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Die Wiedervereinigung Deutschlands

DIALOG-Gespräch mit Professor Rita Süssmuth über die Wiedervereinigung Deutschlands

DIALOG: Die Entwicklung in Bezug auf das Verhältnis der beiden deutschen Staaten verlief während des Jahres 1989 extrem dynamisch. Wann hatten Sie persönlich zum ersten Mal das Gefühl, dass sich tiefgreifende Veränderungen abspielen würden?

Rita Süssmuth: Schon bei der Gedenkfeier zum Tag der deutschen Einheit im Bundestag am 17. Juni 1989 war klar, dass etwas im Fluss ist. Alle waren schon voller Anspannung, weil es einerseits hieß, es wird etwas passieren, und auf der anderen Seite waren die Reden, auch die Hauptrede des SPD-Politikers Erhard Eppler, getragen vom Tenor, wir wüssten nichts Genaues, also auch nicht, wann etwas passieren würde. Es war nicht abzusehen, was kommen würde, ob militärische Abgrenzung, ob Annäherungen, ob Verstärkung der Feindlichkeit.

Was ich aber unterdessen erlebte, insbesondere im Herbst, waren die ankommenden Züge an der innerdeutschen Grenze. Ich erinnere mich an die großen Zahlen von Flüchtlingen in Braunschweig. Das wirkte auf mich wie eine Art Exodus. Wir waren voller gespannter Erwartung, befürchteten aber auch, ähnlich wie dann in den Oktobertagen in Dresden, eine militärische Auseinandersetzung.

Ich bin dann am 19. Oktober 1989 – als in der Zwischenzeit schon manches geschehen war – mit dem späteren französischen Außenminister Laurent Fabius, damals Parlamentspräsident, nach Moskau gefahren. Wir hatten Gelegenheit, eineinhalb Stunden mit dem Staatspräsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow zu reden. Dabei konnten wir den Veränderungsprozess wahrnehmen. Gorbatschow hatte knapp zwei Wochen zuvor bei der Vierzigjahrfeier der DDR in Ost-Berlin gesagt: „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“

Aber ich sage genauso eindeutig und klar dazu: Gorbatschow ging überhaupt nicht von einer deutschen Einheit aus, sondern allenfalls von einer offeneren deutschen Föderation. Im Oktober 1989 war von deutscher Einheit noch gar keine Rede. Es war wahrscheinlich, dass wir in neue Beziehungen eintreten werden, mehr auf Kooperation statt auf Konfrontation setzen. Gorbatschow hielt jedenfalls damals in gewisser Weise immer noch an der Zweistaatlichkeit fest.

Hatten Sie in den 1980er Jahren über Ihre politische Tätigkeit hinaus einen persönlichen Bezug zur DDR?

Ich war nur einige Male „drüben“ gewesen, zu offiziellen Besuchen. 1988 zum Beispiel beim DDR-Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger in Ost-Berlin. Es ging um die AIDS-Politik. Ich wusste, dass das Gästehaus, in dem wir untergebracht waren, abgehört wurde. Trotzdem war unser Gespräch ein sehr offenes, menschlich zugewandtes. Und wir waren bereit, neue Wege zu gehen.

Schon 1981/82 hatte anlässlich einer Dienstreise nach Polen der Weg über Ost-Berlin geführt. Es gab ein Gespräch in der Akademie der Wissenschaften. Der Tenor deutete zu dieser Zeit auf keinerlei Veränderungen hin, es wurden die alten ideologischen Reden vorgetragen.

Hat Polen für Sie in dieser Zeit eine Rolle gespielt? Wann waren Sie zum ersten Mal im Nachbarland? Hat die Solidarność Sie in Bezug auf Deutschland irgendwie geprägt?

Natürlich, mein Interesse an Osteuropa hatte sich bereits im Studium in Münster und Tübingen deutlich entwickelt. Anfangs, bedingt durch die Studieninhalte, ausgerichtet auf die russische Geschichte. Aber ich wollte mehr über unser Nachbarland Polen erfahren, weil mir immer bewusst war, wie sehr unser Nachbar unter uns Deutschen gelitten hatte und die Vertreibung der Polen im Osten durch die Russen eng verbunden mit der Vertreibung der Deutschen nach Westen war.

Ich war seinerzeit, insbesondere 1981/82, aus akademischen Gründen während des Kriegsrechts zu Besuch in Polen. Wir wollten wissen, wie es denn vor Ort so ist. Das war mit einer Studiengruppe von der Universität Bochum unter Leitung des Pädagogen Professor und Russlandspezialisten Oskar Anweiler. Es ging um Kontakte mit den vom Kriegsrecht betroffenen Menschen. Wir halfen mit Lebensmitteln, Spielzeug für Kinder in den Kindergärten, nahmen am Gottesdienst teil, freuten uns über den Dank an die Deutschen für die anhaltende Unterstützung. Wir fuhren an den Ort der „Schwarzen Madonna“ von Tschenstochau und nach Breslau, wo einst Kardinal Kominek die Friedensbotschaft der polnischen an die deutschen Bischöfe verfasst hatte.

Wir haben zum damaligen Zeitpunkt mitbekommen, in welcher Weise gerade auch Jugendliche – es herrschte Versammlungsverbot – zusammengeschlagen und abgeführt wurden, sich kurz darauf aber bereits schon wieder die nächste Gruppe auf der Straße versammelte. Sicherlich erinnern sich viele an die sogenannten Blumenteppiche mit Kerzen und an die Lieder: Die Teppiche wurden an der einen Stelle zerstört und an einer anderen wieder aufgebaut. Das machte die Bewegung aus: Der Grundsatz von Solidarność war immer, Freiheit und Solidarität gehören zusammen. Das müssen wir heute wieder lernen.

Wie war seit dem Sommer 1989 Ihre Möglichkeit, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen?

Bevor wir zum Jahre 1989 kommen, möchte ich von Aleksander Kwaśniewski berichten, der von 1985 bis 1987 Minister für Jugend war und der mit mir über das deutsch-polnische Verhältnis sprechen wollte. Es ging darum, dieses zu stärken, mündete aber rasch in ein Streitgespräch, denn Kwaśniewski wollte auf keinen Fall den Passus in unserer gemeinsamen Erklärung stehen lassen, in dem es nicht nur um Verständigung, sondern auch um Versöhnung ging. Ich wollte auf keinen Fall auf das Wort Versöhnung verzichten. Bis zum gemeinsamen Abendessen hatten wir noch keine Lösung gefunden. Wir verlängerten die Sitzung und einigten uns schließlich darauf, das Wort stehen zu lassen. Das war ein sehr harter, aber lohnender Streit.

Aleksander Kwaśniewski und ich haben in den folgenden Jahren sehr gut miteinander gearbeitet, die deutsch-polnischen Beziehungen vorangebracht. Das waren Schritte der Annäherung, noch ohne Veränderung der Systeme. Das gelang erst 1989. Und dieser Sommer war bestimmt von sich verstärkender Protestbewegung in Polen, von Solidarność und Flüchtlingen, die in Deutschland ankamen.

Wie schätzten Sie die Aktivitäten der sich allmählich entwickelnden DDR-Opposition ein, und wie bewerteten Sie damals die einsetzenden Fluchtbewegungen in die Botschaften?

Die sich verstärkende Fluchtbewegung, die Öffnung der Grenzen in Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei trugen entscheidend dazu bei, aus Gorbatschows Prognose Realität werden zu lassen. Die Flucht war nicht nur eine Reaktion auf die schlechte wirtschaftliche Situation, sondern zeigte den starken Freiheitsdrang der Menschen in der DDR. In jener Zeit gab es bereits die große Solidarität der späteren Visegrád-Staaten, insbesondere Polens, den Menschen zur Flucht zu verhelfen. Das war ein großes Geschenk.

Vom damaligen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters wissen wir von der Überfüllung der Botschaften mit vielen, vielen Flüchtlingen und den schwierigen Verhandlungen mit dem stellvertretenden DDR-Außenminister Herbert Krolikowski.

Befürchteten Sie eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste durch die DDR oder die Sowjetunion?

Es war eine Zeit voller Unwägbarkeiten und Anspannung. Würde das SED-Regime eingreifen? Oder die sowjetischen Truppen im Rahmen des Warschauer Pakts? Das Nichteingreifen der sowjetischen Armee während der Friedlichen Revolution von 1989/90 besiegelte faktisch das Ende der alten Verhältnisse. Darüber hinaus ist die „Wende“ in der DDR auch Teil der gesamten osteuropäischen Revolution gewesen, bei dem die einzelnen sozialistischen Staaten in einem weltweit zu beobachtenden Prozess wie Dominosteine zusammenbrachen. Die Besonderheit in der DDR bestand allerdings darin, dass eine demokratische Revolution nicht nur eine kommunistische Diktatur abschüttelte, sondern auch zur Wiedervereinigung Deutschlands führte. Es ging nicht nur um die DDR, sondern es war ein Gesamtprozess, der nach großen Widerständen in Freiheit endete.

Hatten Sie Kontakte zu der polnischen Opposition?

Ja, seit dem Entstehen der Solidarność und insbesondere während des Kriegsrechts. Diese Kontakte habe ich bis heute nicht aufgegeben.

Wie sind Ihre konkreten Erinnerungen an den Mauerfall?

Der Bundestag hatte am 9. November im Wasserwerk in Bonn seine Sitzung, als abends die Nachricht kam: Die Mauer ist offen. Es war eine wunderbare Erfahrung, wie spontan Bundestagsabgeordnete dann unsere Nationalhymne angestimmt haben. Als die Mitteilung kam, war meine Rückfrage sofort: Stimmt das wirklich, das kann doch nicht sein? Es geschah so plötzlich, und ich kann heute nur wiederholen, so viel Nähe, wie ich an diesem Abend und später an der Grenze erlebt habe, gab es noch nie.

Sie sind danach sehr früh für eine deutsche Erklärung zur Anerkennung der polnischen Westgrenze eingetreten. Gab es darauf unmittelbare Reaktionen von anderen deutschen Politikern?

Die Anerkennung der Grenze war für mich so selbstverständlich, dass ich nicht den geringsten Grund sah, diese noch einmal herauszuschieben. Gegenwind kam vor allem bis zuletzt von einem Teil der Vertriebenenorganisationen (u. a. von Erika Steinbach). Für die Heimatvertriebenen standen die Ostgebiete nach wie vor „unter polnischer Verwaltung“, wie es im Potsdamer Abkommen der Siegermächte von 1945 festgelegt worden war. Damals, am 21. Juni 1990, stimmte eine überwältigende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für die Erklärung zur deutsch-polnischen Grenze, nur 15 votieren mit Nein. In der DDR-Volkskammer gab es lediglich sechs Gegenstimmen. Aber diese Grenzanerkennung war nicht nur für die Polen, sondern auch für die Amerikaner, für Frankreich, Russland und die Engländer unverzichtbar. Und ich denke, sie ist bis heute das Fundament unserer deutsch-polnischen Beziehungen.

Welche Rolle spielten Ihrer Meinung nach Frauen bei der deutschen Wiedervereinigung?

Die Frauen spielten eine unterschätzte Rolle in diesem Befreiungsprozess. Wir haben die großen Leistungen der Frauen zu lange zu wenig beachtet; ihr Einsatz für ihr Land wurde zu wenig thematisiert und ihre Widerstandskraft und Durchhaltevermögen in diesem hochgefährlichen Konflikt in ihrer Bedeutung nicht erkannt. Heute wissen wir mehr darüber und haben die Frauen im Osten, nicht nur in Polen, sondern gerade auch in der früheren DDR, wegen ihres Selbstwertgefühls, ihrer Leistung schätzen gelernt.

In der DDR dominierte die Frauenpolitik der SED das offizielle Bild. Ab den 1980er Jahren gelang es aber verschiedenen Frauenoppositionsgruppen – die vor allem unter dem Dach der Kirche organisiert waren – ein anderes Frauenbild und ein anderes Gesellschaftsbild zu diskutieren. Dafür nahmen die Frauen staatliche Repressionen, berufliche Einschränkungen und Bildungsverbote in Kauf.

Wir haben die Bürgerbewegungen nicht beim Namen genannt. Nur wenige meinten, wir haben diesen Menschen die Freiheit geschenkt – das entscheidende haben sie selbst geleistet. Ja, wir haben sie unterstützt, aber erst in den letzten Jahren ist uns klargeworden, dass sie viel Freude und Dankbarkeit eingebracht haben, dass sie aber auch Zukunftsängste hatten, mit denen sie umgehen mussten. Vieles haben sie unsichtbar geleistet, aber heute verstehen wir einander besser.

Ausgehend von der Reformpolitik Michail Gorbatschows, der Öffnung der Grenze nach Ungarn, den massiven Ausreisebewegungen von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern und den Protesten von Friedens- und Menschenrechtsgruppen weiteten sich auch die kirchlichen Friedensgebete im September und Oktober 1989 zu massenhaften Demonstrationen aus, die schlussendlich zum Ende der DDR führten.

Wie bewerten Sie heute den damaligen Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR? Wie sollte man jetzt mit denjenigen umgehen, die sich für rechtspopulistische Ideen begeistern und sich vom demokratischen Staat abwenden?

Die Erzählung von einem einzigen braunen Osten ist falsch. Der Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen im Osten ist nicht allein, wie oftmals behauptet, auf das Phänomen einer fehlenden demokratisch gesinnten Gesellschaft zurückzuführen. Es ist die Verunsicherung der gesamten Gesellschaft, nach der Devise, wir können eh nichts verändern und es ist gar nicht meine Bundesrepublik. Dieses Bild haben wir zu korrigieren. Auch jüngere Studien zeigen dieses Phänomen, beispielsweise die der Soziologin Naika Foroutan, die unter dem Titel „Ostdeutschland postmigrantisch“ die Einstellungen der Bevölkerung Ostdeutschlands zu Musliminnen und Muslimen in Deutschland schildert. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir aufhören mit der ständigen Gegenüberstellung Westdeutsche und Ostdeutsche oder Migrantinnen und Migranten. Wir gehören zusammen mit unserer unterschiedlichen Geschichte.

Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf das deutsch-polnische Verhältnis in den nächsten Jahren? Wie kann man wieder mehr Menschen dazu bringen, sich persönlich dafür zu engagieren?

Die auf Harmonie ausgerichteten Stimmen haben abgenommen, die kritischen zugenommen. Meine Auffassung ist, es kommt trotz aller Differenzen entscheidend darauf an, dass Polen und Deutsche einen Zusammenhalt bewahren, der innerhalb der europäischen Beziehungen ganz unverzichtbar ist. Deutschland und Frankreich ohne Polen – da würde etwas Zentrales fehlen. In unserem Umgang mit der Vergangenheit und unseren Plänen für die Zukunft. Wir brauchen mehr Zusammenhalt, nicht weniger. Daher bleibt für mich Polen in der europäischen Vielfalt ein Eckpfeiler für uns Deutsche und alle Europäer. Diese europäische, deutsch-polnische Zusammenarbeit lebt nicht von Abgrenzung, sondern von der Suche nach Möglichkeiten, wie Aufklärung und Mündigkeit mit humanem Lebensschutz und Lebensentwicklung verbunden werden. Was wir gelernt haben, lautet: Die harte Konfrontation, der Verzicht auf Dialog und Verständigung führen in eine Sackgasse. Es kommt darauf an, gemeinsam nach kreativen und zustimmungsfähigen Lösungen für alle zu suchen.

 

Mit Rita Süssmuth sprachen Markus Krzoska und Krzysztof Ruchniewicz.

Das Gespräch ist in der Ausgabe 131 im Deutsch-Polnischen Magazin DIALOG erschienen

 

 


Prof. Dr. Rita Süssmuth war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sie ist Vorsitzende des Kuratoriums der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband.

 


PD Dr. Markus Krzoska ist ein deutscher Historiker und Übersetzer. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf der Geschichte Polens sowie allgemein der Stadt-, Religions- und Historiographiegeschichte.

 

 

 

 


Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz ist Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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