Polens ehemaliger Bürgerrechtsbeauftragte Prof. Dr. Adam Bodnar wurde mit dem DIALOG-Preis 2020 gewürdigt. Die feierliche Verleihung fand im Rahmen des Kongresses „Nachbarschaft in der Mitte Europas“ am 22. Oktober 2021 in Göttingen statt.
Laudatio von Prof. Dr. Angelika Nußberger auf Adam Bodnar
„Ich sah es als meinen Job an, die Reste der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats zu retten. Das war nicht einfach, weil ich mit der Regierung keinen Partner an meiner Seite hatte, sondern jemanden, der offenbar in eine ganz andere Richtung will.“
Diese Antwort gab Adam Bodnar in einem Zeitungsinterview mit der österreichischen Zeitschrift Profil am 27.Juli 2021 auf die Frage nach seiner Arbeit als Ombudsman für Polen.
Am 27. Juli 2021 – das war knapp zwei Wochen nach einem bemerkenswerten Showdown im Kampf um die liberale Demokratie und den Rechtsstaat in Polen. Am 14. Juli 2021 um 15 Uhr erließ die Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg eine einstweilige Anordnung, um die Tätigkeit der umstrittenen polnischen Disziplinarkammer auszusetzen. Am selben Tag gegen 16.40 Uhr urteilte der Polnische Verfassungsgerichtshof in Warschau in einem von einem Richter eben jener Disziplinarkammer initiierten Verfahren mit bindender Wirkung, dass einstweilige Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs, die konkrete Verpflichtungen Polens zum Justizwesen festlegen, ultra vires seien.
Einen Tag später, am 15. Juli veröffentlichte der EuGH ein Urteil, mit dem er die der Disziplinarkammer obliegenden Disziplinarverfahren für unvereinbar mit dem EU-Recht erklärte. Am selben Tag führte das polnische Verfassungsgericht eine Anhörung in einem vom Premierminister initiierten Verfahren durch, in dem es um den Vorrang der polnischen Verfassung vor EU-Recht bei der Beurteilung der Rechtswirksamkeit von Richterernennungen ging. Das Verfahren wurde vertagt. Inzwischen wurde entschieden – der Vorrang des EU-Rechts wird nicht mehr uneingeschränkt anerkannt. Die Gefahr hat Adam Bodnar schon im Juli gesehen und vor einem Polexit gewarnt.
Ja, in der Tat, es ist eine Zeit, in der es, wie Adam Bodnar sagt, „die Reste der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats zu retten“ gilt, in der es auch Europa zu retten gilt, möchte man hinzufügen, jenes Europa, das vereinen und zusammenführen, nicht spalten will.
Als sich die dramatische Auseinandersetzung der Gerichte im Juli dieses Jahrs zuspitzte, hatte Adam Bodnar schon nicht mehr das Amt inne, das er von 2015 bis 2021 bekleidet hatte – das Amt des polnischen Ombudsmans. Aber während seiner Amtszeit hatte er alles getan, um Brücken über die immer größer werdenden Risse und Spalten zu bauen, hat er versucht zu kitten, was am gemeinsamen europäischen Haus bereits beschädigt war.
Er war die Stimme des Menschenrechtsgewissens in Polen. Er war derjenige, der immer wieder aufstand und laut „nein“ sagte, wenn eine Reform der Regierung zu weit ging und drohte, zu zerstören, was seit 1989/1990 in Polen neu aufgebaut worden war. Er hat gesagt, was man nicht gerne hören wollte – dass die Rechte der sexuellen Minderheiten zu schützen seien, dass Reformen der Justiz nicht dazu führen dürften, dass die Richterinnen und Richter von der Regierung abhängig seien, dass die Unabhängigkeit der Medien nicht durch ein neues Mediengesetz, das die Aktivitäten des letzten unabhängigen Privatsenders stark einschränken würde, gefährdet werden dürfte, dass dies für die Demokratie in Polen ein gefährlicher Rückschritt sei.
Mit seinen mutigen Worten hat sich Adam Bodnar nicht nur vor jene gestellt, die Schutz brauchten, sondern hat auch hingenommen, dass er sich selbst Angriffen ausgesetzt hat.
Immer ist er seinen Weg als Europäer gradlinig gegangen. Er hat an der Europäischen Hochschule in Budapest studiert, die Orban ein Dorn im Auge war und die er mittlerweile schließen ließ. Er hat über ein Thema zum europäischen Mehrebenensystem promoviert und seine Energie danach als Anwalt in die Arbeit von NGOs gesteckt, die für Menschenrechte eingetreten sind. Er war und ist ein herausragender Wissenschaftler, hat zu wichtigen Fragen im Bereich von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten veröffentlicht und ist jetzt Dekan an der University of Social Sciences and Humanities in Warschau. Aber auch als Wissenschaftler hat er es sich nicht geleistet, nur Analytiker und Beobachter zu sein und abseits zu stehen, sondern hat er Verantwortung übernommen und Stellung bezogen zu allen gesellschaftlich kontroversen Themen.
Polen ist nicht am Rand, sondern im Herzen von Europa. Bereits 1775 berechnete der polnische Kartograph und Astronom Szymon Antoni Sobiekrajski, dass das Städtchen Suchowola in Polen der geographische Mittelpunkt Europas sei; im Zentrum des Ortes weist ein großer Findling mit Inschrift darauf hin. Im Jahr 1991 ist Polen in den Europarat eingetreten, 2004 Mitglied der Europäischen Union geworden. Europa ist eine Rechtsgemeinschaft, zu der Polen gehört; Europa ist aber auch ein Gefühl, eine Überzeugung, die gelebt werden muss.
In der Art, wie Adam Bodnar als Rechtsgelehrter und Anwalt für europäische Werte eingetreten ist, hat er Europa lebendig gemacht.
Dafür hat er Hochachtung und Respekt verdient: Hochachtung und Respekt für Zivilcourage, Hochachtung und Respekt für besonnene, kluge und richtige Gegenworte immer dann, wenn es in der politischen Debatte bitter nötig war, Hochachtung und Respekt für das Eintreten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem Europa, in dem das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist, in dem Tabus gebrochen werden und das rechtliche Fundament, auf dem wir alle stehen, droht, wegzubrechen.
Der Text ist eine Abschrift der Laudatio, die anlässlich der Verleihung des DIALOG-PREISES an Prof. Dr. Adam Bodnar am 22.10.2021 in Göttingen gehalten wurde.
Prof. Dr. Angelika Nußberger, Rechtswissenschaftlerin und Slavistin. Seit 2002 ist sie an der Universität zu Köln Inhaberin des Lehrstuhls für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung. Von 2011 bis 2020 war sie Richterin, von 2017 bis 2019 Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Dankesworte von Prof. Dr. Adam Bodnar
Sehr verehrte Gäste,
ich möchte Ihnen für diese ehrenvolle Auszeichnung, aber auch Frau Professor Angelika Nußberger für Ihre wunderbare Laudatio, ganz herzlich danken. Mein Dank geht auch an die Person, die mich für den Preis nominiert hat – Direktor Basil Kerski, der das Europäische Solidarność-Zentrum leitet – eine Hochburg des liberalen Denkens und der Geschichte des polnischen Anstands.
Ich betrachte die Auszeichnung als einen Vertrauensbeweis, nicht nur für meine Arbeit, sondern für das ganze Büro des Menschenrechtenbeauftragten in Polen. Ich betrachte sie auch als Ausdruck der Unterstützung für juristische Kreise und Nichtregierungsorganisationen, die seit fast sechs Jahren unermüdlich für den Erhalt der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und – wie in letzter Zeit sehr deutlich geworden ist – der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union kämpfen.
Es ist eine besondere Auszeichnung, weil sie verliehen wurde, um die deutsch-polnische Freundschaft und den Dialog zu würdigen. Darüber hinaus kann man sich kaum einen besseren Zeitpunkt für die Preisverleihung vorstellen. Die Pandemie hat diese zwar verzögert, aber vielleicht ist jetzt ein besserer Zeitpunkt, um einige Aspekte anzusprechen.
Zunächst möchte ich meine persönlichen Gedanken über die Notwendigkeit eines deutsch-polnischen Dialogs mitteilen. Ich wurde in Gryfice geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg hieß meine Stadt Greiffenberg. Sie lag 30 Kilometer von der Ostsee und 100 Kilometer von Stettin entfernt. Mein Vater kam im Rahmen der „Operation Weichsel“ 1947 dorthin. Seine gesamte Familie wurde, wie zehntausende von Polen, aus dem Südosten Polens, aus dem Gebiet um das Bieszczady-Gebirge, vertrieben. Sie ließen sich in Westpommern nieder, in der heutigen Woiwodschaft Lubuskie [Lebuser Land] und der Woiwodschaft Dolnośląskie [Niederschlesien]. Meine Mutter kam Mitte der 1960er Jahre aus der Gegend von Kielce. Sie lernten sich in Westpommern kennen, mein Bruder wurde dort geboren und später auch ich.
Als ich in Gryfice lebte, begegnete ich dem deutschen Erbe der Stadt auf Schritt und Tritt. Diese Erfahrung zieht Verständnis nach sich. Sie zwingt nämlich zum Nachdenken. Die Geschichte kann nicht geändert werden. Aber wir können aus ihr lernen, und wir können auch darüber nachdenken, wie wir uns gemeinsam um sie kümmern und wie wir gedenken können. Deshalb freue ich mich besonders über Initiativen wie die von Herrn Zbigniew Mieczkowski, einem pensionierten Oberst der polnischen Armee und Einwohner von Złocieniec (ehemals Falkenburg), herausgegebenen Alben und historischen Bücher, die sich mit der Umgebung des Flusses Drawa (Drage) befassen. Dies ist nun sein Heimatland. Aber er versucht, sich daran zu erinnern, wer vor ihm da war, wie die soziale und wirtschaftliche Geschichte seiner Region einst aussah. Er zollt der Vergangenheit Respekt.
Eine weitere Initiative gibt es in Gostków (Giesmannsdorf) bei Wałbrzych (Waldenburg), wo eine Familie beschlossen hat, ein Grundstück zu kaufen und den dortigen evangelischen Friedhof zu renovieren. Sie ist heute eine wichtige Touristenattraktion, die kürzlich mit einer renommierten Auszeichnung der Evangelischen Kirche gewürdigt wurde.
Es gibt viele Initiativen dieser Art, die das Gedächtnis pflegen, das Erbe und die wahre Geschichte suchen. Sie überwinden Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass. Sie ermöglichen es uns, darüber nachzudenken, was uns verbindet und nicht, was uns trennt. Auf dieser Grundlage können Brücken und Freundschaften gebaut werden.
Lassen Sie mich eine zweite Geschichte erzählen. 1995 ging ich an die Universität Warschau. In meinem zweiten Jahr lernte ich meinen Lehrer, Professor Mirosław Wyrzykowski, kennen. Ich werde nie vergessen, wie er mir vorschlug, einen 100-seitigen Kommentar zum Artikel 1 der damaligen Verfassung zu lesen: „Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, in dem die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit gelten“. Dieser Kommentar war in der Tat meine erste Quelle zum Verständnis der deutschen Rechtsstaatsdoktrin. Ich lernte Namen wie Roman Herzog, Klaus Stern, Dieter Grimm kennen. Später studierte ich in seinen Seminaren die Werke von Ulrich Preuss, Jochen Frowein, Robert Alexy, Ingolf Pernice und sogar Jürgen Habermas. Jetzt lasse ich mich gerne von deutschen Juristen inspirieren – wie Prof. Angelika Nussberger, Prof. Franz Mayer, Prof. Susanne Baer, Prof. Armin von Bogdandy oder Rechtsanwalt und Schriftsteller Ferdinand von Schirach. Ich werbe derzeit in Polen für seine Initiative „Jeder Mensch“.
Die polnische Rechtskultur und die Veränderungen nach 1989 wurden vom deutschen Rechtsdenken inspiriert und unterstützt. Dies war die Grundlage für den Aufbau eines modernen Rechtsstaates, von Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte und der Demokratie in Polen. Darauf fußte auch unsere europäische Integration.
Daraus ergibt sich aber auch eine besondere Verantwortung für den Mentor. Wie in dem Gleichnis aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupery. Wenn man ein Tier zähmt, kann man es danach nicht mehr aussetzen. Ich meine damit, die Verantwortung, die Situation in Polen ehrlich und damit auch kritisch zu bewerten. Ist die historische Erfahrung nicht nur eine bequeme Ausrede, um nichts zu sagen?
Es zeichnet sich auch ein Ton ab, der besagt, dass wir bei Missständen ein Auge zudrücken sollten, weil die Wirtschaft darauf drängt, die polnischen Mittel aus dem nationalen Wiederaufbauplan so schnell wie möglich freizugeben. Ist dies ein Ausdruck der Verantwortung für die gesamte Europäische Union als Wertegemeinschaft?
Die derzeitige Krise in Polen hat den Polen, Richtern, Staatsanwälten und gesellschaftlichen Aktivisten bereits viel Leid zugefügt. Sie kann aber auch die Ursache für eine existenzielle Krise der Europäischen Union werden. Gerade aufgrund tragischer historischer Erfahrungen haben die Deutschen und die Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union – für ganz Europa, auch für die Länder östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs.
Hier geht es nicht um Kritik, sondern um die wohlwollende Unterstützung all derer, denen ein demokratisches, rechtsstaatliches und die Menschenrechte schützendes Polen am Herzen liegt. Ein Polen, das sich vom Verfassungspatriotismus leiten lässt. Ein Polen, dem ein gutes Gedächtnis, nachbarschaftliche Beziehungen und die Pflege der Vielfalt wichtig sind. Ein Polen, das die Zukunft der Europäischen Union mitgestalten und globale Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Entwicklung neuer Technologien gemeinsam lösen kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für die Auszeichnung. Ich sehe es auch als meine persönliche Verantwortung an, dafür zu sorgen, dass gute Beziehungen zwischen unseren Gesellschaften aufgebaut werden.
Prof. Dr. Adam Bodnar, Verfassungsrechtler und Menschenrechtsaktivist, 2015-2021 Menschenrechtsbeauftragter der Republik Polen.