunft der Welt liege in Asien. Deshalb würden wir Ungarn mit Asien kooperieren, denn von dort stammten unsere Vorfahren.
Das ist nicht Ficos Position. Außenpolitik hat ihn nie interessiert, er hat sich auf keine solchen Spiele eingelassen. Er will einfach nur regieren. Und man muss sagen: Das gelingt ihm. Manche dachten, Brüssel werde unzufrieden sein …
Ist es das nicht?
Vielleicht schon, aber man sieht keine Folgen. Fico verhält sich aus Sicht Brüssels inakzeptabel, doch das hat keine Konsequenzen. Die Gelder aus den EU-Fonds fließen weiter.
Das heißt, Europa muss sich überlegen, wie es mit solchen Leuten wie Orbán und Fico umgehen will?
Ja, denn mit Orbán kommt man seit über einem Jahrzehnt nicht zurecht. Mit Fico seit einem Jahr.
Und bald könnte auch Andrej Babiš hinzukommen.
Und bald vielleicht auch Andrej Babiš in Tschechien und Herbert Kickl in Österreich. Ich verstehe, dass man aus der EU niemanden ausschließen darf – so sind die Regeln dieses Clubs. Aber wenn sich jemand in diesem Club nicht an die gemeinsamen Normen hält, dann muss man konsequent Sanktionen anwenden. Sonst macht er einfach weiter. Orbán und Fico werden weitermachen wie bisher.
Hat die slowakische Opposition irgendwelche Ideen, wie man Fico aufhalten kann – insbesondere im Hinblick auf die Ukraine? Gibt es solche Ideen bei slowakischen Experten, zum Beispiel bei Michal Vašečka?
Die „Progressive Slowakei“ wartet auf Ficos Fehler, um zu zeigen, dass er nicht regieren kann. Dabei müsste man radikaler handeln. Zurück zu den Anfängen. Nach 32 Jahren unabhängiger Staatlichkeit zeigt sich: Das Projekt Slowakei ist nicht besonders gelungen. Die Slowakei entstand ohne Zustimmung ihrer Bürger, ohne Referendum, und Mečiar schuf eine Oligarchenschicht, die das Land bis heute regiert – wie in Russland.
Dagegen muss man etwas tun, nur auf Fehler zu warten, reicht nicht. Ich sehe den Ausweg darin, die Slowakei neu zu bauen, ein neues Staatsethos zu schaffen. In Frankreich gibt es die Fünfte Republik, in Polen die Dritte Republik. Auch die Slowaken könnten eine Dritte haben.
Arbeitet jemand bereits an einem solchen Projekt?
Es gibt einige Ideen von Intellektuellen, aber sie reichen nicht aus. Die Slowakei braucht vor allem strukturelle Veränderungen im Bereich von Ideen und Werten – und daraus resultierende politische und institutionelle Reformen.
Die Zweite Slowakische Republik entstand ohne Zustimmung ihrer Bürger. Ihr Fundament besteht aus Manipulation, Lügen, Missachtung der Menschen, Unehrlichkeit, Misstrauen. Die Zivilgesellschaft hat schon dreimal gezeigt, was sie davon hält. Eigentlich sogar viermal: Im November 1989 vereinigten sich die Menschen unter dem Slogan „Gesellschaft gegen Gewalt“, 1998 wandten sie sich gegen Mečiars Manipulationen, 2018 demonstrierten sie „für eine anständige Slowakei“ – und in diesem Jahr fordern sie die Einhaltung der mit unseren Verbündeten geschlossenen Verträge, die unsere prowestliche Orientierung garantieren.
Man kann also sagen: Die Bürger dieses Staates haben bereits das ideelle Fundament für die Slowakei der Zukunft gelegt. Jetzt muss nur noch eine politische Kraft entstehen, die in der Lage ist, diese Ideen in einen Staat, in Institutionen zu verwandeln – und dem Land eine echte Erfolgschance zu geben.
Michal Vašečka – Soziologe, beschäftigt sich seit Jahren mit ethnischen Fragen sowie der Erforschung von Populismus und Extremismus. Er studierte an der Masaryk-Universität in Brünn und an der New School University in New York. Seit 2017 ist er Direktor des Bratislava Policy Institute, seit 2012 vertritt er die Slowakei in der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) beim Europarat in Straßburg. Er ist Vorsitzender des Redaktionsrats der Zeitung Denník N, eine der führenden Tageszeitungen in der Slowakei.
Aureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.
Danke dafür, Näheres über die Slowakei zu erfahren!
Gleichzeitig regt das an, über gegenwärtige und künftige Strategien in der EU nachzudenken und zudem über Europa insgesamt.
Europa hat in seiner Rolle in der sich im Wandel befindlichen Welt eher zugenommen anstatt abgenommen.
Die Betrachtungsweisen sind zugegebenermaßen unterschiedlich.
Mehr Versöhnliches gegenüber anderem und anderen wäre vielleicht angebracht anstatt Schüren von Hass – verbunden mit dem Motto ZAHN UM ZAHN, so jedenfalls mein Eindruck.