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Markus Meckel: Rezension zu Filip Ganczak, „Polen geben wir nicht preis“. Der Kampf der DDR-Führung gegen die Solidarnosc 1980/1981

Im Sommer 1980 schauten wir aus der DDR mit höchster Spannung nach Polen, nach Danzig. Wir, die wir kritisch zum kommunistischen System standen voller Faszination, die SED dagegen voller Sorge und Angst. Einig waren wir uns darin, dass die Zulassung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc nicht in das System passte, systemwidrig war und dieses grundlegend infragestellte. Mir machte es große Hoffnung, für die SED war das schlicht „Konterrevolution“. Ich schnitt aus dem „Neuen Deutschland“ (der Hauptzeitung der SED, in der jeder erfuhr, was er zu denken hatte), jeden noch so kleinen Artikel über Solidarnosc aus. Eine Fülle von Hasstiraden, später habe ich diesen Karton voller Zeitungsausschnitte Wolfgang Templin zur Auswertung übergeben.

Es gab viele in der DDR, für die die Gründung von Solidarnosc ein Hoffnungszeichen war und dann das Kriegsrecht im Dezember 1981 eine Katastrophe. Die Formen, dies auszudrücken, waren recht verschieden und vielfältig. Doch das ist nicht das Thema und der Untersuchungsgegenstand von Filip Gánczak. Er widmet sich mit großer Intensität und in klarer Diktion den Einschätzungen, Zielen und dem Agieren der SED- und DDR-Führung, die sehr wohl begriff, dass die Vorgänge in Polen 1980/81 für sie eine existentielle Bedeutung hatten. Sie verstand, dass die antikommunistische Opposition in Polen, die sich zur unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc formte, die Axt an die Wurzeln nicht nur des „Sozialismus in Polen“ legte, sondern auch für die Existenz der DDR eine zentrale Gefährdung darstellte.

Gánczak verfolgt seine Fragestellungen ausgesprochen systematisch und präzise, was das Buch trotz der Materialfülle gut lesbar macht. Geschichte wird von Menschen gemacht, die aus ihrer Situation, ihrer Prägung und Interessenlage heraus ihre Ziele verfolgen. So fragt er jeweils nach der Entscheidungssituation, nach dem Entscheidungszentrum und dem Prozess, der zum politischen Entschluss und seiner Umsetzung führt.  In sechs Kapiteln macht er die Beziehungsgeflechte zwischen der SED-Führung und ihren Institutionen zu Polen, aber natürlich auch zur Sowjetunion transparent. Da die internen Entscheidungsprozesse in kommunistischen Staaten, die ja keine freie Presse und Öffentlichkeit hatten, meist geheim blieben und man als Untertan nie genau wusste, wo welche Entscheidung getroffen wurde, ist allein schon dieses Transparentmachen auch nachträglich von großem Wert und beispielhaft. Hier wird nie allgemein von der SED oder dem Staat oder dem MfS geredet, sondern immer konkret, mit Namen. So kann man den Erkenntnisprozess der historischen Akteure konkret nachvollziehen. Klare Fragestellungen haben es dem Autor ermöglicht, gezielt nach Belegen zu suchen und es ist oft erstaunlich, wie breit er fündig geworden ist.

In einer Einführung zeichnet Gánczak die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen bis 1980 nach. Es wird deutlich, dass die „Freundschaft“ zwischen beiden Staaten durch die Sowjetunion vorgegeben war, diese hütete darüber, dass nichts aus dem Ruder lief. So war einerseits die Präsenz der Sowjetunion für die Beziehung zentral, andererseits jedoch auch die Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland. Die DDR nahm hier die durch die Teilung bedingte Sonderbeziehung stets in Anspruch und zog daraus vielfachen wirtschaftlichen Nutzen. Doch auch Polen suchte nach dem Warschauer Vertrag von 1970 die Beziehungen zur Bundesrepublik auszubauen, was von der eigenen Bevölkerung gern gesehen wurde.

In einem ersten Kapitel wird herausgearbeitet, dass wirklich Erich Honecker für die DDR die letztlich entscheidende Person war, von ihm wurden die grundlegenden Entscheidungen „allein getroffen“ (S. 50), Politbüro, MfS und Volksarmee folgten seinen Vorgaben. In einem weiteren Kapitel wird dargestellt, wie die SED 1980 immer besorgter nach Polen schaute und immer skeptischer gegenüber der Strategie der PVAP war, die offensichtlich die Opposition nicht effektiv bekämpfte. Als mit den Streiks in Danzig und der Anerkennung der Solidarnosc aus der Sicht Honeckers „das Kind in den Brunnen gefallen war“, wurde alles versucht, um sich von „der polnischen Krankheit“ abzuschotten (Kapitel 3). Wo auch nur der Eindruck entstand, dass „polnische Praktiken“ auf die DDR übergriffen, schlug man hart zu. Ein Freund, Ekkehard Hübener, der von einer Reise Materialien von Solidarnosc mitbrachte und erwischt wurde, wurde zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Persönliche Kontakte nach Polen wurden drastisch eingeschränkt, wie überhaupt der Grenzverkehr. Das betraf sowohl Urlaubs- und Sanatoriumsreisen, aber auch Dienstreisen. Polnische Reisende wurde empfindlich untersucht und drangsaliert. Polnische Arbeiter in der DDR zunehmend überwacht und isoliert. Ähnliches galt für Studierende, deren Zahl 1981 drastisch reduziert wurde. Das Thema Polen verschwand aus der DDR-Literatur. Nur die Kontakte vonseiten der evangelischen Kirchen nach Polen nahmen zu. Die polnische Botschaft stellte im Frühjahr 1981 fest, dass „ein tiefer Riss in der Annäherung zwischen unseren beiden Völkern entstanden sei“. (S. 133)

Mit großer Sorge erfüllte Honecker auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit (Kapitel 4), denn die DDR war auf die Steinkohle- und Kokslieferungen aus Polen angewiesen. Als Polen selbst in Schwierigkeiten geriet, bestand die DDR auf den Lieferungen. Gleichzeitig machte die Sowjetunion Druck auf die Verbündeten und eben auch auf die DDR, Polen in seiner existentiellen wirtschaftlichen Notlage zu helfen. Honecker erklärte sich – ohne Absprache im Politbüro – bereit, Polen einen zinslosen Kredit von 250 Millionen Westmark an Polen zu geben. Außerdem gab es erhebliche Fleischlieferungen sowie Medikamente, Kinderkleidung und andere dringend benötigte Ware. Da dies in der eigenen Bevölkerung nicht verstanden worden wäre, wurden diese wenn nicht geheim gehalten, so doch heruntergespielt.

Auf über 80 spannenden Seiten zeichnet das 5. Kapitel die Bemühungen Honeckers um eine militärische Intervention in Polen nach. Er war hier sozusagen der Scharfmacher unter den Verbündeten des Warschauer Paktes, seine Gegenspieler war Kadar in Ungarn und Ceaucescu in Rumänien. In der DDR selbst gehörte Erich Mielke zu den Skeptikern dieser Option. In der DDR wurden im Herbst 1980 Reservisten eingezogen, um sich auf eine Intervention vorzubereiten. (Freunde von mir verweigerten in diesem Zusammenhang den Reservistendienst und flogen dafür aus ihren Arbeitsstellen!). Bei einem von Honecker initiierten Treffen am 5. Dezember 1980 in Moskau schien die Frage noch offen, im Laufe des Jahres 1981 entfernte sich die Sowjetunion zunehmend von diesem Gedanken. Aus Polen gab es warnende Stimmen, dass nicht auszuschließen sei, dass einzelne Einheiten der polnischen Armee bei einem Einmarsch Widerstand leisten könnten (S. 225). So lief dann schließlich ab April 1981 alles auf den steigenden Druck auf die polnische Parteiführung hinaus, die Probleme im Lande selbst zu lösen und die von Solidarnosc ausgehende Gefahr selbst auszuschalten.

Diesen Bemühungen widmet sich das abschließende 6. Kapitel. Auch hier scheint die SED die klarste und radikalste Linie vertreten zu haben. Früh trat sie für eine Ablösung von Kania als Parteichef in Polen ein. Am 18. Oktober löste Jaruzelski dann Kania als 1. Sekreträr des ZK der PVAP ab, blieb aber Ministerpräsident und Verteidigungsminister und war dann die zentrale Figur in Polen. Erstaunlich ist der relativ laxe Umgang der Sowjetunion mit dem polnischen Zögern, das Ende von Solidarnosc durchzusetzen. Die DDR erfüllt dann noch eine Wunschliste des polnischen Innenministeriums, die chemische Kampfstoffe (Tränengas), Schützenpanzerwagen, Schlagstöcke und Schilde anfordern, dazu Fotoausrüstung und Aufnahmetechnik. Da Honeckers Riege keinen direkten Zugang zu Jaruzelskis Führungszirkeln hatte, gibt es auch keine direkte Information zum genauen Zeitpunkt des Kriegsrechts und über das konkrete Vorgehen. Nur auf der Arbeitsebene der Sicherheitskräfte gibt es Informationen, die Anzeichen bieten. Mit der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 fällt der SED ein Stein vom Herzen. Doch ist die Freude nur kurz. Schon bald stellt sich wieder zunehmende Unzufriedenheit mit der Politik der PVAP ein. Dies ist dann aber nicht mehr Thema des sehr lesenswerten Buches von Filip Gánczak.


Markus Meckel, geboren am 18. August 1952 in Müncheberg/Brandenburg, musste 1969 die Allgemeine Oberschule aus politischen Gründen verlassen, erwarb dann am Kirchlichen Oberseminar Potsdam-Hermannswerderdie Hochschulreife und studierte von 1971 bis 1978 Theologie in Naumburg und Berlin. Nach Vikariat und evangelischem Pfarramt in Vipperow/Müritz, war er von 1988 bis 1990 Leiter der Ökumenischen Begegnungs-und Bildungsstätte in Niederndodeleben bei Magdeburg. Oppositionelle politische Arbeit in der DDR leistete er seit den 1970er Jahren. 1989 gründete er mit Martin Gutzeit die sozialdemokratische Partei (SDP) in der DDR, war deren Vertreter am Zentralen Runden Tisch und wurde 1990 nach den ersten freien Wahlen in der DDR deren Außenminister. Von 1990 bis 2009 gehörte er für die SPD dem Deutschen Bundestag an. Er bekleidet zahlreiche ehrenamtliche Funktionen in Stiftungen und Organisationen darunter Ko-Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Von 2013 bis 2016 war er Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

 


Autor: Filip Gańczak Erscheinungsjahr: 2020 Verlag: Ferdinand Schöningh Umfang: 380 Seiten, 4 s/w Abb.

 

 

 

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