Vor gut 400 Jahren, am 23. Mai 1618, fand der Protest von Teilen der böhmischen Stände gegen die Einschränkung ihrer politischen und religiösen Freiheitsrechte seinen symbolischen Ausdruck darin, dass die beiden königlichen Statthalter in Böhmen zusammen mit ihrem Kanzleisekretär aus den Fenstern der Prager Burg geworfen wurden. Der folgende Aufstand bildete den Auftakt zu den verheerenden militärischen Auseinandersetzungen, die sich als Dreißigjähriger Krieg tief in das deutsche historische Gedächtnis eingeschrieben haben. Mehr oder weniger stark waren alle europäischen Mächte in die sich von 1618 bis 1648 hinziehenden Konflikte um die politische und konfessionelle Ordnung in Mitteleuropa verwickelt, darunter zumindest zeitweilig auch Polen-Litauen. Dennoch konnte dessen Gebiet im Vergleich zu den verwüsteten Territorien des Heiligen Römischen Reiches während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als ein Raum der Stabilität und Sicherheit erscheinen und wurde so zu einem wichtigen Fluchtort für diejenigen, die Krieg und Zwangsmaßnahmen in den deutschen Ländern entkommen wollten. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht auch in Polen-Litauen eine Vielzahl innenpolitischer Konflikte und äußerer Kriegshandlungen gegeben hätte.
Ganz ähnlich wie in Böhmen war es am Beginn des 17. Jahrhunderts zu wachsenden Spannungen zwischen König und adligen Ständen gekommen, da sich der polnische König Sigismund III. Wasa ähnlich wie die habsburgischen Könige Böhmens um eine Stärkung der königlichen Entscheidungsgewalt und die Förderung der Gegenreformation bemühte. Seine Versuche, das politische System zu reformieren, verursachten 1606 einen Bürgerkrieg, der erst drei Jahre später beendet werden konnte, als der König auf seine Pläne verzichtete. Die Rechtsordnung mit ihrer Betonung adliger Freiheitsrechte blieb unangetastet und damit auch die Verpflichtung zur Wahrung des Religionsfriedens. Dies bedeutete, dass trotz wachsender Dominanz der katholischen Kirche im öffentlichen Leben für alle Adligen grundsätzlich weiter Glaubensfreiheit bestand, was der Gegenreformation gewisse Grenzen setzte.
Während die westlichen Gebiete Polen-Litauens von militärischen Konflikten ab den 1630er Jahren kaum noch betroffen waren, führte zeitgleich das Eingreifen der Schweden in den angrenzenden östlichen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches zu immer neuen Besatzungen und damit verbunden zu sich verändernden konfessionellen Ordnungen. Ein Teil der dortigen Bevölkerung versuchte sich den zunehmenden Kriegszerstörungen und religiösen Verfolgungen durch Flucht in das benachbarte Polen-Litauen zu entziehen, wo nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus besonders Handwerker und Kaufleute gern aufgenommen wurden. Zwischen 1628 und 1648 entstanden, nicht zuletzt um diese Flüchtlinge aufzunehmen, in der Region Großpolen 19 neue Städte – darunter 1638 Rawicz, das sich rasch zu einem Zentrum der Tuchproduktion entwickelte. Bereits bestehende Städte wie zum Beispiel das der Adelsfamilie Leszczyński gehörende Lissa (Leszno) oder die königliche Stadt Fraustadt (Wschowa) konnten ihre Bevölkerung mehr als verdoppeln, wurden mit über 10.000 bzw. 8.000 Einwohnern zu Großstädten und überflügelten auch wirtschaftlich das traditionelle städtische Zentrum der Region Posen, wo Protestanten weder das Bürgerrecht noch die Möglichkeit zum Gottesdienst gewährt wurde. Insgesamt siedelten während des Dreißigjährigen Krieges allein aus Schlesien, wie Tomasz Jaworski 1998 in einer ausführlichen Untersuchung herausgearbeitet hat, bis zu 40.000 Personen nach Großpolen über, darunter viele wohlhabende und gut ausgebildete. Erwähnt werden sollten dabei auch die wichtigen Vertreter der schlesischen Schule deutscher Barock-Dichtung Martin Opitz, der 1635 nach Danzig flüchtete und zum polnischen Hofhistoriographen ernannt wurde, sowie Andreas Gryphius, der 1632 zur Fortsetzung seiner Schulausbildung nach Fraustadt kam und sich 1847 nach langen Studienreisen zunächst hier niederließ, bevor er 1650 in seine Glogauer Heimat zurückkehrte.
Als im Jahr 1648 mit dem Westfälischen Frieden die Kriegshandlungen im Reich nach mehr als 30 Jahren endeten, begannen auf dem Gebiet Polen-Litauens neue militärische Auseinandersetzungen. Zunächst erhoben sich die Kosaken in den ukrainischen Gebieten, unterstützt erst von den Krimtataren, ab 1654 dann vom Moskauer Großfürstentum. Ein Jahr später kam ein Angriff Schwedens auf Polen und Litauen hinzu und die darauf folgenden entsetzlichen Verwüstungen haben sich als Schwedische Sintflut (Potop Szwedzki) ähnlich tief in das polnische historische Gedächtnis eingeschrieben wie der Dreißigjährige Krieg in das deutsche. Während mit Schweden 1660 ein Frieden geschlossen werden konnte, zog sich der Krieg mit Moskau noch bis 1667 hin, sorgte zusammen mit zeitgleichen Aufständen unzufriedener Soldaten und adliger Amtsträger für weiteres Elend und endete mit großen Gebietsverlusten. Zum mühsamen Wiederaufbau des zerstörten Landes trug nicht zuletzt die Wiederaufnahme der während des Dreißigjährigen Krieges begonnenen Migrationsbewegungen aus Schlesien bei. Es waren gerade frühere Fluchtzentren, wie Lissa, Fraustadt und Rawicz, die sich durch erneute Zuwanderung aus Schlesien verhältnismäßig rasch von den Kriegsfolgen erholten und als Standorte des Textilgewerbes wirtschaftliche Bedeutung zurückerlangten. Ein ähnlicher Migrationsprozess vollzog sich dann noch einmal nach den Zerstörungen des Großen Nordischen Krieges zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nun ergänzt um die Zuwanderung aus dem mitteldeutschen Raum.
Die Neusiedler blieben durch den steten Zuzug deutschsprachiger, überwiegend protestantischer Migranten in enger kultureller Verbindung zu ihren Herkunftsregionen, während die adlige Dominanz im politischen Leben und die gegenreformatischen Aktivitäten des katholischen Klerus den kulturellen Kontakt zur polnischen Umgebung lange erschwerten. Erst im Zuge der Reformpolitik während der Regierungszeit des letzten polnischen Königs Stanislaus II. August begann sich dies zu ändern – eine Entwicklung, die durch die Teilungen Polen-Litauens und den Beginn preußischer Herrschaft in Großpolen am Ende des 18. Jahrhunderts jedoch abgebrochen wurde.
Es kann nicht verwundern, dass sich nach den in deutschem Namen während des Zweiten Weltkrieges an der polnischen Bevölkerung begangenen Verbrechen daran lange Zeit wenig änderte. Erst allmählich begann sich eine neue, positivere Sicht auf die im Dreißigjährigen Krieg beginnenden Migrationswellen durchzusetzen. Seit den Jahren der rasch voranschreitenden Integration Polens in die europäischen politischen und wirtschaftlichen Organisationen nach 1989 wurde dann vor allem der Wissens- und Kulturtransfer betont, den die Flucht- und Siedlungsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts mit sich brachten. Es bleibt aber abzuwarten, inwieweit und in welche Richtung sich die Deutungen des historischen Geschehens weiter verändern werden.
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