Zum Inhalt springen

BERLIN – BERLIN – Mein Berlin

Zum 85. Geburtstag wünschen wir, die Redaktionen des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG, Danziger Przegląd Polityczny sowie DIALOG FORUM, Joachim Trenkner alles Gute. Der nachfolgende Text erschien 2018 in polnischer Fassung im Przegląd Polityczny Nr. 151/152. 

 

Von Joachim Trenkner

 

Blick auf Berlin

„Du bist verrückt mein Kind,
Du musst nach Berlin,
wo die Verrückten sind,
da gehörst Du hin“.

Spott-Lied aus der Gründerzeit im späten 19. Jahrhundert.

 

Berlin ist hip, die coolste Stadt Europas, die Party-Hauptstadt der Welt. So schallt es von außen nach Deutschland hinein.  Die großen Zeitungen in England oder Amerika berichten voller Begeisterung über Berlin – das war am Ende des Jahres 2018 und an der Schwelle zu 2019. Die „Times“ aus London schwärmte von Berlin als einem „Titan Europas“, der „Economist“ attestierte der Stadt „moderne Internationalität“, die „New York Times“ empfand Berlin als ein „Paradies für Kinder“ mit exzellentem öffentlichem Transportsystem und lobte zugleich die vielfältige nächtliche Partyszene. Der britische „Guardian“ begeisterte sich für die bunte Berliner Start-up-Szene als „hip hub for innovators“ und sah sogar ein neues „Silicon-Valley“ heranwachsen.

Wow! So viel Lob gab’s selten für die deutsche Hauptstadt. Doch es stimmt schon: In Berlin wird mehr als anderswo halbwegs erfolgreich klassenloses Zusammenleben praktiziert, man nennt das „Multikulti“. Es ist eine liberale Stadt, die jedem seinen Raum bietet. Toleranz wurde hier seit jeher großgeschrieben, schon Preußens König Friedrich II. versprach seinen Untertanen, „jeder solle nach seiner Façon glücklich werden“.  Kulturell und gastronomisch ist Berlin heute ein Supermarkt auf hohem qualitativem und quantitativem Niveau zu relativ günstigen Preisen.  Die Kunst, das Theater, die Musik (die „Times“ nannte Berlin einmal die „Welthauptstadt der Musik“ mit den „Berliner Philharmonikern“, vier anderen herausragenden Orchestern und drei Opernhäusern), aber auch die Techno-Clubs, die Bars, die Markthallen, die Food-Szene, die Mode- und Designerbranche, sie können sich sehen lassen. All das trägt zur Attraktivität Berlins bei. Vielleicht hält auch die große Begeisterung aus den Jahren nach dem Fall der Berlin Mauer noch an: die Dauerparty, die Metropole für Lebenskünstler, das Experimentelle und Unfertige, dieses große Freiheitsversprechen, das damals von Berlin aus in die Welt gesendet wurde. „F r e i h e i t schöner Götterfunken“ – unter diesem Motto dirigierte damals der unvergessliche Leonard Bernstein Beethovens berühmte Neunte Symphonie in der Berliner Philharmonie.

All das mag zutreffen auf das Berlin von heute mit seiner stetig und schnell wachsenden Bevölkerung, von der jeder vierte ausländische Wurzeln hat. Über 3.7 Millionen Menschen aus 190 Ländern leben hier – die 4 Millionengrenze ist fast schon greifbar. Hinzu kommt der Massentourismus, inzwischen liegt Berlin bei Besucherzahlen auf Platz drei in Europa dicht hinter London und Paris. Und ein wenig stolz mögen die alteingesessenen Berliner auch sein auf die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte und auf das viele Lob weltweit. In tiefster Seele aber ist die Reaktion eines Urberliners eher skeptisch. Bei zu viel Lobpreisung sagt er lapidar: „Na, hahm Sie’s nicht ’ne Nummer kleener“.

Eigentlich ist Berlin ja nur eine „zur Millionenstadt gewordene Siedlung germanischer Ackerbauern und wendischer (also slawischer) Fischer“, wie der berühmte Kunstkritiker Karl Scheffler in seinem kritischen Essay „Berlin – ein Stadtschicksal“ vor gut einhundert Jahren feststellte. Berlin ist immer eine Art „Kolonialstadt“ gewesen und ist es bis heute geblieben, eine Stadt der Zugezogenen oder, wie man jetzt sagen würde, der Migranten, eine Stadt der immer wieder neuen Begierde. Zu Beginn waren es Slawen, später kamen aus Spanien vertriebene Juden und aus Frankreich geflohene Hugenotten hinzu. Schlesische Handwerker und polnische Arbeiter bevölkerten die Stadt nach dem industriellen Aufbruch im späten neunzehnten Jahrhundert, in Zeiten der Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Wehrdienstverweigerer aus allen westdeutschen Regionen (denn in Westberlin gab es keine Wehrpflicht) und danach, nach dem Fall der Mauer, siedelten sich schwäbische Start-up-Unternehmer und  Bonner Beamte in der wieder vereinten Stadt an. Hinzu kamen jede Menge EU-Bürger abermals aus Polen oder Rumänien – und noch mehr Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan, von den vielen Türken und Russen und Vietnamesen, die längst hier waren, ganz zu schweigen.  Das große Völkergemisch: Es lebte und lebt ziemlich friedlich und meistens kreativ nebeneinander und miteinander im großen Menschen-Laboratorium Berlin.

NEUNZEHNHUNDERT –  4 9

Meine erste Begegnung mit Berlin fand 1949 statt. Ich war damals noch keine 14 Jahre alt, aber die Wirkung dieses eintägigen Besuches auf mich war prägend und nachhaltig. Bildhaft genau erinnere ich mich daran, wie meine Eltern mit mir in unserem klapprigen Vorkriegs-DKW  über die Avus, die bekannte Auto-Rennstrecke, fuhren, dann den Funkturm erblickten und schließlich in den Kurfürstendamm, den berühmten „Kudamm“, einbogen. Wir fuhren durch eine riesige Trümmerlandschaft. Nicht einmal vier Jahre waren vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seit den Bombennächten, der „Schlacht um Berlin“, dem erbitterten Häuserkampf. Überall waren die Folgen des Krieges sichtbar, der 10 Jahre zuvor, im August 1939, in Berlin geplant und mit dem Überfall auf Polen von Berlin aus begonnen worden war.  Allerdings nicht von Berlinern. Die hatten sich gegenüber den Nationalsozialisten weitgehend verweigert und niemand aus Hitlers verbrecherischen Führungsmannschaft stammte aus Berlin.

Die Fahrt über den zerstörten Kurfürstendamm schien – in meiner Erinnerung jedenfalls – endlos zu sein. Erst als wir uns der Zoo-Gegend näherten, war schon wieder neues Leben erwacht, da waren manche der markanten Gebäude bereits wieder halbwegs hergerichtet, die Cafés und einige Kinos. Chromglitzernde neue Autos fuhren auf und ab. Die Läden boten exotische Produkte an, Schuhe mit dicken Kreppsohlen, „Sambalatschen“ genannt, oder bunte Hawaii-Hemden. Westliche Mode aus Amerika. All das war ungeheuer beeindruckend für einen Teenager aus der ostdeutschen Provinz. Mein Vater parkte seinen schmächtigen DKW vor einem der Kinos direkt neben einem gigantischen Buick, einem Automobil aus Amerika. Ein komischer Kontrast ist das gewesen: dieses winzige alte graue Auto mit einer Karosserie aus Holz und Kunststoff neben dem riesigen „Straßenkreuzer“ aus Blech und Chrom und mit roten Ledersitzen. Das alles vor einem Berliner Kino, in dem gerade „Ein Amerikaner in Paris“ nach der jazzigen Musik von George Gershwin gespielt wurde.

Berlin – von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs besetzt und unter Briten, Franzosen, Amerikanern und Sowjets in vier Sektoren aufgeteilt – hatte gerade die erste große Krise der Nachkriegszeit überstanden, die sogenannte Blockade. 1948 sperrte die Sowjetunion die Verkehrswege zu den westlichen Sektoren der ehemaligen Kriegsverbündeten Amerika, Frankreich und  Großbritannien für fast ein Jahr radikal ab, allein der Flugverkehr zwischen dem westlichen Deutschland und dem westlichen Berlin blieb unbehindert. Die Folge: Elf Monate lang versorgten vor allem die Amerikaner über eine „Luftbrücke“ die gut 2 Millionen West-Berliner aus der Luft. Eine militärische und vor allem moralische Meisterleistung, die aus Besatzern rasch Beschützer machte.  Die sowjetische Blockade, die im August 1949 wieder aufgehoben wurde, markierte den Beginn des „Kalten Krieges“ in Europa und zugleich den Beginn der Teilung Berlins. Die Berliner aber, sie atmeten erst einmal durch und erinnerten sich an ihr Motto bei Kriegsende: Hurra, wir leben noch!

Damals konnte man zwischen Ost und West noch weitgehend ungehindert hin und her fahren, politisch und ökonomisch aber war die Stadt schon gespalten. Seit der Einführung der DM 1948 galten in den beiden Stadthälften zwei verschiedene Währungen. In den Cafés am Kurfürstendamm wurde natürlich nur Westgeld akzeptiert, was wir Ostdeutschen nicht hatten. Eine der vielen Wechselstuben half uns aus der Klemme: Zu einem Tauschkurs von in der Regel 1 Mark West gegen 4 Mark Ost kam man in den Besitz der begehrten West-Währung. Nach dieser ungerecht erscheinenden Finanztransaktion konnten wir endlich in eines der Kudamm-Cafés einkehren. Ich weiß noch genau, was meine Eltern bestellten: für meinen Vater ein Bier, für meine Mutter eine Weinschorle, und ich bekam – eine Coca Cola. Unbeschreiblich! Die erste Coca meines Lebens. So schmeckte er also, der goldene Westen. So schmeckte Berlin. So schmeckte die Freiheit.

Mit diesem Glücksgefühl fuhren wir gegen Abend durch einen kahl geschlagenen, fast baumlosen Tiergarten, am zerbombten Reichstag vorbei, durchs noch kriegslädierte Brandenburger Tor in den Ostteil der Stadt, um ein billiges Abendessen gegen Ostmark einzunehmen. Von dort ging es dann über holprige Autobahnen langsam wieder ins heimische Thüringen. Berlin hat mich seither nie wieder losgelassen.

NEUNZEHNHUNDERT –  5 9

Genau zehn Jahre später war es so weit. Im November 1959 verließ ich, nach Schule in Thüringen und Studium in Leipzig, heimlich und illegal den ungeliebten zweiten deutschen Staat, der sich DDR nannte. Das Ziel war Berlin, Westberlin natürlich. Ich war einer von vielen, die damals erst nach Ostberlin und dann mit der S-Bahn für 20 Pfennig nach Westberlin „reisten“ – ohne Rückfahrkarte. Zwischen der DDR-Gründung im Jahr 1949 und dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 flohen mehr als 3 Millionen Ostdeutsche auf diesem Weg in den Westen. Für sie alle galt Westberlin als ein Schlupfloch in die Freiheit, für die meisten ging’s von dort weiter in die Bundesrepublik.

Berlin war damals die wohl skurrilste Stadt der Welt – und genau da wollte ich sein. Es herrschte die hohe Zeit des „Kalten Krieges“, jener unerbittliche Wettbewerb zwischen zwei gegensätzlichen Werte- und Wirtschaftssystemen. Ost gegen West, die UdSSR gegen die USA. Die Sowjets hatten damals sogar Erfolge zu verbuchen, im Wettrennen um die Eroberung des Weltalls lagen sie vor den Amerikanern. Doch der grobschlächtige Sowjetführer Chrustschow sah sich auch mit gewaltigen Problemen konfrontiert: Sozialistische Misswirtschaft führten im riesigen Sowjetreich zu schweren Versorgungsmängeln. Das größte Problem aber war Berlin, die „gefährlichste Wunde der kommunistischen Welt“, wie Chrustschow meinte. In Berlin war der Kommunismus am verwundbarsten, es war die Achillesferse der Sowjets. Der Exodus von Ost nach West über Westberlin hielt ungehindert an und war für den Osten kaum noch verkraftbar. Man nannte es eine „Abstimmung mit den Füßen“: Sozialismus und Diktatur oder Kapitalismus und Freiheit?

Mein erster Berliner Sommer war sonnig und mild. Die politische hypersensible Doppelstadt mit ihren verschiedenen Währungen und unterschiedlichen Gesellschaftssystemen schien sich eine Atempause zu gönnen von den vielen gefährlichen Krisen. In den westlichen Radiosendern RIAS und SFB erklang Elvis Presley’s neuester Hit „It’s now or never“, in den Kinos am Kurfürstendamm wurden die Hollywood-Filme „Exodus“ über die Entstehung Israels und das amerikanische Gesellschaftsdrama „Misfits“ mit Marilyn Monroe gespielt. Im Sommer 1960, noch keine 25 Jahre alt, schrieb ich von Westberlin an meine ostdeutschen Eltern in Thüringen: „Meine neue Arbeitsstelle liegt quasi auf der anderen Straßenseite von der Sektorengrenze zu Ostberlin. So verrückt ist diese Stadt: nur wenige Schritte und Du bist in einer anderen Welt. Das Leben hier ist nicht ganz ungefährlich. Man darf sich als Westberliner, der vor kurzem noch im Osten lebte und geflohen war, bei einem Besuch im Osten nicht von der östlichen Polizei erwischen lassen. Aber das „Doppelleben“ hat auch Vorteile, denn ein Bier in einer Eck-Kneipe auf der östlichen Straßenseite kostet nach jeweiligem Umtauschkurs nur Pfennige, im östlichen Buchladen zwei Straßen weiter zahlte man für Bücher oder Schallplatten nur ein paar Mark. Ostberlin ist für uns Westler eine Art zollfreier Hafen“. Gewiss, als Westberliner genoss man damals viele Vorteile: die Freiheit und den westlichen Luxus und obendrein die preiswerte Einkaufsquelle Ostberlin. Dafür zahlte man einen hohen Preis: es war die Angst. Die Angst vor neuen Schikanen der Sowjetunion und die gelegentlichen Zweifel an der Standfestigkeit der West-Alliierten, die Sicherheit und die Freiheit der Exklave Westberlin weiter zu verteidigen.

Einen Sommer später wurde die Berliner Mauer gebaut. Von den präzisen Vorbereitungen erfuhren die Berliner in beiden Teilen der Stadt, in der bis dahin immer noch ungehinderter Verkehr möglich war, nichts. Aber immer mehr Gerüchte schwirrten durch die Stadt. Bei einer spektakulären Presskonferenz log der ostdeutsche Partei- und Staatschef Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht in Berlin eine Mauer zu errichten“! Zwar konnte sich kaum jemand vorstellen, dass eine so große Stadt durch eine Mauer zerschnitten werden könnte, aber die Angst vor irgend etwas Schrecklichem wuchs von Tag zu Tag. Anfang August 1961 habe ich meine Stimmung in einem Brief an meine Eltern so geschildert: „Es sieht so mulmig aus im Moment, dass man gerade im Pulverfass Berlin keine großen Pläne machen kann. Ich nehme stark an, dass in Kürze Berlin für den Osten zugemacht wird“.

Am 13. August 1961 um ein Uhr nachts begann die Grenzschließung. Wachtposten zogen auf, Pioniere der DDR-Armee errichteten Panzersperren und zogen Stacheldrahtzäune. U- und S-Bahnlinien zwischen den beiden Stadtteilen wurden unterbrochen, das innerstädtische Telefonnetz zerstört. Am Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen Berlins, begannen ostdeutsche Soldaten mit Presslufthämmern die Straße aufzureißen. Seit 2 Uhr nachts jagten die Sondermeldungen westlicher Medien um die Welt. Als die Berliner an diesem Sonntagmorgen erwachten, hatte sich eine Welt verändert. Ihre Welt, ihre Stadt, meine Stadt war quasi über Nacht brutal in zwei Teile zerschnitten worden. Durch die Mitte ging jetzt ein Riss – und das Brandenburger Tor blieb verschlossen für lange Zeit. Die Berliner Mauer, von der DDR offiziell „Antifaschistischer Schutzwall“ genannt, war das markanteste Symbol des „Kalten Krieges“. Auf 43,1 Kilometern zerteilte sie die Innenstadt, auf 111,9 Kilometern zog sie sich um Westberlin herum, und trennte die Teilstadt vom östlichen Umland ab. Betonplatten in 3,6 Metern Höhe, 285 Wachtürme, Hunde und eine Armee von Grenzpolizisten verhinderten fortan die Flucht von Ost nach West. Wer dennoch zu fliehen wagte, riskierte Leib und Leben. Die genaue Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer ist nicht genau bekannt, es werden wohl 200 Menschen gewesen sein, die bei Fluchtversuchen erschossen wurden.

NEUNZEHNHUNDERT – 69

Mir war vergönnt, die ersten, die depressiven Jahre nicht im eingemauerten Westberlin verbringen zu müssen. Ein Stipendium ermöglichten mir einen Studienaufenthalt und den Beginn der journalistischen Karriere in den USA. Doch als ich Ende 1961 Berlin verließ, wusste ich genau: Ich würde wieder zurückkommen. Aufregende und erfolgreiche Jahre hatte ich in New York verbracht, in dieser Welthauptstadt von nahezu Allem, von der Frank Sinatra sang: „If you can make it there, you make it anywhere“. Nun war die Zeit gekommen, nach Berlin zurückzukehren. Ein attraktives Jobangebot hatte 1969 mir den Schritt zurück in die immer noch eingemauerte Inselstadt ermöglicht.

Ein bisschen verrückt war das schon, von New York ausgerechnet nach Westberlin zurückzukehren. Viele fragten, wie kann man dort überhaupt leben, auf so begrenztem Raum, umgeben von feindlichem Terrain, 150 Kilometer entfernt von der westlichen Welt? Die Antwort lautet auch heute noch: Es war eine wunderbare Zeit. Gerade in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich Westberlin in ein vielfältiges Biotop für allerlei gesellschaftliche Experimente. So krass es auch klingt: Die Berliner Mauer hatte die politische Situation auch konsolidiert, der Flüchtlingsstrom von Ost nach West war quasi über Nacht zum Stillstand gekommen. Das hässlichste Bauwerk der Welt stand nun bereits 10 Jahre. Eine Teilung der Stadt auf immer und ewig, das wollte wohl kaum einer, aber irgendwie hatte man sich doch an sie gewöhnt. In beiden Teilstädten empfanden die Berliner so etwas wie „unnormale Normalität“.

Westberlin war eine Stadtlandschaft, territorial kaum grösser als der Pyrenäen-Staat Andorra, mit 2,2 Millionen Bewohnern, knapp 400.000 Autos, 70.000 Hunden, etwa 7000 Kneipen – und einem Gefängnis mit nur einem einzigen Häftling, dem Nazi-Kriegsverbrecher Rudolf Hess. Die staatliche Hoheit lag bei den westlichen Alliierten, das Geld kam aus der Bonner Republik und floss üppiger denn je. Westberlin wurde zum Aushängeschild des westlichen Kapitalismus mitten im Meer der sozialistischen Mangelwirtschaft. In seinen „Berliner Notizen“ hatte der exilpolnische Dichter Witold Gombrowicz über „dieses Glitzerding West-Berlin von amerikanischem Profil“ damals geschrieben, von einer „pulsierenden, zwinkernden, blendenden Neone“. Hier waren die Röcke der jungen Frauen kürzer als in London, die Diskotheken so wild wie in New York, die Studentenproteste so aufsässig wie in Paris oder Berkeley – und die Kneipen durchgehend geöffnet. Schon damals war Westberlin eine Party-Hauptstadt, ein Tummelplatz für Hedonisten, ein Dorado für Schwule und Lesben. Man hatte sich eingerichtet innerhalb der Mauer – und wer raus wollte, der fuhr dank der neuen Ostpolitik Willy Brandts mittlerweile relativ ungehindert über die Transitautobahnen in die Bundesrepublik oder flog zu stark subventionierten Preisen in die Bundesrepublik und von dort in die weite Welt.

NEUNZEHNHUNDERT – 89

In den 80er Jahren machte dann vor allem der östliche Teil von sich reden, der sich „Hauptstadt der DDR“ nannte, in dem 1,1 Millionen Menschen lebten und der – wie Westberlin – ebenfalls kräftig subventioniert wurde, von der Regierung der DDR natürlich und sehr zum Ärger der restlichen Ostdeutschen in Sachsen oder Thüringen. Im östlichen Teil lebte von jeher der größte Teil der Arbeiterschaft: Nicht ohne Grund siedelte der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin 1929 den Bestseller-Roman „Berlin – Alexanderplatz“ – eine brillante Milieuschilderung der armen Leute – im Osten der Stadt an. Im Berliner Westen waren von jeher Geist und Geld zuhause, Berlins Osten dagegen war stets mehr Bauch und Bizeps der deutschen Metropole gewesen.

Zu Beginn der 80er Jahre, angespornt durch die „Solidarność“ im benachbarten Polen, begann die Ostberliner Jugend gegen die Bevormundung des sozialistischen Staats aufzubegehren. Die DDR-Friedensbewegung hatte Mut geschöpft durch den machtvollen, aber friedlichen Protest der Polen. Nun ließ auch die rebellische Jugend Ostberlins (und die in Leipzig oder Jena) sich nicht mehr einschüchtern durch die Repressionsmethoden der gefürchteten Geheimpolizei „Stasi“. Götterdämmerung in Ostberlin. Die Proteste gegen das sozialistische System wurden beinahe zum Dauerzustand. Vom „Großen Bruder“ in Moskau war keine Hilfe mehr zu erwarten. Im Gegenteil: Gorbatschows Reformen, „Perestroika“ und „Glasnost“ genannt, wirkten wie ein Brandbeschleuniger auf die „Rebellen“ im Osten. In der Nacht des 9. November 1989 war es dann soweit. Die Berliner Mauer zerbarst unter dem Druck der friedlichen Revolution. Es war der glücklichste Moment in der langen und wechselvollen Geschichte der Stadt. Und die Berliner, in Ost wie in West traditionell für ihre Schlagfertigkeit und ihren Wortwitz bekannt – ihnen blieb in dieser Nacht buchstäblich die Sprache weg. Sie schienen so überwältigt zu sein, dass sie nur noch das Wort „Wahnsinn“ schrien. „Wahnsinn“ wurde dann auch zum „Wort des Jahres“ gekürt.

ZWEITAUSEND – 19: Ein Ausblick.

31 Jahre sind seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen – und der Boom, der die Stadt vor drei Jahrzehnten erfasste, er hält ungehindert an. Mit all den vielen Vorteilen, wie anfangs beschrieben, aber auch mit mancherlei Nachteilen. Widersprüche tun sich auf, wie stets im Verlauf der Berliner Zeitläufe. Nur einige Beispiele. Die Integration auch der neuen, vorwiegend muslimischen Flüchtlinge ist weitgehend gelungen, doch hin und wieder tobt ein Bandenkrieg befeindeter arabischer Clans, die partout in einer Parallelwelt leben wollen und gegen die Polizei und Justiz machtlos erscheinen. Dann die Sache mit dem neuen Flughafen BER, der nie fertig werden will. Klar: Das ist peinlich und sorgt vielerorts für Spott. Andererseits hat sich Berlin beinahe unbemerkt und gewissermaßen als trotzige Antwort auf den Pleiteairport, zu einem weltweit beachteten Wissenschaftszentrum entwickelt mit mehreren Elite-Universitäten und zahlreichen Hochschulen. Und ja, die Stadt ist stolz auf ihre Attraktivität und ihr rasantes Wachstum, doch so werden wie London, wo fast nur noch millionenschwere russische Oligarchen oder Investmentbanker aus Asien sich das Wohnen in der Innenstadt leisten können, das will hier keiner. Mit aller Kraft wehrt man sich deshalb gegen immerfort steigende Miet- und Immobilienpreise – mit wechselndem Erfolg. Auch da ein eklatanter Widerspruch: Bauland ist zwar knapper denn je, trotzdem leistet man sich mitten in der Stadt die riesige Fläche des ehemaligen Flughafens Tempelhof als freie Spielwiese für allerlei Hobbys der zahllosen Stadtneurotiker.

Berlin – in der EU die einzige echte europäische Metropole östlich von Paris – lebt von ihren Paradoxien. Gerade jetzt sind zum Beispiel wieder einmal die 20er Jahre in aller Munde, die legendären „Golden Zwanziger“. Verursacht wurde der Hype durch eine hochgepriesene, international erfolgreiche, aber auch heillos überzeichnete TV-Serie mit dem Titel „Babylon Berlin“. Gefeiert wird darin das Berlin zwischen den beiden Weltkriegen: die sexuelle Zügellosigkeit, der Rausch und die Emanzipation, der Jazz und das Kokain und auch das Verbrechen. Glaubt man dieser Serie, dann war Berlin damals ein einziges Sündenbabel, beherrscht von Gan

gstern jeglicher Art. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Nur für kurze Zeit galt Berlin in den „Zwanzigern“ tatsächlich als europäische Dekadenzmetropole und kulturelle Weltstadt, in der sich das Volk die Angst vor der Zukunft wegkokste. Vor allem aber herrschten nach dem ersten, verlorenem Krieg Elend und Horrorinflation, zwischendurch ein paar Jahre leidliche Normalität und – nach der Weltwirtschaftskrise 1929 – abermals Verelendung und Massenarbeitslosigkeit, die in den Faschismus führten.

Das Paradoxon Berlin mit seiner wechselvollen Geschichte, es hat auch seine Bewohner geprägt. Der typische Berliner hat eine Vorliebe für das Absurde und Widersprüchliche. Nach der Zukunft befragt, soll ein Berliner Taxifahren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg seinem prominenten Fahrgast einmal geantwortet haben: „Ach, wissen Se, die Zukunft iss ooch nich‘ mehr, wat se mal war“.  Ja, so ist der Berliner.  Erst wenn er über seine geliebte Stadt so richtig meckern kann, fühlt er sich wohl – meckern über die Staus auf der Stadtautobahn oder die vielen Baustellen, über die zahllosen Neu-Berliner, die unfähige Stadtverwaltung oder die permanenten Demonstrationen gegen alles und jedes. Über das Unfertige eben und die permanente Veränderung. Schon der anfangs zitierte Stadthistoriker Karl Scheffler notierte vor gut einhundert Jahren: „…das emporwachsende Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“. Genau das ist es, was die Stadt so interessant macht, so aufregend und so liebenswert.


JOACHIM TRENKNER, Journalist und bekennender Berliner, hat am Ende seiner langjährigen Karriere bei „Newsweek“ in New York und beim deutschen TV-Sender SFB in Berlin eine 10-teilige Fernsehserie mit dem Titel „Berliner Leben“ produziert und ein Buch mit gleichem Titel verfasst.

 

 

 

 

 

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.