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Willy Brandt und Marek Edelman – eine Beziehung mit Hindernissen

Von Gerhard Gnauck

Eines hatten Willy Brandt und Marek Edelman bei allen Unterschieden gemeinsam. Betrachtet man ihre Lebensläufe, ihre Stellung in Politik und Gesellschaft nach dem Krieg, waren sie in ihrem jeweiligen Heimatland zwar keineswegs Außenseiter, aber in vieler Hinsicht – selbst in ihren jeweiligen politischen Milieus – untypische Zeitgenossen und Ausnahmeerscheinungen.

Als einziger Emigrant der NS-Zeit wurde der Deutsche, Jahrgang 1913, nach dem Zweiten Weltkrieg Bundeskanzler. Untersucht man die Bundesregierungen seit 1949, so war er eines von nur drei Kabinettsmitgliedern mit „Emigrationshintergrund.“[1] Der Pole Marek Edelmann, geboren zwischen 1919 und 1922[2], war seit seinem ersten Engagement in der sich formierenden polnischen Opposition 1976 und dann auch in der Solidarność-Bewegung, die einzige prominente Figur, die eindeutig als Jude zu erkennen war. Hier tut sich wieder ein Unterschied auf: In Willy Brandts Vergangenheit konnte man herumstochern – manche haben das getan –, ihn als Emigranten gar des „Verrats“ an (falsch verstandenen) deutschen Interessen zu bezichtigen. Dagegen musste in Marek Edelmans Lebenslauf die Suche nach vermeintlich angreifbaren Stellen ins Leere laufen. Die jüdischen Aktivitäten vor dem Krieg und der Warschauer Ghetto-Aufstand hatten Edelman nicht nur geprägt, sie wurden zu seinem Markenzeichen, spätestens als die Schriftstellerin Hanna Krall ihm und den Aufständischen in ihrem wunderbaren Buch „Zdążyć przed Panem Bogiem“ 1977 ein Denkmal setzte (die deutschen Ausgaben erschienen unter den Titeln: „Dem Herrgott zuvorkommen“ und „Schneller als der liebe Gott“).

Marek Edelman als Jude zu „enttarnen“, wie es Antisemiten in Polen mit dieser oder jener Persönlichkeit gelegentlich versucht haben, wäre also sinnlos gewesen. Er war so offensichtlich Jude, wie man nur Jude sein kann. Nicht im Sinne der Assimilierten, die erst durch den Holocaust ihre Zugehörigkeit entdeckten und „Jude doloris causa“ wurden, wie es der polnische Dichter Julian Tuwim 1944 von sich gesagt hatte. Edelman war, wie erwähnt, schon vor dem Krieg in jüdischen Organisationen aktiv gewesen. Vor die Wahl gestellt, die viele jüdische Familien spaltete, die Wahl, zu gehen oder zu bleiben, das zionistische Projekt in Palästina oder einen klassen- und rassenlosen Sozialismus in Polen anzustreben, hatte Edelman sich früh für Letzteres entschieden. Später lebte er, öffentlich und politisch aktiv und für viele in Polen eine moralische Autorität, mit der Bürde, „letzter lebender Anführer des Ghetto-Aufstands“ zu sein, in Łódź. Diese Stadt, nach dem Krieg angesichts der Verwüstung Warschaus so etwas wie eine zweite Hauptstadt, ist wohl die einzige unter den polnischen Großstädten, die Aufnahme in den Schatz deutscher Schlager gefunden hat: „Theo, wir fahr’n nach Lodsch“. Folgen wir also im Geiste Vicky Leandros, die dieses Lied zum Hit werden ließ.

Ich habe mehrfach Gelegenheit gehabt, mit Marek Edelman zu sprechen.[3] Kürzlich erwähnte er beiläufig, er habe vor dem Krieg den jungen Willy Brandt in Warschau reden hören. Daraufhin habe ich bei einer weiteren Begegnung Edelman über seine (der deutschen Brandt-Forschung völlig unbekannten) Beziehung zu dem späteren Bundeskanzler befragt. Eine Beziehung, die drei historische Epochen umspannt; eine politische Seelenverwandtschaft, die sich manifestierte, als der damalige SPD-Vorsitzende 1980 für die westdeutsche Ausgabe des Buches von Hanna Krall das Vorwort beisteuerte. „Die Verfasserin setzt der Menschlichkeit dessen ein Denkmal, der sich dem Sterben entgegenstellt – erst im Ghetto, dann als Herzchirurg“, schreibt Willy Brandt. Er habe das Buch über den Ghetto-Aufständischen „nicht nur als ein Buch vom Sterben empfunden“, vielmehr als „ein Buch vom Leben, für das Leben gelesen“, will sagen: als an uns Heutige gerichtete „Mahnung, der Zerstörung zu widerstehen, den Glauben an das Leben zu wahren und den Willen zum Überleben zu behaupten.“[4]

Edelman hat seinerseits die klare Haltung Brandts zur NS-Vergangenheit gewürdigt – gelegentlich in seiner offenen und undiplomatischen Art, die Brandt selbst vermutlich in Verlegenheit gebracht hätte. In seinem autobiografischen Bericht erzählt er: „Als Brandt Bürgermeister von Berlin geworden war, sagte er den Juden: ‚Nehmt Geld für Euer Leid. Lehrt die Deutschen, dass sie für ihre Sünden zahlen müssen‘.“[5] Er selbst jedoch sei nie Zwangsarbeiter gewesen, die Deutschen seien ihm nichts schuldig, und im Grunde könne ja auch Geld das viele Leiden und Sterben nicht wiedergutmachen. Doch gab es wirklich eine Beziehung zwischen Brandt und Edelman? Soviel sei vorweggenommen: Es war eine Beziehung mit Hindernissen.

1937: Willy Brandt spricht in Warschau

Das erste Mal kreuzten sich die Wege der beiden knapp drei Jahre vor dem Krieg in Warschau. Die außen- und innenpolitische Lage Polens, ebenso wie die Situation der 3,5 Millionen polnischen Juden, zur Jahreswende 1936/37 war alles andere als erfreulich. Anderthalb Jahre zuvor war Marschall Józef Piłsudski gestorben. Aus der sozialistischen PPS kommend und Gegner eines ethnisch oder gar rassisch grundierten Nationalismus, war der Marschall die wichtigste Integrationsfigur in diesem (nicht nur ethnisch und religiös zerklüfteten) Gemeinwesen gewesen. Der Tod dieses im Laufe der Jahre zunehmend autoritär denkenden Politikers ließ nationalistische Kräfte Morgenluft wittern und stärkeren Einfluss auf die Regierung gewinnen. Die Zeit seit Piłsudskis Tod brachte eine deutliche Zunahme antisemitischer Aktivitäten; zugleich favorisierte die Regierung immer deutlicher die Auswanderung möglichst vieler Juden, wobei es sogar zu einer Zusammenarbeit mit zionistischen Organisationen kam[6].

Das alles geschah, wie uns aus heutiger Perspektive bewusst ist, im Schatten des erstarkenden Dritten Reiches. Warschau war mit Berlin zwar immer noch durch den Nichtangriffspakt von 1934 verbunden, der zu einer Erwärmung der deutsch-polnischen Beziehungen geführt hatte. Doch manche neuen Töne aus Berlin ließen nichts Gutes ahnen. Es ist reizvoll und beklemmend zugleich, einen Blick in die Warschauer Gazetten jener Wochen zu werfen. Im seriösen „Kurier Warszawski“ berichtet ein Autor aus der Reichshauptstadt: „‚Nicht Butter, sondern Kanonen brauchen wir‘ – das hat Minister Goebbels so oft wiederholt. In der Tat! Kanonen und Flugzeuge hat Deutschland inzwischen so reichlich, dass es sie sogar brüderlich mit Italien (in Abessinien) und mit General Franco teilt. ‚Mit Butter kann man nicht schießen‘, hat der Meister der deutschen Propaganda erst kürzlich gesagt. Die reine Wahrheit! Aber Kanonen kann man nicht essen! Und der Magen ist ein Herr von großer Macht!“[7]

Immer wieder berichtet der „Kurier“ in diesen Wochen von Versorgungsengpässen in Berlin, von einer Verschlechterung der Lage im Vergleich zu jenem Wonnemonat, als die Olympiade stattfand. Beherrschendes Thema ist, was Deutschland betrifft, über viele Tage eine Rede von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der für Deutschland Kolonien gefordert hatte. Doch auch die Gefahr einer Expansion nach Osten meint der „Kurier“ aus manchen deutschen Äußerungen herauslesen zu können und wundert sich über das ihm unverständliche, geradezu rätselhaft erscheinende „Volk ohne Raum“-Denken. Auch die sich verschlechternde Lage der polnischen Minderheit in Deutschland wird mit großer Sorge beobachtet; dass in Oberschlesien jetzt auch die Krakauer Wurst offiziell umbenannt worden sei (in „Oberschlesische Wurst roh“), wird als ein Symptom unter vielen vermerkt[8].

Über die Aktivitäten deutscher Emigranten, „realpolitisch“ betrachtet ebenso eine Randerscheinung wie die Tätigkeit polnischer Emigranten ein halbes Jahrhundert später, berichtet die Zeitung in diesen Wochen nicht. Das jüdische Leben in der Metropole Warschau, eine Welt für sich, ist offenbar ebenfalls kaum erwähnenswert. So wären die Spuren eines jungen deutschen Antifaschisten, der damals in Warschau (bereits unter dem Decknamen „Willy Brandt“) eine Rede hielt, wohl für immer unentdeckt geblieben – wäre da nicht Marek Edelman. Der damalige jüdische Jugendaktivist sympathisierte mit dem sozialdemokratisch und austromarxistisch geprägten „Bund“ (mit vollem Namen „Algemejner Jidyscher Arbeter Bund in Pojln“). Der „Bund“ war die stärkste der jüdischen Parteien in Polen und in mehr als hundert Stadträten vertreten. Seine Jugendorganisation, der „Jugnt-Bund Cukunft“, zählte 1938 etwa 15.000 Mitglieder.[9]

Der „Bund“ und die deutsche Sozialdemokratie hatten in den zwanziger Jahren engste Beziehungen gepflegt; das Gebäude des „Vorwärts“ in Berlin war im topografischen Sinne der Dreh- und Angelpunkt dieser Zusammenarbeit.[10] Doch über der Frage der Tolerierung der Regierung Brüning – und zugleich des Vorgehens gegen die erstarkenden Nationalsozialisten – geriet man in tiefen Streit. Die „Bund“-Führer warfen der SPD in beiden Punkten eine zu weiche Haltung vor, einmal sogar einen „Flirt mit dem Faschismus“, was Otto Wels im Sommer 1931 öffentlich mit der Bemerkung zurückwies, der „Bund“-Politiker Henryk Erlich spiele sich als „Schulmeister der deutschen Sozialdemokratie“ auf. Doch die Geschichte ging weiter: Zwei Jahre später sah Erlich, wie er damals schrieb, in den SPD-Politikern „gebrochene Männer“.[11] Worte weniger der Häme, vielmehr des Mitgefühls und der Sorge.

Willy Brandt hatte sich derweil, aus ähnlichen Gründen wie die „Bund“-Führer, selbst von der SPD distanziert. Er wurde Vorsitzender der Jugendorganisation der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die sich 1931 von der SPD abgespalten hatte, und dann auch Leiter eines 1934 gegründeten „Internationalen Jugendsekretariats“ linker Gruppierungen.[12] Dieses Sekretariat sollte im holländischen Laren gegründet werden, im Verlauf einer Konferenz, „die die Polizei sprengte, bevor sie begonnen hatte; das Gebäude, eine Jugendherberge, war von Feldgendarmerie umstellt. Die ausländischen Teilnehmer wurden verhaftet, vier deutsche Flüchtlinge, wie ich selbst Vertreter des Jugendverbands der SAP, in Handschellen an die deutsche Grenze gebracht und ausgeliefert.“ Brandt selbst landete Dank seiner mitgeführten norwegischen Aufenthaltserlaubnis nur im Polizeigefängnis in Amsterdam und wurde nach Belgien abgeschoben. Daraufhin fuhren die verbliebenen Jungsozialisten nach Brüssel, wo sie unter Brandts Mitwirkung „ziemlich bedrückt“ ihre Konferenz abhielten und das Sekretariat aus der Taufe hoben.[13] Der Jugnt-Bund war ebenfalls zu dieser Konferenz eingeladen, sein Grußwort wurde verlesen, und etwa zur gleichen Zeit druckte „Kegn Schtrom“ (Gegen den Strom), das Organ des linken Flügels des Jugnt-Bunds, „exklusiv“, wie zu lesen war, einen Beitrag Willy Brandts[14].

Das war, soweit zu ermitteln ist, der Hintergrund für Brandts ersten Besuch in Warschau, an den sich Marek Edelman erinnert. Lassen wir den Zeitzeugen selbst zu Wort kommen: „Das war wohl 1937. Ein Jugendtreffen des Jugnt-Bund Cukunft fand statt, und Brandt kam als Vertreter der deutschen jungen Sozialdemokratie, die bereits illegal war. Woher er angereist kam, weiß ich nicht, jedenfalls war er auf dieser Konferenz. Er redete und brachte den Delegierten am Ende so einen Pfadfinderruf bei: „Bravorakabum, Bravorakabum, wer-wer-wer mir-mir-mir“, dann nannte man seinen Namen, und dann „Hurra!“[15]

Auf meine Nachfragen hin ergibt sich folgendes: Edelman berichtet, diese Versammlung von „mehreren hundert Menschen“ habe in Warschau in einem Saal „in der Zamenhof-Straße in der Gewerkschaft der Büroangestellten, Hausnummer 6 oder 8“, stattgefunden. Eine schier unglaubliche Koinzidenz: Der Bundeskanzler kniete 1970 unter der Last deutscher Schuld in Sichtweite des Ortes nieder, wo der junge Redner Willy Brandt einst vor den Nazis gewarnt hatte[16]. „Wenn man heute mit dem Gesicht zum Ghetto-Denkmal steht, war das linkerhand“, sagt Edelman. Ob das Brandt 1970 bewusst war? Das ist keineswegs sicher: Die Zerstörung der Häuser im Ghetto und die Veränderungen im Stadtbild waren tief greifend. Doch der Straßenname ist bis heute geblieben.

Es habe im Saal eine „freundschaftliche“ Atmosphäre geherrscht, erinnert sich Edelman, und die auf Deutsch gehaltene, den des Jiddischen kundigen Zuhörern großenteils verständliche Rede sei „gut und kommunikativ“ gewesen („było dobre, kontaktowe“). Mit diesem Auftritt war der Aufenthalt Brandts jedoch noch nicht zu Ende, im Gegenteil. Noch einmal Marek Edelman: „Dann stellte sich heraus, dass er nicht aus Polen ausreisen konnte. Man brauchte ein Visum, er hatte wohl einen illegalen Pass, und so begann er, sich versteckt zu halten. Er versteckte sich in der Gaststätte, wo Jankiel Goldstein Kellner war. Wenn geschlossen wurde, schob er die Tische zusammen, legte eine Matratze darauf, und Brandt übernachtete dort. Währenddessen organisierte der Jugendaktivist Lucjan Blit seine Ausreise. Mit einem falschen Pass oder gegen Geld. Zehn, zwölf Tage hat Jankiel ihn dort versteckt gehalten, dann ist er ausgereist, wohl in die Tschechoslowakei. Das ist alles, was ich weiß.“[17]

Viel mehr als Edelman wissen wir heute auch nicht. Der einzige Hinweis darauf, dass Brandt tatsächlich vor dem Krieg in Warschau war, ist neben der Erinnerung des Ghetto-Kämpfers die Aussage des deutschen Diplomaten und späteren Botschafters Johannes Bauch, der um das Jahr 1989 herum eine ranghohe SPD-Delegation in Polen begleitete; die Besucher hätten sich für das Erbe des „Bund“ interessiert, und aus ihrem Kreis sei die Nachricht von einer solchen Reise Brandts gekommen.[18]

Dass sich in Brandts veröffentlichten wie unveröffentlichten Erinnerungen und Papieren keinerlei Erwähnung des Aufenthalts in Warschau findet, führt Gertrud Pickhan auf folgendes zurück: „…we should keep in mind that materials regarding sensitive contacts of the SAP in the thirties were destroyed. As such, the illegality of Brandt’s trip to Poland might be the reason why no traces of it exist.” [19] Das erklärt aber noch nicht, warum Brandt selbst seinen Aufenthalt in Warschau später nie erwähnt hat. Ein Grund dafür könnte sein, dass der Auftritt beim jüdischen „Bund“, anders als viele Aktivitäten Brandts, ein Gastspiel auf organisatorisch fremdem Terrain (und, wie wir gleich sehen werden, womöglich nur auf der Durchreise eingeschoben) war. Vielleicht hat er sich dessen, also später, nicht sonderlich rühmen wollen, umso mehr, als die Beziehungen zwischen der Mehrheits-Sozialdemokratie und dem „Bund“, wie erwähnt, nach 1933 nicht die besten waren. Oder war Brandts Schweigen am Ende der Rücksicht auf die deutsche Öffentlichkeit geschuldet, in der ja schon sein Kniefall auf ein geteiltes Echo gestoßen war und der er nicht noch weitere Details über alte „Verbindungen“ zu Polen und den Juden in den Rachen werfen wollte? Das muss Spekulation bleiben.

Immerhin lässt sich das Datum der Reise ungefähr bestimmen: Sie muss zur Jahreswende 1936/37, höchstwahrscheinlich in den ersten Januartagen erfolgt sein. Im Jahre 1936 hatte sich Brandt länger in Paris aufgehalten; er war sich im unklaren, welche politische Mission er als nächste übernehmen sollte, und schüttete seinem Freund Max Diamant das Herz aus („er stammte aus Łódź und war berühmt für seine Gabe, auch abwegige Dinge sozialistisch zurechtzurücken“[20]). Diamants Rat und die „List seiner Vernunft“ bewogen Brandt, als norwegischer Student getarnt im Spätsommer nach Berlin zu reisen. Kurz vor Weihnachten fuhr er von dort nach Prag. Um die Jahreswende 1936/37 wirkte er sodann an einer SAP-Konferenz mit, die in Mährisch-Ostrau nahe der polnischen Grenze mehrere Dutzend Aktivisten versammelte und zum Zwecke der Irreführung der Gestapo „Kattowitzer Konferenz“ genannt wurde. Während bereits die Nachrichten von den Moskauer Prozessen für Entsetzen sorgten, willigte Brandt dort ein, als Berichterstatter für längere Zeit in das vom Bürgerkrieg geschüttelte Spanien zu gehen. Doch zuerst wollte er von Mährisch-Ostrau noch nach Hause, also nach Oslo: „Es ging mit dem Zug nach Danzig – ein polnisches Durchreisepapier hatte ich mittels einiger in den norwegischen Pass gelegter Geldscheine ergattert – und von dort mit einem dänischen Frachter gen Kopenhagen.“[21] Wahrscheinlich fuhr Brandt also nicht von Warschau in die Tschechoslowakei, wie Edelman sich zu erinnern meint, sondern kam gerade von dort und reiste weiter nach Norden.[22]

Der weitere Verlauf der europäischen Geschichte ist bekannt. Marek Edelman erinnert sich an die große Deportation polnischer Juden aus Deutschland in den deutsch-polnischen Grenzort Bentschen (Zbąszyń) im Oktober 1938, von wo aus viele auf eigene Faust nach Warschau weiterreisten. Edelman war damals Zeitzeuge am Zielort: „Ich war Sekretär eines Hilfskomitees für diese Juden. In der Leszno-Straße, Ecke Karmelicka-Straße, hatte das Komitee sein Büro. Die Menschen brachten Mäntel, Kleidung, Wäsche, und das wurde dort verteilt. (…) Die [Deportierten] saßen in Zbąszyń, aber viele waren bereits in Warschau, das war ja dort nicht abgeschottet, dass man dort nicht hätte wegfahren können.“[23]

Ein Jahr später waren die deutschen Truppen in der polnischen Hauptstadt. Es folgten die Einrichtung des „jüdischen Wohnbezirks“ und der Holocaust. Marek Edelman war unter den wenigen, die zur Waffe griffen: ein Fanal des Widerstands in aussichtsloser Lage. 1943 erlebte Warschau den Todeskampf des Ghettos; auch Brandt würdigt diesen Aufstand, „den ich von meiner Stockholmer Warte verfolgt hatte und von dem die gegen Hitler kriegführenden Regierungen kaum mehr Notiz nahmen als vom heroischen Aufstand der polnischen Hauptstadt einige Monate danach.“[24] Edelman wurde nicht erschossen, beging nicht Selbstmord; tertium datur: Er entkam und überlebte. Ein Jahr später kämpfte er noch einmal, im Warschauer Aufstand. Dann war der Krieg vorbei. Der polnische Jude, als Gegner des Zionismus seinem Herkunftsland verbunden, versuchte, sich in Łódź einzurichten, und wurde Kardiologe. Willy Brandt dagegen sollte bald wieder in Deutschland sein: zunächst als Berichterstatter bei den Nürnberger Prozessen, dann als norwegischer Presseattaché in Berlin[25]. Der Aufenthalt Brandts 1937 in Warschau sollte jedoch, so erzählt es Edelman, auch nach 1945 noch ein Echo haben: „Nach dem Krieg ist er in London mehrfach bei Lucjan Blit gewesen (bywał) und wahrscheinlich bei der Ciołkoszowa. Mit Lucjan war er befreundet bis zum Ende.“[26] Über den erwähnten Kellner Jankiel Goldstein berichtet Edelman: „Als dieser Jankiel aus dem Lager [Auschwitz] kam, da war er sehr arm, da hat er Brandt geschrieben, einmal, ein zweites Mal, er möge ihm helfen, aber er hat nicht geantwortet. Jankiel war sehr krank, (…) er lebte in Paris. Ich habe [Brandt] in dieser Sache ebenfalls geschrieben, aber keine Antwort bekommen. Das war in den vierziger, fünfziger Jahren, er war damals Bürgermeister von Berlin.“[27]

Doch all diese Dinge sind offenbar Willy Brandts Privatangelegenheit geblieben. Weder die Familie noch die deutsche Forschung wussten bisher von Brandts Aufenthalt in Warschau 1937 oder von polnischen bzw. polnisch-jüdischen Bekannten ihres Vaters in Großbritannien.[28]

Warschau 1970: Der Kniefall

Im Falle der zweiten Polenreise Brandts vom Jahre 1970 ist die Quellenlage eine ganz andere. Hier sprudelt die Erinnerung aller, die irgendwie Zeitzeugenschaft beanspruchen können. Dennoch gibt es auch hier noch etwas zu entdecken.

Auf die historische Dimension des Besuches des Bundeskanzlers kann an dieser Stelle nur kurz eingegangen werden. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schreibt Brandt in seinen Erinnerungen. „Ich weiß es auch nach zwanzig Jahren nicht besser als jener Berichterstatter, der festhielt: ‚Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können.‘“[29]

Die „hämischen und dümmlichen“ Fragen in Deutschland wegen des Kniefalls vor dem Ghetto-Mahnmal hat Brandt später mit bemerkenswerter, undiplomatischer Offenheit geschildert; ebenso die kritischen Fragen in Polen noch während seines Besuches, weil er am Grabmal des Unbekannten Soldaten „nur“ einen Kranz niedergelegt hatte. Am nächsten Morgen habe ihn Regierungschef Cyrankiewicz am Arm genommen und erzählt: „Das [offenbar ist die Nur-Kranzniederlegung gemeint, Anm. G. G.] sei doch vielen sehr nahe gegangen; seine Frau habe abends mit einer Freundin in Wien telefoniert, und beide hätten bitterlich geweint.“ [30]

Wie dem auch sei, das Bild des Kniefalls ging um die Welt, mehr noch, es fand seinen Weg in die Geschichtsbücher. Brandt hat an jenem Mahnmal gekniet, das ausdrücklich den mit der Waffe kämpfenden „Helden des Ghettos“ gewidmet ist, also Männern wie Marek Edelman. Seit Bundeskanzler Schröders Besuch 2000 erinnert ein kleines Relief am anderen Ende dieser Grünfläche, am „skwer (square) Willy Brandta“, an dessen knienden Vorgänger. Bald soll, dem Mahnmal direkt gegenüber, ein großes „Museum der Geschichte der polnischen Juden“ aus dem Boden des einstigen Ghetto-Geländes wachsen [Das Museum „POLIN“ wurde 2013 eröffnet, Anm. d. Red.]; es wird einer der aufwändigsten Museumsneubauten in Polen seit Jahrzehnten sein. Doch schon seit den 1980er Jahren gedenkt eine von Jahr zu Jahr wachsende Schar, stets dem Anführer der Aufständischen folgend, mit einem kleinen Umzug von Station zu Station des Ghetto-Aufstands vom April 1943. Edelman erinnert sich folgendermaßen an Brandts Kniefall, von dem er 1970 aus dem Fernsehen erfuhr: „Das war erschütternd. Brandt hat gezeigt, wie das deutsche Volk nach seinem Willen sein sollte. Eine große Sache.“ Der Kanzler habe „das Antlitz der Deutschen erschüttern“ wollen. An Stimmen, die das Ausbleiben eines Kniefalls gegenüber der polnischen Nation monierten, könne er sich jedoch, sagt Edelman heute, „nicht erinnern“.[31]

Unbekannt ist bis heute ein Ereignis am Rande des Brandt-Besuchs, das in gewissem Sinne seinen Schatten auf die schwierige Beziehung Brandts zur polnischen Opposition in den achtziger Jahren vorauswirft. Marek Edelman erzählt vom Besuch des Kanzlers, dessen Termine offenbar auch im (bis heute vom Außenministerium genutzten) Palais an der Foksal-Straße stattfanden: „Als er 1970 hier niederkniete, bestanden gewisse Schichten im Untergrund [gemeint sind oppositionelle Zirkel, Anm. G.G.]. Also waren Jan Józef Lipski, Aniela Steinsbergowa und ich mit einem Rat der deutschen Botschaft in der Foksal-Straße verabredet, Brandt solle uns empfangen. Wir sind dreimal hingefahren, und jedes Mal sagte der Portier, es gebe keine Anweisung, uns zu empfangen. Er hat uns also nicht empfangen. Dreimal an einem Tag sind wir hingefahren, er war ja zwei Tage hier.“[32]

Seit dieser offenbar von polnischen Staatsbediensteten oder Sicherheitskräften verhinderten Begegnung standen die Beziehungen zwischen Brandt und den polnischen Bürgerrechtlern – nennen wir es so – unter einem unglücklichen Stern. Gewiss ist Edelman nie eine aktive Führungsperson der Bürgerrechtsbewegung gewesen, eher Symbolfigur und wohlwollender Begleiter, der hin und wieder seinen Namen hergab und dessen internationale Bekanntheit hilfreich war. Was das Jahr 1970 betrifft, so hatte es damals über kleine Zirkel hinaus noch keine organisierte Opposition gegeben. Umso beachtlicher, dass es zum Plan einer Begegnung mit dem Bundeskanzler gekommen war. Tragisch genug: Der Plan wurde nicht Wirklichkeit, und womöglich hat Brandt selbst davon nicht einmal erfahren.

1982: Edelman im Lager

Dieses Kapitel ist schnell erzählt. Im „polnischen Sommer“ 1980 entstand die zehn Millionen Mitglieder starke freie Gewerkschaft „Solidarność“. Ein Jahr später, auf ihrem ersten Landeskongress in Danzig, wurden, wie Edelman sich erinnert, zwei alte Männer mit stehenden Ovationen gefeiert: Ein greiser Weltkriegsveteran, General Mieczysław Boruta-Spiechowicz – und er selbst, der Ghetto-Kämpfer.

Als am 13. Dezember 1981 Partei- und Staatschef General Jaruzelski das Kriegsrecht verhängte, kam Edelman wie etwa 6.000 andere Anhänger der Opposition in ein Internierungslager. „Brandt war gerade in London“, erinnert er sich mit Genugtuung, „und er hat im Rundfunk zu meiner Verteidigung gesprochen“. Er selbst habe es nicht hören können, „aber [Innenminister] Kiszczak hat es gehört. Oder man hat es ihm gesagt. Das war einfach bekannt.“[33] Wenige Tage nach dem 13. Dezember versuchten auch zwei führende polnische Intellektuelle, Innenminister General Kiszczak zu erklären, „wer ich sei und warum man mich nicht im Knast halten sollte.“[34]

Willy Brandt, SPD-Vorsitzender und SI-Präsident, hatte gerade in jenen Tagen an den „Jewish Labor Bund“ in London, der bis heute assoziiertes Mitglied der Sozialistischen Internationalen ist, ein Grußwort gerichtet. Darin erinnert er „in Ehrfurcht“ an die vor genau 40 Jahren von den Sowjets ermordeten „Bund“-Führer Henryk Erlich und Viktor Alter.[35] Einen Monat später hält Brandt in London eine Rede vor der Vereinigung der Britischen Freunde des in Tel Aviv ansässigen Diaspora-Museums. Hier erwähnt er in der Tat Edelmans Internierung – mit Worten, die sehr viel trockener klingen als jene über Erlich und Alter, und die großenteils nicht an die Unterdrücker in Warschau und Moskau, sondern an den politischen Gegner in Deutschland gerichtet zu sein scheinen: „Ich gehöre nicht zu denen, die sich ihre Ratlosigkeit oder ihr nicht hinreichend gutes Gewissen durch starke Worte über Polen von der Seele reden, aber die Verantwortlichen sollen sich nicht im Unklaren sein, was sie rasch in Ordnung zu bringen haben. Der Fall Marek Edelmann [hier mit Doppel-n geschrieben] gehört dazu…“[36]

Sehr schnell trat ein, worauf die Protestierenden gehofft hatten. Der Mann aus Łódź berichtet lapidar: „Sie ließen mich frei.“[37]

1991: Polens Freiheit, Deutschlands Einheit

Der Tag, an dem sich Brandts und Edelmans Wege ein letztes Mal kreuzen, ist der 17. Juni 1991. Erst auf dieser letzten Etappe, gut ein Jahr vor Willy Brandts Tod, kommt es zu einem Wortwechsel. An diesem Tag unterzeichneten die Regierungschefs Bielecki und Kohl in Bonn den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag; Brandt und Edelman waren zugegen. Es war eine der ganz seltenen Reisen des einstigen Ghetto-Aufstandsführers nach Deutschland: „Ich war damals in der polnischen Delegation und habe ihn angesprochen. Doch er sagte, er kenne mich nicht, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Und mehr Kontakt habe ich zu ihm nicht gehabt. (…) Warum hat er nie gesagt, dass er [1937] in Warschau war? Das ist doch merkwürdig. Ich habe es vielen Leuten erzählt, aber er hat sich nie dazu bekannt. [Frage von G. G.: Als er sagte, dass er Sie nicht kenne, glauben Sie, dass das ehrlich gemeint war? Edelman:] Er kannte mich ja nicht persönlich. Ich habe meinen Namen gesagt, da hätte er Bescheid wissen müssen. Vielleicht konnte er sich nicht erinnern, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich kein Gespräch mit ihm geführt.“[38]

Wenn diese Begegnung genauso verlief, wie Edelman es beschreibt, mag man sich eine Fülle von Gründen dafür ausmalen, bis hin zu dem banalsten: dass Brandt die Vorstellung Edelmans akustisch nicht verstanden hat. So muss als (vorerst) letzte Begegnung des letzten großen Sohnes des jüdischen „Bundes“, der Erlich und Alter noch persönlich gekannt hatte, mit einem Politiker der deutschen Linken das Treffen mit Oskar Lafontaine gelten; es ist auf einem Foto festgehalten, das Edelman, den erwähnten bedeutenden Bürgerrechtler Lipski und weitere Männer in Polen im April 1990 in froher Runde mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden zeigen.[39]

Bilanz: Eine verhinderte Bekanntschaft

Brandt und Edelman: eine verhinderte Bekanntschaft. Man hätte sich wohl einiges zu sagen und vieles zu erzählen gehabt. Bruderschaft im Kampf gegen den Nationalsozialismus; Briefe, die nicht beantwortet werden; eine geplante Begegnung, die ein Ordnungshüter vereitelt, eine andere, die zustande kommt, doch offenbar missglückt. Zwei Schicksale diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs, die den Deutschen an die Spitze der SPD und der Sozialistischen Internationale bringen, während der polnische Jude und Bürgerrechtler immer wieder – nicht erst unter General Jaruzelski – im Polizeiarrest landet.

Verständigungsschwierigkeiten verschiedenster Art – warum? Waren es die üblichen Hürden, die sich in den Weg stellen, wenn einer Karriere macht und ein anderer, im formalen Sinne „Normalbürger“, mit ihm in Verbindung treten, an ihn „herankommen“ will? War es die (vermeintliche) Randständigkeit oder das mangelnde Gewicht des „Bundes“ in der Familie europäischer Sozialisten? Lag es an der nicht ganz einfachen Beziehung zwischen „Solidarność“-Bewegung und SPD? Oder war es – auch solche Untertöne klingen mit – das wiederkehrende Muster, wonach polnische Partner für die Deutschen Partner zweiter (Größen-)Ordnung und nachrangiger Bedeutung sind, was die polnische Seite regelmäßig als Zurücksetzung oder Ignorierung empfindet?

All dies hat wohl eine Rolle gespielt. Sie hätte anders verlaufen können, die Bekanntschaft zwischen dem Mann, der im Warschauer Ghetto kämpfte, und dem, der dort niederkniete. Dabei erscheinen der junge Brandt und der junge Edelman einander in vielem verwandt. Auf Fotos[40] aus dem Jahre 1937 sehen sie sich sogar ähnlich: gut aussehende junge Männer im Flanellhemd; auf geschwungenem Hals ein fast keck emporgereckter Kopf, das sich bauschende Haar nach hinten gekämmt. Männer mit offenem Blick; Menschen von aufrechtem Gang.


Gerhard Gnauck studierte Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaft und Slawistik, war fester Korrespondent der Zeitung “Die Welt” in Warschau und ist seit 2018 politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Warschau für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen.

 

 


Der Essay erschien in dem Band “Facetten der Nachbarschaft”

Bestellbar (10,35 EUR) unter…


[1] Von ähnlicher Prominenz war lediglich der frühere Kommunist Herbert Wehner, dessen Emigration und Rolle in Moskau der deutschen Sozialdemokratie wahrlich nicht zum Ruhme reichte. Bereits ein erster Blick offenbart einen Kontrast zwischen Deutschland und Russland (nach 1945 bzw. 1991). Einerseits, gelangten Emigranten – die Ausnahme Brandt bestätigt die Regel – höchst selten in Regierungsämter und andererseits waren sie fast selbstverständlich als Regierungsbeteiligung in den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas und des Baltikums, wo sie nach 1989/91 vielfach Minister, Staats- bzw. Regierungschefs geworden sind. Eine bemerkenswerte deutsch-russische Gemeinsamkeit, vielleicht in Verbindung zu setzen mit der Tatsache, dass die Diktaturen in beiden Ländern „hausgemacht“ waren.

[2] Auch die Autoren der neuen, umfassenden Edelman-Biografie lassen diese Frage offen. Witold Bereś/ Krzysztof Burnetko, Marek Edelman. Życie. Po prostu, Warszawa 2008, S. 6-8.

[3] Gerhard Gnauck, Die Verachtung des Lebens hat alles verändert, in: Die Welt vom 9.1.1999.

[4] Hanna Krall, Schneller als der liebe Gott, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 7.

[5] Rudi Assuntino/ Wlodek Goldkorn, Strażnik. Marek Edelman opowiada, Kraków 1999, S. 245; (Dt.: Der Hüter. Marek Edelman erzählt, C.H. Beck Verlag, München 2002)

[6] Vgl. Janusz Pawlak, Żydzi w dokumentach administracji państwowej w dwudziestoleciu międzywojennym (1918–1939), Toruń 2007, S. 72-74.

[7] Kurier Warszawski, 20.12.1936.

[8] Ebda., 24.12.1936.

[9] Angaben nach: Żydzi w Polsce. Dzieje i kultura. Leksykon, hrsg. v. Jerzy Tomaszewski/ Andrzej Żbikowski, Warszawa 2001, S. 47 f. und 223.

[10] Vgl. Gertrud Pickhan, The „Bund“in Poland and German Social Democracy in the 1930s. Proceedings of the Twelfth World Congress of Jewish Studies, Division B, Jerusalem 2000, S. 257-263.

[11] Ebda., S. 260f.

[12] Schilderung und nachfolgende Zitate in: Willy Brandt, Erinnerungen, Berlin u. München 2002, (Unveränderter Nachdruck der 1989 erschienen Originalausgabe), S. 101f.

[13] „Es vereinigte Sektierer aller Länder“, sollte Brandt später (selbst-) kritisch schreiben und hinzufügen, er habe einige Jahre später der „Sonderbündelei“ abgeschworen. Brandt, Ebda.

[14] Willy Brandt: „Revolutsionere jugnt far vichtiger antschajdung“. In diesen Details folge ich weitgehend Pickhan, ebda., die mir außerdem mitteilte, dieser Beitrag sei offenbar auch in anderen sozialistischen Jugendzeitschriften erschienen, wie aus dem Brandt-Nachlass hervorgehe. Ob „Bund“-Aktivisten selbst auf der Konferenz zugegen waren, ist unklar. In Brandts Erinnerungen werden „Bund“, „Jugnt-Bund Cukunft“ und die Zusammenarbeit mit ihnen in diesem Zeitraum nicht erwähnt.

[15] In meiner Deutung: „Bravorakabum – wer ist mit mir?“ Dieses und weitere Zitate, sofern nicht anders vermerkt: Gespräch mit Marek Edelman, 8.12. 2007.

[16] Worüber Brandt sprach, ist Edelman leider nicht erinnerlich, doch ist in Anbetracht des vorher Gesagten und von Brandts Aktivitäten allgemein zu vermuten, dass er sich in diesem Sinne äußerte.

[17] Einen sehr ähnlichen mündlichen Bericht hat Edelman Gertrud Pickhan geliefert; als zusätzliches Detail taucht dort noch „a merry party in the evening“ nach Brandts Rede auf (Pickhan, ebda., S. 263). Pickhan und auch Władysław Bartoszewski halten Edelmans Aussagen für glaubwürdig, wie sie mir sagten, und die Fülle farbiger Details spricht m. E. ebenfalls dafür. Eine kurze Schilderung des Brandt-Besuchs aus seinem Munde auch in: Assuntino/ Goldkorn, S. 25. Edelman antwortete mir auf die Frage, ob er damals selbst mit Brandt gesprochen habe, ausweichend: „Er war doch damals die ganze Zeit versteckt.“

[18] Gespräch mit Johannes Bauch, 4.04.2008.

[19] Pickhan, ebda.

[20] Brandt, Erinnerungen, S. 109; im Weiteren folge ich zunächst Brandts Darstellung.

[21] Ebda. S. 116; damals gab es – wie heute – ein polnisches Konsulat in Mährisch-Ostrau; heute gibt es auch einen Honorarkonsul in Brünn, seit wann, konnte ich nicht ermitteln.

[22] Ich danke Friedhelm Boll (Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung), Holger Kozanowski und Harry Scholz (Willy-Brandt-Archiv) für die Unterstützung bei der Datierung. Im Anschluss an die Kattowitzer Konferenz ist Brandt nach ihren Angaben mit seinen Mitstreitern Diamant und Walcher noch nach Brünn gefahren (vgl. Willy Brandt, Links und Frei, Hamburg 1982, S.200) und dann Richtung Polen. Laut Lorenz ist Brandt „um den 10. Januar 1937 herum nach Oslo“ zurückgekehrt (Einhart Lorenz, Willy Brandt in Norwegen, Kiel 1989, S.176). Tatsache bleibt: „Wir konnten in unserer Datenbank leider keine Hinweise auf eine Reise von Brandt nach Warschau 1936/37 oder eine Rede vor Bundisten finden.“ (Holger Kozanowski)

[23] Gespräch Edelman. Er sei in dem Hilfskomitee der jüngste gewesen, erinnert sich Edelman. – Während einige tausend Juden über Monate in dem Grenzort ausharren mussten, gelang vielen, etwa Marcel Reich-Ranicki, dem seine Familie aus Warschau Geld schickte, schnell die Weiterreise, in seinem Fall nach Warschau.

[24] Brandt, Erinnerungen, S. 214.

[25] Dort ist er Hubert Meller begegnet, einem Kommunisten aus polnisch-jüdischer Familie, der damals an der Polnischen Militärmission in Berlin Presseattaché war (sein Neffe war der 2008 verstorbene Stefan Meller, 2005/06 polnischer Außenminister). Doch scheint es keine nähere Bekanntschaft gewesen zu sein. Gespräch mit Hubert Meller, 28.2.2008.

[26] Gespräch Edelman. Blit (1906–1978), vor dem Krieg Sekretär des Jugnt-Bund Cukunft, seit 1943 in London, machte sich dort einen Namen als Journalist und Historiker, zuletzt an der LSE; seine nachgelassenen Papiere (http://www.ssees.ac.uk/archives/bli.htm) könnten Aufschluss geben über seine Kontakte zu Brandt. Die zwei Töchter Blits überlebten den Holocaust, von Polen versteckt, und gelangten ebenfalls nach London. Mit [Lidia] Ciołkoszowa (1902–2002) ist sicher die Frau von Adam Ciołkosz (1901–1978) gemeint, der ebenfalls während des Krieges nach London gelangte und später Vorsitzender der Exil-PPS war; die Eheleute Ciołkosz gehörten über Jahrzehnte zu den wichtigsten Persönlichkeiten des polnischen Exils.

[27] Gespräch Edelman. Ähnlich, doch nachdenklicher formuliert Edelman bei Assuntino/ Goldkorn: „Vielleicht ist der Brief [Goldsteins] nicht angekommen? Jedenfalls stellte Jankiel fest, er habe genug vom Sozialismus, und eröffnete in Paris eine Galanteriewarenhandlung.“

[28] Gespräche mit Peter Brandt, Lars Brandt und Brigitte Seebacher (verwitwete Brandt) im März 2008. Peter Brandt sieht es als „persönliche Eigenschaft“ seines Vaters an, über viele Dinge nicht zu erzählen, „gar nicht einmal, um etwas zu verheimlichen“. Auch Mieczysław Rakowski, dem letzten kommunistischen Partei- und Regierungschef Polens und offenbar guten Bekannten Brandts, ist dessen Warschau-Aufenthalt nie zu Ohren gekommen; Auskunft Rakowski, 4.4.2008.

[29] Brandt, Erinnerungen, S. 214.

[30] Ebda., S. 215. Noch Stefan Meller, Außenminister in Warschau 2005/06, hat beklagt, Deutschland habe bis heute keine angemessene, dem Kniefall vergleichbare Geste gegenüber Polen gefunden, vgl. mein Interview mit Meller, NZZ, 27.8.2007.

[31] Gespräch Edelman.

[32] Gespräch Edelman. Der Diplomat Bauch bestätigt unter Berufung auf eine eigene Quelle den Plan der Polen, Brandt zu treffen (Gespräch Bauch). Es bliebe zu klären, wer von bundesdeutscher Seite – eine Botschaft gab es damals übrigens noch nicht, nur eine Handelsvertretung – die Verabredung getroffen und ob sie in deutschen oder polnischen (Stasi-) Akten ihren Niederschlag gefunden hat. Der Literaturwissenschaftler Jan Józef Lipski (1926–1991), zeitweise Weggefährte der Kaczyński-Familie, und die Juristin Aniela Steinsbergowa (1896–1988) waren 1976 Gründungsmitglieder des „Komitees zu Verteidigung der Arbeiter“ (KOR), der wirkungsmächtigsten Bürgerrechtsgruppe und Keimzelle der „Solidarność“-Bewegung. Edelman zieht eine Linie vom „Bund“ über KOR zur Solidarność: „für mich war das eine Kontinuität, dieselben Werte.“ Assuntino/ Goldkorn, S. 126.

[33] Gespräch Edelman. Der damalige Innenminister gibt auf meine Frage, was Worte wie die Willy Brandts bewirkt hätten, zu Protokoll: „Solche Proteste haben hier niemanden beeindruckt.“ Gespräch Kiszczak, 10.04.2008.

[34] Assuntino/ Goldkorn, S. 127.

[35] Hier ist von Edelman noch nicht die Rede – vielleicht war im Ausland noch nicht bekannt, dass auch er interniert worden war? Vgl. SPD-Pressemitteilung vom 21.12.1981, Willy-Brandt-Archiv, A3, 864. Als 1988 auf dem jüdischen Friedhof in Warschau ein Denkmal für Erlich und Alter enthüllt wurde und u. a. auch Edelman sprach, wurde unter vielen ausländischen Grußworten eines von Brandt verlesen, vgl. Bereś/ Burnetko, S. 366.

[36] Dies war am 26.1.1982, vgl. http://library.fes.de/cgi-bin/digibert.pl?id=015579&dok=29/015579 und Berliner Willy-Brandt-Ausgabe, Bd. 8, S.40.

[37] Vgl. Assuntino/ Goldkorn, Edelman selbst spricht davon, er sei nur wenige Tage interniert gewesen, sodass die Londoner Rede Brandts vermutlich geraume Zeit nach seiner Freilassung gehalten wurde.

[38] Gespräch Edelman. Diese Begegnung muss für den alten Mann umso befremdlicher gewesen sein, als er ja immer wieder von weniger bekannten Deutschen, selbst von Abkömmlingen von SS-Leuten, in Polen aufgesucht wurde.

[39] Wiedergegeben im Gedenkbuch: Jan Józef. Książka o Janie Józefie Lipskim. Spotkania i spojrzenia, Warszawa 1996, nach S. 256.

[40] Zu sehen in Brandt, Erinnerungen, S. 215, und Assuntino/ Goldkorn, Strażnik, S. 15.

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