Basil Kerski: Wenn wir über den Zustand der Demokratie in Deutschland und Polen sprechen, so müssen wir dies in unserer vernetzten, globalisierten Welt in einen breiteren Kontext einbetten. Überall auf der Welt können wir in demokratischen Ländern Symptome erkennen, die sich durch Populismus und Antiliberalismus kennzeichnen. Befindet sich die Demokratie im Sinne ihrer liberalen Ausprägung in einer Krise? Wenn dem so ist, wie wirkt sich dies auf die globale Politik aus? Ist der Multilateralismus bald zu Ende?
Albrecht von Lucke: Die multilaterale Ordnung ist tatsächlich harten Angriffen ausgesetzt. Wenn es nur Wladimir Putin wäre, der die multilaterale Ordnung infrage stellte, dann wäre das das kleinste Problem. Gleiches unternimmt jedoch auch Donald Trump. Auf der letzten UN-Vollversammlung hat der US-Präsident das Ende des Multilateralismus ausgerufen. Das ist eine viel größere Problematik für uns, den „Westen“. Gerade auch für Deutschland, weil wir uns seit Gründung der Bundesrepublik als Teil eines westlichen Projekts unter dem Namen „Westeuropa“, mittlerweile vergrößert durch unsere östlichen europäischen Nachbarn, unter Schutz bzw. Teilhabe der USA ansahen. Diese Konstellation war immer grundsätzlicher Natur. Wenn nun noch die rechtstaatlichen Demokratien, die sich durch intermediäre Gewalten wie Gerichte, freie Medien und miteinander konkurrierende Parteien in der Auflösung befinden und zu – wie Viktor Orbán es nennt – illiberalen Demokratien umwandeln, dann befinden wir uns nicht mehr in Zeiten des Zweifels, sondern sehen uns einer radikalen Bedrohung unseres Selbstverständnisses ausgesetzt. Ich stelle mir heute die ganz reale Frage, die mir im Jahr 1989 niemals in den Sinn gekommen wäre: Ist die repräsentative Demokratie in Deutschland gefährdet?
Doch bleiben wir bei Russland und Ungarn. Viktor Orbán war einst ein liberaler Demokrat, der entschieden gegen den Kommunismus eintrat und deshalb zum westlichen Hoffnungsträger für Ungarn – darunter auch der CDU/CSU – wurde, jedoch dann erkannte, dass im Zuge der letzten 30 Jahre eine Ernüchterung über die Verheißungen von 1989 erfolgte. Diese schlugen in vielen Bereichen ins Negative um, wie wir es exemplarisch insbesondere in Russland beobachten konnten. Wie konnte jemand wie Wladimir Putin dort an die Macht kommen? Weil in Russland ein brutaler, zerstörerischer Kapitalismus eine Privatisierung von Großunternehmen zugunsten von Oligarchen forciert hat (die übrigens heute mit Putin im Einvernehmen operieren), die gravierenden Folgeschäden in der Bevölkerung hinterlassen hat, sodass eine autoritäre Lösung á la Wladimir Putin Zuspruch erfahren konnte. Es gibt den bekannten Satz von Viktor Orbán, der 2017 nach seiner Wiederwahl sagte: 1989 hielten wir Europa – also die liberale, rechtsstaatliche Demokratie – für unsere Zukunft. Heute wissen wir, dass wir Ungarn (man könnte auch an der Stelle Polen nennen) die Zukunft Europas sind. Das ist das Bedrohliche.
Ich frage mich, ob wir uns unsere Demokratien in adjektivischer Form mit den Beiwörtern repräsentativ oder liberal vorstellen müssen? Vielleicht sollten wir das. Denn wird die Demokratie, so wie wir sie lange Zeit verstanden haben, an einigen Orten der Welt nicht durch eine illiberale ersetzt, in der letztlich die alte Idee rousseauistischer Art siegt, nämlich dass die Demokratie nicht durch Gewaltenteilung gekennzeichnet ist, sondern durch die eine Volonté Génerale, den einen Volkswillen, der durch einen Führer verkörpert wird? Das ist eine neue Form der Demokratie, die letztlich die Gewaltenteilung wie wir sie kennen, nicht mehr impliziert. Das Dramatische ist, dass autoritäre Herrscher vom Schlage Donald Trumps, Orbáns oder Erdogans auf demokratischem Wege zur Macht gelangen, sie jedoch später nicht mehr loslassen. Das ist die große Gefahr. Es ist aus meiner Sicht sehr wahrscheinlich, dass Ralf Dahrendorf recht hatte, als er bereits Mitte der 1990er Jahre angekündigt hatte, die Gefahr eines nahenden autoritären Zeitalters sei weitaus größer, als dass sich die repräsentative Demokratie selbst verteidigen könnte. Dies muss uns dazu veranlassen, uns massiver in allen Bereichen für die Verteidigung der Demokratie einzusetzen, für das, was den Kern der Demokratie ausmacht, nämlich Gewaltenteilung, starke Parteien, starke Gerichte und freie Medien. Dies muss viel stärker in den Blick genommen werden. Und international bedeutet das, dass Demokraten sich für eine neue Verteidigung der multilateralen Ordnung stark machen müssen.
Anna Wolff-Powęska: In Bezug auf Ihre Äußerung, aber auch auf die vielen von Ihnen veröffentlichten Beiträge, habe ich den Eindruck, Ihr Urteil zur Verfassung der heutigen Demokratie ist zu kritisch. Berücksichtigt man die Meinungen manch westlicher Politologen und Journalisten, stellt sich die Frage, ob Sie den Begriff „Westen“ ähnlich interpretieren. Polen und andere Völker Ostmitteleuropas waren über Jahrzehnte davon überzeugt, wir hätten es mit nur einem Westen zu tun. Heute deutet alles darauf hin, dass es zwei davon gibt: die USA und Westeuropa. In der westlichen politischen Welt fehlt es aber auch nicht an pessimistischen Meinungen, die die Osterweiterung der EU kritisch beurteilen. Die ostmitteleuropäischen Staaten bereiten Probleme, viele Schritte, die dort unternommen werden, sind Beispiele für eine illiberale Demokratie. Die Frage ist nur, sind es allein sie?
Selbstverständlich, jedes Adjektiv vor dem Wort „Demokratie“ ist schon eine Relativierung. Die aktuelle Frage lautet jedoch: Gibt es grundlegende Unterschiede in der Umsetzung der Demokratie zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Europas? Und in diesem Kontext liegt auch eine weitere Frage nahe. In der Vergangenheit gab es den Spruch, Bonn sei nicht Weimar. Kann man heute nun sagen, Berlin sei nicht Bonn?
Basil Kerski: Lassen Sie mich den hier angeklungenen Katastrophismus etwas besänftigen. Sind vielleicht die Probleme, mit denen wir es zu tun haben, nicht etwa eine Folge der Öffnung Europas nach 1989? Das erweiterte Europa bedeutete doch mehr Pluralismus, mehr Kulturen. Ich habe den Eindruck, dass es im Westen schon eine Enttäuschung über die neuen Europäer gibt. Und auch viele Mitteleuropäer sind über den Westen enttäuscht, was allzu gerne als politisches Kapital zum Einsatz kommt. Ralf Dahrendorf wurde hier bereits genannt. Er hat, von der negativen Entwicklung in China beeindruckt, einmal gesagt, dass das 21. Jahrhundert uns vielleicht politische Systeme, einen offenen Kapitalismus ohne eine offene Zivilgesellschaft bringen könnte. Er hat uns vor 30 Jahren vor Euphorie gewarnt. Rechtsakte zu beschließen, um eine Demokratie zu begründen, das ginge vielleicht in sechs Monaten, Institutionen zu schaffen vielleicht in zwei Jahren, aber eine demokratische Kultur zu schaffen, würde 60 Jahre dauern, so Dahrendorf. Er meinte dies nicht nur in Bezug auf die sogenannten neuen Europäer, sondern auch hinsichtlich der alten Bundesrepublik. 30 Jahre nach dem Neubeginn Europas sind die Probleme, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben, vielleicht ganz normal? Vielleicht stehen wir vor einer neuen Phase, einer neuen gestärkten Demokratie? Vielleicht sollten wir die Wirklichkeit einmal von dieser Seite betrachten…
Albrecht von Lucke: Es wäre sehr schön, wenn dies so wäre. Ich wäre der letzte, der sich einer solchen optimistischen Stimmung nicht anschließen würde, aber wir müssen uns klarmachen, wo wir heute stehen. Wo steht die Berliner Republik heute? Deutschland hat von der Wiedervereinigung sehr profitiert. Aber damals gab es nicht nur Zustimmung für den Vereinigungsprozess, insbesondere nicht von der linken Seite. Der sich damals anschickende Bundeskanzlerkandidat Oskar Lafontaine hatte nicht gerade viel Sympathie für die Einheit. Er hatte mit seinen wirtschaftlichen Warnungen zum Teil durchaus recht, wie sich später herausstellen sollte, aber durch seine Äußerungen wurde er quasi das Gesicht der westdeutschen ablehnenden Haltung gegenüber dem Osten, was bis heute nachhallt. Die fehlende Empathie sowie die Tatsache, dass die historische Chance für Deutschland nicht erkannt wurde, ging nicht nur von Lafontaine aus, sondern auch von einem großen Teil der westdeutschen intellektuellen Schicht. Denken wir nur an Otto Schily – wir haben die Banane immer noch vor Augen, die er den Ostdeutschen entgegengehalten hat.
Jürgen Habermas sprach damals von einer verspäteten Revolution. Es herrschte das Gefühl vor, dass das, was die Bundesrepublik durch großes Glück geleistet hat, nämlich die rückhaltlose Anerkennung der Kultur des Westens sowie einer pluralen Demokratie, nicht über Nacht gekommen ist. Die Bundesrepublik war im Kern ein Gleichklang von Wohlstandswachstum, Wirtschaftswachstum und Demokratie. Nicht nur Deutschland, sondern die ganze westliche Kultur hat maßgeblich davon profitiert, dass letztlich die Demokratie immer mit einem sukzessiven Wachstum von Wohlstand und zunehmender Partizipation an diesem Reichtum einherging. Dieser Prozess musste im Osten erst einmal initiiert werden.
Doch sowohl im Osten als auch im Westen befindet sich heute dieser Prozess angesichts der ökologischen Krise vor einer gewaltigen Herausforderung. Es stellt sich nämlich die Frage, ob wir unseren ungeheuren Wohlstand reduzieren können. Ist der Westen für eine Erfahrung bereit, die der Osten in ähnlicher Weise nach 1989 mit der Deindustrialisierung, dem Abbau von Arbeitsplätzen und sozialem Abstieg bereits bewältigen musste?
Basil Kerski: Hinzu kommt, dass die deutsche Gesellschaft scheinbar gespalten ist, zumindest was den Erfolg populistischer Parteien betrifft. Inwiefern beeinflussen die von Ihnen angesprochenen Erfahrungen der ostdeutschen Bevölkerung nach 1989 die Stärke der AfD in den neuen Bundesländern?
Albrecht von Lucke: Das, was in Ostdeutschland derzeit aufbricht, ist mehr als nur die Frustration über die letzten 30 Jahre. Es handelt sich um tieferliegende, antidemokratische und antiplurale Tendenzen. Annette Simon, die Tochter von Christa Wolf, hat jüngst den hellsichtigen Text unter dem Titel „Wut schlägt Scham“ verfasst. Darin schreibt sie, wie eine DDR-Bevölkerung, die sich früher nie getraut hat, gegen die DDR-Regierung, das System, die Lügenpresse, die es zu DDR-Zeiten wirklich gab, zu Felde zu ziehen, das jetzt nachträglich macht gegen die demokratischen Medien und die rechtsstaatliche Republik. Und die AfD ist mittlerweile jene Kraft, die am stärksten versucht, durch Anknüpfung an verschiedene Erfahrungen der ostdeutschen Bevölkerung eine Gemeinschaft zu schaffen, was an ihrem Slogan „Vollende die Wende“ am prägnantesten zum Vorschein tritt.
Um auf Anna Wolff-Powęskas Frage einzugehen: Natürlich, Bonn war nicht Weimar, und Berlin ist auch nicht Bonn. Und wir sind sehr weit von Zuständen der Weimarer Republik entfernt. Dennoch gibt es Tendenzen, gerade im Osten Deutschlands, wo die Infragestellung unseres Demokratieverständnisses, des westlichen pluralen Systems, immer stärker werden. Meine Sorge besteht darin, dass die Angst vor der AfD die mittlerweile sehr geschwächten Volksparteien derartig lähmen wird, bis sie nicht mehr in der Lage sein werden, entgegenzusteuern. Das sehen wir jetzt schon, etwa im Bereich der Ökologie. Das verabschiedete Klimapaket ist eher ein „Paketchen“ und wird dem nicht gerecht, was von der Wissenschaft gefordert wird. Weshalb wurde kein mutigeres Klimapaket auf den Weg gebracht? Aus Angst vor Protesten, die von der AfD unterstützt eine Revolutionsstimmung wie die Gelbwesten in Frankreich verbreiten könnten. Hier manifestiert sich also der ganz reale Druck, den die AfD auf die Bundesrepublik ausübt.
Basil Kerski: Um illiberale Tendenzen in unseren Demokratien aufzuhalten, bedarf es einer starken Zivilgesellschaft, eines prodemokratischen Engagements der Bürger. Wenn wir nach Polen blicken, so ist die gesellschaftliche Spaltung viel tiefer als derzeit in Deutschland. Wie bewerten Sie den Charakter der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Polen?
Anna Wolff-Powęska: Wie kam es dazu, dass ein Land, das in den 1990er Jahren als Musterschüler und Spitzenreiter der wirtschaftlichen Transformation galt, heute zusammen mit Ungarn als Sorgenkind Europas bezeichnet wird? Es gibt darauf keine klare Antwort. In aller Kürze kann man Folgendes sagen: Polen, die polnische Demokratie unterscheiden von der deutschen Demokratie drei Elemente – die Haltung der Kirche, die Bedeutung der Geschichte und die Rolle des Staates. In Deutschland wurde und wird der Staat allgemein respektiert, was mit der Philosophie des deutschen Idealismus eng zusammenhängt. In Polen herrscht das Gegenteil: die Dominanz der Kategorie der Nation. Die in der Öffentlichkeit heraufbeschworene nationale Identität stellt die Grundlage für die Bildung einer Gemeinschaft dar. Dies rührt u. a. von der Tatsache her, dass die Nationen in diesem Teil Europas ihre Souveränität früh verloren haben: die Ungarn 1526 bei Mohács, die Tschechen 1620 am Weißen Berg, und die Polen endgültig 1795. In unserer Region gab es keinen aufgeklärten Absolutismus, die Urbanisierung und Industrialisierung kamen mit Verzögerung, und die kulturstiftende Kraft waren die Bauern und der Adel, an den Boden gebundene Stände, wenig mobil, ohne eigene Ideen und Lösungen, die über die Staatsgrenzen hinaus wirken und Europa beeinflussen konnten.
Was jedoch am wichtigsten ist: Während sich das Selbstbewusstsein der westlichen Gesellschaften in einem zentralen, starken Staat herausbilden konnte, so formte sich zum Beispiel das nationale Bewusstsein in Polen und Ungarn in der Opposition zum Staat – zunächst gegen die Teilungsmächte, dann gegen die deutschen Besatzer und später gegen die sowjetische Herrschaft gerichtet. Und so ist der mangelnde Respekt gegenüber der Institution Staat heute sehr deutlich erkennbar. Rechtsextreme Kräfte nutzen die Tatsache aus und hoffen auf ein Bündnis zwischen Thron und Altar, denn die Haltung der Kirche – die heute nicht nur konservativ ist, sondern einer pluralen Gesellschaft gegenüber negativ eingestellt ist und darüber hinaus gegen Aufklärung und Liberalismus auftritt – ist ihnen vertraut und auch hilfreich bei der Machterlangung und -erhaltung.
Die in Polen regierende Partei legt es heute auf die kollektiven Emotionen der Gesellschaft an, mobilisiert Ängste – die wirklichen und die eingebildeten. Sie beruft sich auf eine mythologisierte Geschichte Polens. Warum kann sie gerade daraus Kraft schöpfen? Denn würde sie in die Zukunft blicken, die niemals sicher und heute besonders unvorhersehbar ist, könnte sie in der Gesellschaft Ängste hervorrufen und sie jeglicher Hoffnung berauben. Es ist einfacher, sich in der Vergangenheit zu verankern. Die Vergangenheit ist für die Partei die wichtigste Grundlage für Entscheidungen und die Bewertung der Gegenwart. Hinzu kommt eine starke Hervorhebung des Mythos eines heroischen Staates, einer Opfer-Nation, die bei allem eine Pionierrolle spielte und sich alles alleine erkämpfen musste. Dies beeinflusst auch die heutigen deutsch-polnischen und polnisch-russischen Beziehungen. Wie Jarosław Kaczyński einmal sagte, die Geschichte Polens sei derart „verlaufen“, dass wir nun Ansprüche stellen dürften. Der Westen wird als Verräter Polens dargestellt, und Deutsche als die ewig Schuldigen, die nun für ihre Sünden büßen sollen. Der Opfer-Status verleiht Privilegien, er erlaubt es zu fordern und zu beschuldigen. In dieser Rolle gefällt sich die polnische Regierung heute sehr gut. Es macht nichts, dass ihre Haltung voller Widersprüche und Paradoxien ist.
An der Situation, die bereits seit einigen Jahren andauert, kann man sehr gut erkennen, wie wichtig Bildung in einer Gesellschaft ist, damit diese gegen Propaganda wirklich immun wird. Um das Überleben der Demokratie zu sichern, braucht man nicht nur starke Institutionen, sondern auch eine Gesellschaft, die die Demokratie unterstützt. Die polnische Zivilgesellschaft hat sich im Laufe der polnischen Geschichte sehr spät herausgebildet. Bis auf Straßenproteste stehen uns heute sehr wenige Mittel zur Verfügung, um autoritären Tendenzen auf demokratische Art und Weise entgegenzuwirken. Deshalb ist es wichtig, nicht gleichgültig zu sein. Ich vertrete das Credo Dietrich Bonhoeffers, der einmal sagte, wer in einer schwierigen Konfliktsituation schweige, mache sich zum Mittäter.
Basil Kerski: Ausgehend von den Kommunal-, EU- und Parlamentswahlen kann ein ganz anderer Eindruck von Polen entstehen. Der einer sehr lebendigen Demokratie, eines sehr starken politischen Streits. Zwei ausgeglichene große politische Lager, regionale Unterschiede zwischen Land und Stadt: Die Kommunalwahlen von 2018 haben ein sehr komplexes Bild der Gesellschaft wiedergegeben. Überraschend ist auch die sehr hohe Wahlbeteiligung bei den Sejm-Wahlen 2019 gewesen, die höchste der letzten 30 Jahre, womit alle politischen Parteien, die in den Sejm eingezogen sind, ein sehr starkes Mandat seitens der Wähler erhalten haben. Sind Sie nicht zu pessimistisch, was den Zustand der polnischen Demokratie, der polnischen politischen Kultur anbelangt?
Anna Wolff-Powęska: Eine der größten Leistungen der Dritten Polnischen Republik sind Selbstverwaltungen, die lokale Demokratie. Auch Frauen spielen heute eine große Rolle, was ja auch zur gesamteuropäischen Tendenz gehört. Es gibt natürlich eine Reihe von Initiativen „von unten“, die oft im Internet mobilisiert werden. Das digitale Zeitalter bietet jungen Menschen viele Möglichkeiten. So gibt es auch positive Phänomene.
Schwieriger verhält es sich mit den weltanschaulichen Angelegenheiten, die heute insbesondere für die Kirche unbequem sind. Dazu gehören zum Beispiel Sexualkundeunterricht an Schulen, Trennung von Staat und Kirche oder die Debatte um Personen aus der LGBT-Szene. Diesbezügliche Äußerungen von Erzbischof Marek Jędraszewski, der von einer „Regenbogen-Seuche“ gesprochen hatte, lösten gewaltige Proteste und Widerstand aus, hauptsächlichen unter jungen Leuten. Was davon bleibt aber übrig? Nach den Demonstrationen werden leider keine neuen Organisationen oder politischen Parteien gegründet. Ich denke, in Polen brauchen wir eine starke Zentrumspartei, die sich von Links- und Rechtsradikalismus distanzieren und sich stärker für die politische Bildung einsetzen würde. Leider wurde dieser Bereich im Polen nach 1989 stark vernachlässigt, vergleicht man ihn zum Beispiel mit dem deutschen System. In Deutschland wird großer Wert auf die allgemeine Aufklärung gelegt, auf permanente Weiterbildung, wovon zahlreiche Institutionen zeugen, wie zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung und ihre regionalen Zweige, darunter die evangelischen, katholischen und europäischen Akademien, aber auch die Anzahl an Seminaren, bei denen Vertreter verschiedener Kreise Diskussionen zu aktuellen wichtigen sozialpolitischen Fragen führen. So etwas gab es und gibt es in Polen nicht. Es gibt natürlich öffentliche Debatten, Konferenzen und Treffen, aber nicht in dem Umfang wie es in Deutschland der Fall ist. Es fehlt an Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, die sich für diese Art von Bildung kümmern würden.
Basil Kerski: Das Erstarken der AfD wird europaweit mit Sorge wahrgenommen. Gleichzeitig schauen aber sehr viele Europäer mit einer gewissen Bewunderung auf Deutschland. Die Bundesrepublik gilt in sozialer und wirtschaftspolitischer Hinsicht als ein weiterhin erfolgreiches Land. Auch die Wirtschaftsdaten aus den neuen Bundesländern geben viel Anlass zur Zufriedenheit. Dennoch dominiert in der deutschen politischen Debatte die Sorge um die Entwicklung der Demokratie, viel Negatives ist über die Bundesrepublik zu lesen und zu hören. Auch Sie Herr Lucke weisen in Ihren Kommentaren oft auf die Defizite hin. So haben Sie in der von Ihnen geleiteten Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ einen Essay unter dem Titel Die verunglückte Demokratie. 70 Jahre Bundesrepublik, 30 Jahre vereinigtes Deutschland veröffentlicht, der sehr hohe Wellen geschlagen hat. Wie ist ihre kritische Bewertung der Bundesrepublik „als verunglückte Demokratie“ zu verstehen?
Albrecht von Lucke: Es ist weit weniger provokativ, als Sie sagen. Der Titel ist eine Anspielung auf das Buch des Historikers Edgar Wolfrum „Die geglückte Demokratie“. Vor über 10 Jahren war das nämlich der Überbegriff zu allen Feiern jubilierender Art in dieser Republik. Und genau dieses Gefühl, dass die Demokratie in der Bundesrepublik fest verankert sei, nimmt derzeit ab. Rolf Sternberger und Jürgen Habermas hielten 30 Jahre nach 1949 den Verfassungspatriotismus in Deutschland für so gefestigt, dass sie eine Partei wie die AfD, eine Infragestellung unserer gestandenen Volksparteien, nicht kommen sahen. Und die bislang größten Volksparteien der Bundesrepublik sind in der Krise. Die ganze demokratische Substanz des Landes wird poröser, was alleine schon an der ungeheuer langwierigen Koalitionsbildung, bei der Frage, wie wir aus einer permanenten Notwendigkeit der großen Koalition herauskommen, zu sehen war. Deswegen wage ich zu behaupten, dass diese Republik, die vermeintlich über 60-70 Jahre lang gefestigt war – und nach wie vor glaube ich, dass sie im Kern stabil ist – heute vor gravierenden Herausforderungen steht, die sie davor nicht kannte.
Hinzu kommen noch die großen außenpolitischen Veränderungen, die uns aus einer gewohnten und scheinbar festen Konstellation herauskatapultieren und neue Fragen aufwerfen. Wie gehen wir zum Beispiel damit um, dass der Westen gespalten ist? Wie reagieren wir, wenn die Amerikaner sich immer weiter zurückziehen? Wie können wir in solch einem Fall für die Stabilisierung der Sicherheit sorgen, was übrigens eine berechtigte Frage vieler Polen ist. In den vergangenen Jahrzehnten konnte sich die deutsche Gesellschaft den Luxus leisten, als Reaktion auf die US-Außenpolitik „Ami go home“ zu schreien. Nun geht der Amerikaner vielleicht wirklich nach Hause. Und vielleicht nimmt er einige Europäer mit, die ihm weiter folgen wollen. Und es würde mich nicht wundern, wenn es jene wären, die 2003 dabei waren, als die USA in den Irak einmarschierten.
In jeder Krise steckt bekanntlich auch eine Chance. Europa muss sich, sofern wir weiterhin gemeinsam voranschreiten wollen und an gemeinsame, universelle Werte glauben, auf eine Zeit nach der Protektion durch die USA einstellen. Hieraus ergibt sich enormes Potenzial einer vertieften europäischen Integration. Wollen und können wir unsere europäischen Werte künftig gemeinsam als Europäer verteidigen? Ich denke, hinsichtlich dieser Frage wird es eine entscheidende Rolle spielen, inwiefern Deutschland und Polen gemeinsam handeln werden. Das Interesse Deutschlands an Polen und umgekehrt muss jedoch viel stärker zunehmen. Polen setzt zwar derzeit fast alles auf die amerikanische Karte und mutiert zur amerikanischen Speerspitze in Europa. Als Grenzstaat, das muss man sich immer wieder vor Augen halten, ist Polens Wunsch, die USA als Sicherheitsgaranten an sich zu binden, verständlich. Doch sind Szenarien nicht auszuschließen, dass Amerika für die Sicherheit in der Region nicht mehr aufkommen wird. Dann bleibt es unausweichlich, dass auch Polen sich für europäische Sicherheitskonzepte öffnen muss.
Anna Wolff-Powęska: Ich möchte hervorheben, dass das, was Deutsche und Polen voneinander unterscheidet, ihr Verhältnis zu den USA und zu Russland ist, was historisch begründet ist. Polen haben übrigens noch nie nach dem Motto gehandelt: Besser ein Nachbar in der Nähe als ein Bruder in der Ferne. Das Gefühl der russischen Bedrohung ist bei Polen nachvollziehbar und nun auch durch den Krieg in der Ukraine verstärkt. In Bezug auf Ihre Äußerung über eine engere deutsch-polnische Zusammenarbeit muss ich anmerken, dass auch ein Misstrauen gegenüber dem westlichen Nachbarn immer noch anzutreffen ist. Unabhängig vom politischen Lager bereitet die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland allen Polen Unbehagen. Das Misstrauen gegenüber Deutschen ist auch in nicht allzu ferner Vergangenheit begründet. Polen können es nur schwer vergessen, wie die deutschen Sozialdemokraten, insbesondere ihr linker Flügel, in den 1980er Jahren die „Solidarność“ kritisiert haben. Der Streit darüber, warum Willy Brandt, der 1985 nach Warschau kam, aber nicht nach Danzig zu einem Treffen mit Wałęsa fuhr, war bereits Gegenstand vieler Abhandlungen und ist im polnischen Kollektivgedächtnis durchaus präsent.
Basil Kerski: Die deutschen Sozialdemokraten waren in ihrer Einschätzung der Solidarność tatsächlich gespalten. Darin spiegelten sie die gesamte westdeutsche politische Kultur in ihrer Haltung zu den Bürgerbewegungen in Mittel- und Osteuropa wider. Nach der Einführung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 setzte sich ein Teil der SPD, so z.B. Fraktionschef Herbert Wehner, für den Dialog mit dem Jaruzelski-Regime ein. Wehner reiste 1982 zu General Jaruzelski nach Warschau. Diese Reise wurde als Friedensmission legitimiert, die SPD versuchte sich als Friedenspartei zu profilieren. Andere, wie Hans Koschnick, Gesine Schwan oder Heinrich August Winkler, standen damals offen auf den Seiten der Jaruzelski-Opfer. In ihrer Verteidigung sahen sie die Sicherung des Friedens in Europa und nicht in der Anbiederung an die kommunistischen Regime. Anstatt auf die mitteleuropäische Oppositionsbewegung zu setzen, plädierten in den 1980er Jahren viele Sozialdemokraten für die Zusammenarbeit mit den kommunistischen Machthabern. Auf diesem Wege erhofften sie sich Veränderungen und politische Konsolidierung in Europa. Das hat dem Ansehen der SPD sehr geschadet.
Eine Chance, die Bindungen mit der Solidarność zu stärken, hatte Willy Brandt, als er 1985 nach Warschau fuhr. Er enttäuschte viele Polen, weil er sich nur mit Jaruzelski traf und nicht mit Lech Wałęsa. Der Solidarność-Vorsitzende und Friedensnobelpreisträger durfte damals ohne Genehmigung der Kommunisten Danzig nicht verlassen. Willy Brandt vermied es, neben Warschau auch nach Danzig zu reisen. So kam es 1985 nicht zu einem symbolischen Treffen der beiden Friedensnobelpreisträger. Zu diesem Zeitpunkt hat die verbotene Solidarność die offene Unterstützung von Brandt, seine Solidarität mit der Solidarność, sehr nötig gehabt. Doch leider kam es dazu nicht. Ein Treffen Wałęsa-Brandt hätte eine enorme Symbolkraft gehabt, wäre zu einer Ikone der engen Beziehungen zwischen den Gesellschaften geworden. Leider fehlten der SPD-Führung damals die Weitsicht und der Mut. Brandts Weggefährte Egon Bahr sagte später nach dem Zusammenbruch des Ostblocks einmal, die SPD habe die polnische Zivilgesellschaft, die Stärke der Solidarność, ihre politische Weitsicht, ihre bedeutende Rolle für den Wandel in Europa damals schlicht und einfach unterschätzt.
Nun aber zum eigentlichen Thema unseres Gesprächs, das sowohl die deutsche als auch polnische Gesellschaft betrifft. Wie sollten wir heute mit Menschen umgehen, die von extremen Ideologien fasziniert sind – egal ob links oder rechts –, die zu einer Polarisierung der Gesellschaft beitragen?
Anna Wolff-Powęska: Ich persönlich richte mich nach den Worten von Jan Józef Lipski, der einmal sagte: „Wenn wir uns mit Freunden oder Nachbarn treffen, dann betrachte ich zunächst einmal mich selbst kritisch, bevor ich meinen Dialogpartner kritisiere.“ Ich versuche, in meinem Privat- und Berufsleben so zu handeln. Aber dieses Credo spielt in der polnischen Politik gar keine Rolle, denn die politische Debattenkultur hat ein tiefes Niveau erreicht. Die politischen Lager in Polen, die nach 1989 jeweils an die Macht kamen, betrachten den Staat als Beute. Das ist nicht zuletzt auch deshalb sehr gefährlich, weil ihre Nachfolger sich an ihnen ein Beispiel nehmen.
Geht es um den deutsch-polnischen Dialog seit dem Wahlsieg der PiS-Partei im Jahr 2015, so ist in diesem Bereich kaum etwas Positives zu vermerken. Es ist bekannt, dass Jarosław Kaczyński, ein „gewöhnlicher“ PiS-Abgeordneter im Sejm, einen entscheidenden Einfluss auf die polnische Politik, darunter auch Außenpolitik, ausübt. Ich verweise nun auf seine Äußerung von 2004 als er sagte, dass alle, die sich nach 1989 für die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen einsetzten, nützliche Idioten gewesen seien, die sich für einen Apfel und ein Ei verkauft haben. Wenn der Vorsitzende der Regierungspartei für derlei Äußerungen bekannt ist – und ähnliche kann man auch von anderen PiS-Politikern hören – fällt es einem schwer, sich einen deutsch-polnischen Dialog vorzustellen, der auf Offenheit basiert und strittige Fragen im Geiste der Freundschaft löst.
Diese verächtliche Sprache der Regierungspartei hat aber auch noch einen anderen Aspekt. In ihrer Rhetorik bezieht sich die PiS-Partei auf eine imaginierte, idealisierte Gemeinschaft. Es wird der Versuch unternommen, eine Gemeinschaft durch Ausgrenzung zu gründen. Ständig wird über jene gesprochen, die zur „schlechten Sorte“ gehören, die den Kompromiss und Dialog bevorzugen. Die Politik wird auf einen Kampf, eine Feindschaft reduziert, die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Hinzu kommt eine Tatsache, die ein solches Handeln zusätzlich legitimiert, und zwar das Bündnis der Regierungspartei mit der katholischen Kirche. Erwähnenswert ist ebenfalls, dass wir zum ersten Mal nach 1989 eine Partei im Sejm haben, die katholisch-nationalistisch ist und von der einige Mitglieder auf Demonstrationen mit faschistischen Parolen auftraten. In der Regel wird man im Sejm etwas kultivierter, also wird manches Verhalten mit Sicherheit unterlassen, das man sich als Abgeordneter nicht mehr erlauben darf. Dennoch kann man sagen, die Verbesserung der Qualität des politischen Dialogs in den folgenden Jahren ist wenig wahrscheinlich. Ein Konsens scheint weiterhin etwas zu sein, was in Polen nur schwer erreichbar ist.
Dabei gibt es viele Fragen in Polen, bei deren Lösung ausgerechnet ein Konsens nötig wäre. Dazu gehört die Sozialpolitik. Dass die polnische Transformation und die durch den ehemaligen Finanzminister Leszek Balcerowicz durchgeführten Reformen heftig kritisiert wurden und werden, ist bekannt. Die polnische Transformation nach 1989 war in dieser Region Europas ein Experiment ohnegleichen. Niemand in der Weltgeschichte, kein anderer Staat musste solche Reformen einleiten und den Staat von Grund auf neu aufbauen. Zunächst galt es, das Bestehende zu zerstören, dann kamen wir ins Fegefeuer, und zum Schluss mussten ein neuer Staat, eine neue Politik, Wirtschaft und ein neues Parteiensystem aufgebaut werden. Ich weiß nicht, ob es irgendeinen politischen Weltmeister gibt, der all das schaffen würde, ohne dabei Fehler zu begehen. Fehler sind nämlich Bestandteil unserer menschlichen Natur und unseres Handelns.
Albrecht von Lucke: Ich denke, dass Konsens immer von zentraler Bedeutung ist. Das ist er qua europäische Unionsdefinition, wo wir uns auf eine Gemeinsamkeit verständigen müssen. Aber Demokratie, das ist die Dahrendorfsche Überzeugung, wird natürlich durch Konflikt und die Akzeptanz unterschiedlichster Meinungen begründet, die natürlich gewissen Grenzen unterliegen. Ich denke, dass sich gerade die liberale Öffentlichkeit stärker für gewisse Bereiche öffnen muss, etwa für die Frage, welchen wichtigen Stellenwert die christliche Religion einnimmt, dies jedoch nicht aus der gewohnten westlich-säkularisierten Perspektive. Wir konnten dies in nicht allzu ferner Vergangenheit bei der Diskussion über die gleichgeschlechtliche Ehe beobachten. Die westliche Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik war offenbar dafür, dass eine gleichgeschlechtliche Ehe grundgesetzkompatibel ist. Ich bin der Meinung, dass man auch eine andere Ansicht vertreten konnte. Aus rechtlichen Gründen kann man sagen, dass die Ehe für alle einer Grundgesetzänderung bedurft hätte, weil es den Vätern und Müttern des Grundgesetzes sicherlich nicht vorschwebte, dass diese Ehe gleichgesetzt würde. Es wurde leider, aufgrund der Abwehr gewisser Gruppen, kein notwendiger Diskurs mit konservativen Kreisen von christlicher Überzeugung geführt. Hier hätte man sich mehr Dialogbereitschaft gewünscht.
Auch auf europäischer Ebene reißt der Dialogfaden immer stärker ab. Wir erleben derzeit eine Renaissance des Nationalismus, der sich in erster Linie durch die klassische Form des Freund-Feind-Denkens auszeichnet. Dieser Nationalismus, wie wir ihn in Ungarn und Polen erleben, tarnt sich allzu gerne hinter der Fassade des Konservatismus. Dabei ist der Nationalismus nur eine Vulgärform des eigentlichen Konservatismus. Staaten, in denen rechtskonservative Populisten regieren, etwa in der Türkei, Polen und Ungarn, wehren sich vehement gegen jegliche Kritik. Eine Dialogbereitschaft mit politischen Gegnern existiert nicht. Stattdessen wird nach einem alten und erprobten Schema vorgegangen. Alle politischen Opponenten werden als Staatsfeinde gebrandmarkt, was jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit Kritik von vornherein unterbinden soll. Die Schaffung eines historisch verklärten Kollektivs, wie Anna Wolf-Powęska richtig hervorhob, hilft dabei, die Gesellschaft in aufrichtige Patrioten und deren Feinde zu spalten. Dieses Narrativ hat sich bereits in vielen Gesellschaften, die USA nicht ausgenommen, etabliert. Im Kern geht es auch darum, die Errungenschaften der Moderne aufzuhalten, die plurale Demokratie und die offene Gesellschaft abzuschaffen. Häufig wird dieser Angriff unter dem Deckmantel einer Kritik am Globalismus geführt. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu Verschwörungstheorien, die letztendlich im Antisemitismus enden, wie wir es sehr stark in Ungarn erleben.
In dieser vergifteten Atmosphäre ist es nicht verwunderlich, dass auch der deutsch-polnische Dialog, der sich insbesondere nach Polens EU-Beitritt sehr freundschaftlich zu entwickeln begann, eingefroren ist. Polen wirft der deutschen Seite oft vor, sie sei über den Wahlsieg von PiS enttäuscht. Ich persönlich bin nicht einmal enttäuscht, sondern eher ratlos. Natürlich akzeptiert jeder Demokrat das Wahlergebnis des polnischen Volkes. Das ist demokratischer Usus. Es wäre wünschenswert, wenn PiS dies im Hinterkopf behält, wenn in Zukunft einmal auch eine oppositionelle Partei die Wahlen in Polen gewinnen sollte. Ich bin nur darüber ratlos, wie derart viele Revolutionäre des Ostens, hierbei auch die Kaczyński-Brüder, die sich in Zeiten des Kommunismus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für ihr Land herbeisehnten, diese wunderbaren Errungenschaften nun selbst infrage stellen. Das ist die Sorge, die sich nicht nur die Opposition im Sejm, sondern auch wir, die deutschen Nachbarn machen.
Das Gespräch fand am 26.10.2019 während des Kongresses der Deutsch-Polnischen Gesellschaften in Homburg (Saarland) statt.