In ihrer jährlichen Rede zum Zustand der Europäischen Union vom September 2022 sprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von einer Lektion für Europa, die der Krieg in der Ukraine erteile: Wir hätten auf die Stimmen der Nachbarn der EU hören sollen, darunter der östlichen Nachbarn, aller, die mehr mit Russland zu tun gehabt hatten, insbesondere derer, welche die dortigen Verbrechen enthüllten und dafür manchmal den höchsten Preis zahlten, wie die unabhängige Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006 ermordet wurde.
Ich komme auf diese Geschichte aufgrund persönlicher Erfahrung zu sprechen. Anna Politkowskaja nahm 2004 in Stockholm den Olof-Palme-Preis entgegen. Die Ko-Organisatoren der Preisvergabe von der örtlichen Zeitung „Dagens Nyheter“ vermittelten mir Anna Politkowskajas Wunsch, der polnische Botschafter möge anwesend sein, und das war ich damals. Sie befürchtete eine Provokation, sie hatte, soweit bekannt, ungemeine Angst vor angeblicher Überwachung. Sie erzählte mir später, wie wichtig es für sie sei, in Polen veröffentlichen zu können und welch tiefen Sinn das ihren Unternehmungen verleihe. Sie fragte, was noch passieren müsse, damit der Westen das mitbekomme und den Schluss ziehe, die osteuropäische Erfahrung könne ganz und gar Bestandteil einer gemeinsamen, kollektiven europäischen Identität werden.
Ursula von der Leyens mahnende Worte von vor drei Jahren klingen heute wie ein Bekenntnis, seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben. Sie waren eine Bereitschaftserklärung dazu, die östliche Erfahrung als eigene, gesamteuropäische anzuerkennen. Sie brachten einen dezidierten Willen zum Ausdruck, die Vektoren neu auszurichten. In der Tat, die EU beschloss, östlicher zu werden. Bereits der Besuch der Kommissionspräsidentin in Kyjiw vom April 2022 hatte diese Entschlossenheit bekundet. Sie übergab damals Präsident Selenskyj einen Fragebogen zum Ausfüllen – der erste Schritt zur Beantragung des EU-Beitritts, obwohl die Mehrheit der Regierungschefs nicht dahinterstand. Von der Leyen handelte politisch, indem sie ihre persönliche und der EU-Kommission Zukunft mit derjenigen der Ukraine verband. Sie hörte nicht auf die Experten, die gern mal Haarspalterei betreiben. So wurde die Ukraine eigentlich schon in die als Schicksalsgemeinschaft verstandene Europäische Union aufgenommen.
In den europäischen Gesellschaften und ihren Führungsschichten spielt sich eine Revolution des Denkens ab. Sie blicken nicht länger durch die russische Brille gen Osten, sondern vermögen dort Akteure eigener Identität und Wesenheit zu erblicken. Sie dachten, die Ukraine und Moldawien gut zu kennen, doch in Wirklichkeit kannten sie nur das russische Narrativ zu diesen Ländern. Und das ist nicht dasselbe. Daher war es allzu leichtgefallen, ihnen einzureden, die Ukrainer seien lauter Nationalisten und Faschisten. Heute müssen wir uns fragen, ob Putins Revisionismus nicht irgendwie darauf zurückgeht, dass der Westen die Erfahrungen Ostmitteleuropas ignorierte.
Menschen machen Geschichte
Vielleicht wäre die Europäische Union besser auf die durch den russischen Angriff auf die Ukraine verursachte Erschütterung vorbereitet gewesen, hätte der Herbst der Völker von 1989 höheren Stellenwert in der europäischen Erinnerung gehabt und wären seine Bedeutung und weitreichenden Folgen besser reflektiert worden. Aus Sicht unserer Region bedeutet das Jahr 1989 die Vereinigung Europas, gewissermaßen seine zweite Begründung, die sich ansonsten nur mit der Lage nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen lässt. Doch in Westeuropa bürgerte es sich ein, die Vorgänge vom Anfang der 1990er Jahre lediglich als den Zerfall von ineffizienten gesellschaftspolitischen Systemen an der Peripherie zu sehen. Aus dieser Sicht waren das Aufbegehren der Gesellschaften und ihre geschichtsmächtigen Entscheidungen nichts weiter als eine unbedeutende Fußnote der Geschichte. Noch schlimmer, man verschloss damit die Augen vor dem wirklichen Wesen der neuen Gemeinschaften, die in den 1990er Jahren nicht zuletzt von Menschen mit Lebenserfahrung aus Zeiten der Diktatur aufgebaut wurden. Diese beteiligten sich daran und bereicherten sie mit ihren Ambitionen, ihrem Wissen, ihren Werten und Träumen. Und oft zahlten sie einen hohen Preis für ihr Streben nach Freiheit.
Thomas Kretschmer, ein von der Solidarność faszinierter Künstler und Oppositioneller aus Thüringen, verschickte Karten mit Neujahrswünschen für das Jahr 1981 mit der Aufschrift „Lernt Polnisch“, was mit Blick auf die DDR-Führung politisch ein Wink mit dem Zaunpfahl war. Diese äußerte sich dazu nicht, doch sie verstand sehr wohl, denn sie verurteilte Thomas Kretschmer zu vier Jahren Gefängnis, von denen er drei Jahre und sieben Monate absaß. Die Stasi verstand nicht den leisesten Humor. Dieses und andere Beispiele erklären, weshalb es in den Gesellschaften des ehemaligen Sowjetblocks heute leichter fällt, einen antitotalitären Konsens zu erzielen, und schwerer zu verstehen ist, wie sich jemand mit Diktatoren verständigen und mit ihnen Geschäfte machen kann.
Der neue Sinn für die Gemeinschaftlichkeit, also der zeitgenössische Umbruch in Europa, kommt in dem Verständnis zum Ausdruck, wie dringend die Expertise des Ostens gebraucht wird, um sich den Herausforderungen der neuen Imperialismen zu stellen. Und warum es dabei nicht ausreicht, sich als Westen im Sessel zurückzulehnen und abzuwarten, bis die östlichen EU-Länder heranreifen und sich dem Westen angleichen. Anzunehmen, der Westen sei die Norm und alles andere eine Abweichung davon. Antworten auf die aktuellen Herausforderungen müssen wir alle gemeinsam finden. Die größte Herausforderung besteht darin, die EU aus einer Regelwerkfabrik in eine Schicksalsgemeinschaft zu verwandeln, die Verteidigungsfähigkeit der EU zu stärken und sie als geopolitischen Akteur so konsolidieren.
Die Aufarbeitung des gesellschaftspolitischen Umbruchs von 1989 im europäischen Bewusstsein ist noch aus einem anderen, möglicherweise dem wichtigsten Grund von so zentraler Bedeutung. 1989 lieferte die historische Gelegenheit zur Erweiterung von EU und NATO, anders ausgedrückt, der Umbruch ließ die Freiheit triumphieren, ermöglichte denjenigen Staaten die freie Wahl ihrer Bündnisse, die zuvor dazu nicht in der Lage waren und schon den Glauben zu verlieren begannen, das könne sich jemals ändern. Diesen Glauben brauchen wir heute wieder ganz besonders. Denn nicht so lange her, im Februar 2025, bekamen wir während der Münchner Sicherheitskonferenz zu hören, wie sehr die Welt dabei ist, zum Konzert der Mächte zurückzukehren, anders gesagt zu einer Konstellation, in der die Angelegenheiten der Welt lediglich von denen bestimmt werden, die nur an das Argument der Stärke glauben. Aber die Europäische Union stützt sich auf mehr als auf die Stärke der Argumente, um eine reale Alternative zu bieten. Sie besitzt Willen und Werkzeuge, um eine Macht unter Mächten zu werden, um eine Sprache der Führung zu sprechen und nicht nur universelle und sichere Wahrheiten zu verkünden. Namens der Wahrung der Errungenschaften von 1989 sollten wir alles daransetzen, damit aus dem damaligen Triumph der Freiheit auch andere Nutzen ziehen können. Von diesem Weg abzuweichen, bedeutete die Rückkehr zur Unfreiheit, zu dem Unglück, mit dem uns die vergangenen Jahrhunderte so reich bedacht haben.
Europa in einer nach-westlichen Welt
Wie alles, so hat auch die Neuausrichtung auf den Osten ihre pathologischen Aspekte. Dazu gehört das Narrativ von Osteuropa, das seine eigenen Besonderheiten und Stolz habe und sich daher beispielsweise nicht das westliche Modell von Rechtsstaatlichkeit aufzwingen lasse. Auf diese Art wurde bis 2023 in Warschau und weiterhin in Budapest die absurde Auseinandersetzung mit Brüssel und seinen Werten gerechtfertigt, die ersichtlich aus den Rechtsgrundlagen der EU hervorgehen. So, als ob die Anerkennung dieser Werte der Interpretation unterliege und sich an das jeweilige Lokalkolorit anpassen müsse. Doch zugegebenermaßen lieferte die im Westen obwaltende Nichtanerkennung der Rolle der osteuropäischen Oppositionsbewegungen vor dem Fall des Kommunismus einen geeigneten Vorwand für die Apologeten solcher Gedankenkonstrukte in unserer Region. Diese konnten ohne Hemmung hinausposaunen, der Westen liebe und verstehe uns nicht. Und leider fanden sie im Westen manches Mal bereitwillige Abnehmer für dieses Narrativ.
Zunehmend haben wir es damit zu tun, dass der Sinn des Umbruchs von 1989 auf den Kopf gestellt wird: Das sei gar kein Jahr der Revolution und der Befreiung der Gesellschaften gewesen, sondern ein Jahr der Unglücke, deren Folgen erst von den „wirklichen“ Revolutionen zu überwinden seien. Wie von der illiberalen Revolution in Ungarn 2010, die dem Land endlich wirtschaftlichen Erfolg und Stabilität garantiere; und wenn jemand diesen Erfolg gefährde, dann das Brüsseler Diktat. In Polen hieß es 2015, es müsse eine neue Revolution verkündet werden, und zwar nicht, um die Fehler der Transformation zu korrigieren, sondern um die historische Bedeutung der Gespräche am Runden Tisch von 1989 zu relativieren. Aus derselben Gesinnung rühren Gefühle der Benachteiligung nach der deutschen Wiedervereinigung und deren politischen Instrumentalisierung in den neuen Bundesländern.
Diese Umwertung der Geschichte soll uns vor allem daran hindern, unsere Defizite nicht dort suchen, wo sie tatsächlich stecken, sondern dort, wo sie die Scharlatane der Politik auffinden wollen. Es handelt sich dabei nur um eine der rhetorischen Formeln, die genutzt werden, um Ressentiments gegen Brüssel zu schüren. Diese Formeln lassen sich nicht unbedingt miteinander vereinbaren, aber sie sorgen in der Summe für ein gespaltenes und schwaches Europa, das wirtschaftlichem Druck von außen nichts entgegenzusetzen hat. Nach den Wahlen in den Vereinigten Staaten handelt es sich nicht mehr um ein bloß theoretisches Problem. Sollte sich der transatlantische Anker losreißen, könnte das in Europa eine furchteinflößende Eruption auslösen.
Die antieuropäischen Parteien haben gemeinsam, für Putins Russland merkwürdig viel Verständnis aufzubringen und einen falschen und illusionären Frieden mit der Ukraine zu befürworten. Schließlich, so sagen sie, gehe es in Verhandlungen stets um die Suche nach Kompromissen, um Gesichtswahrung und um die Erfüllung von Bedingungen, welche die andere Seite zufriedenstellen. Aber was ist, wenn die andere Seite, hier also Russland, gar nicht zufriedengestellt werden will, weil sie die Führung der Unzufriedenen anstrebt? Wenn sie den Westen zurückweist, nicht weil dieser etwas tut, sondern für das, was er darstellt? Dann braucht diese andere Seite eine auf Dauer instabile und geschwächte Ukraine. Im Verhältnis zwischen Aggressor und Opfer kann die Lösung logischerweise nicht in Zugeständnissen durch das Opfer bestehen. So bleibt in dieser Lage nur eine effektive Abschreckung seitens eines die Reihen schließenden Europas.
Die hier beschriebene Realität wird bisweilen das „nachwestliche“ Europa genannt, das von Ressentiment und antiwestlichem Populismus geprägt sei. Der Ukrainekrieg ist zum Vorwand geworden, viele negative Erinnerungen und Vorwürfe an den Westen wiederzubeleben. Wenn ich mit Gesprächspartnern in entfernten Ländern spreche und erkläre, Unterstützung für die Ukraine sei heute der Lackmustest für politischen Anstand, fragen sie mich regelmäßig, wo denn Europa gewesen sei, als ihre Länder von ihren Nachbarn überfallen wurden. Fast alle haben Nachbarn, die sie einstmals überfielen, und der Westen hat sie damals vergessen.
Wir suchen fieberhaft nach Antworten auf die Anzeichen dafür, dass die Welt, wie wir sie kennen, im Vergehen ist. Erstens ist der globale Süden noch nicht bereit dazu, die Konzeptionen des Westens zu übernehmen; er bekundet den Ehrgeiz, die neue Ordnung mitzugestalten. Unsere europäische Neigung, Proselyten für die Demokratie zu machen, wird offenbar immer weniger mit Erfolg gekrönt. Der finnische Präsident Alexander Stubb empfiehlt daher einen anderen Ansatz, den er „auf Prinzipien beruhenden Realismus“ nennt. Er meint damit eine Außenpolitik, die Wahrung von Werten mit Kompromissen im Bereich der Interessen verbindet. Seiner Meinung nach rechnen wir zu viele Länder, mit denen wir einen kritischen Dialog führen, den Autokratien zu, statt unsere zumindest partiellen Interessengleichheiten zu identifizieren.
Zweitens brauchen wir sichtbare Erfolge dabei, mit der liberalen Demokratie den realen Ängsten der Bürger zu begegnen, etwa auf dem Feld der Migrationspolitik. Die Annahme ist falsch, zur Lösung schwieriger Probleme müsse die liberale Demokratie aufgegeben werden, wie die Populisten behaupten. In Polen wird traditionell eine Debatte geführt, die offene Gesellschaft im Sinne Karl Poppers vor der Selbstvergiftung bewahren zu müssen, das heißt vor dem Fall unter der Last irrealer Gewissheiten. Die Forderung des Augenblicks ist, den Leuten den Glauben an politische Lösungen zurückzugeben, wie sie von offenen Gesellschaften dargeboten werden.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Der Beitrag ist in der Ausgabe Nr. 150 des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG erschienen
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