Der „emotional turn“, also die emotionstheoretische Wende in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hat seit gut zwei Jahrzehnten auch ihren Einzug in die historische Forschung gehalten und ist dabei auf fruchtbaren Grund gefallen. In dieser Hinsicht hat sich in den vergangenen Jahren gerade die deutsche Zeitgeschichte zu einem (zurecht) beliebten Forschungsfeld entwickelt. Den Löwenanteil macht dabei das in Bezug auf Deutschland und die Deutschen wohl am meisten angeführte und durchbuchstabierte Gefühl aus, dessen deutsche Bezeichnung gar ins Englische aufgenommen wurde und eine internationale Karriere geschafft hat: Angst. Dabei geht es in erster Linie um die Angst der anderen (vorwiegend europäischen) Nationen vor Deutschland als Risiko, Gefahr, ja direkte Bedrohung in der Vergangenheit und – immerhin viel weniger – in der Gegenwart. Auch heute immer wieder ein dankbares Thema für die Tagespresse: Sowohl Meinungsbildner aller Welt als auch Politiker greifen gelegentlich auf verschiedene germanophobe Motive zurück – die einen meistens aus intellektueller Trägheit, die anderen eher aus kurzsichtigem politischem Kalkül. Abgesehen davon wird jedoch das breitere Feld der Wahrnehmung(en) Deutschlands durch seine Nachbarn auch wissenschaftlich bedient: Dazu sind inzwischen einschlägige zeithistorische und politikwissenschaftliche Studien entstanden, zuletzt etwa Andreas Rödders Buch „Wer hat Angst vor Deutschland?“ (2018). (Eigene Forschungen diesbezüglich hat – nota bene – ebenfalls der Autor der vorliegenden Erwägungen beigesteuert – „Timor Teutonorum: Angst vor Deutschland seit 1945“, 2015.)
Andererseits aber betrifft die Angst die Deutschen selbst, sprich ihr Verhältnis zum eigenen Land und zur Welt angesichts der weiterhin nachwirkenden Last der deutschen Schuld. Im Spiegelkabinett der gegenseitigen Perzeptionen und deren Rückspiegelungen aufeinander ist es nicht immer einfach auszumachen, inwiefern bestimmte emotional bedingte, kollektive Verhaltensweisen – so wie in diesem Zusammenhang etwa Zurückhaltung oder Zaghaftigkeit – auch eine Reaktion auf die Angst der Anderen sind. Die Bundesrepublik gestaltete sich seit ihrer Entstehung 1949 in vielerlei Teilbereichen als eine „Republik der Angst“ – unter eben diesem Titel veröffentlichte der Historiker Frank Biess 2019 eine beeindruckende Monografie; die Ursachen dafür waren neben den Eigen- und Fremderfahrungen des Zweiten Weltkriegs außerdem der internationale Kontext des Kalten Kriegs, der aufgrund der brennenden „deutschen Frage“ unter anderem die Angst vor einem lokalen Ausbruch des Ost-West-Konflikts und vor dem Atomtod schürte. Auch das deutsche Bedürfnis nach Stabilität und Wohlstand, getragen vom westdeutschen Wirtschaftswunder, war von entsprechend stark ausgeprägten Verlustängsten begleitet. Die Liste könnte noch weiter fortgeführt werden, wie es die seit Oktober 2018 präsentierte und gerade zu Ende gehende Ausstellung „Angst, eine deutsche Gefühlslage?“ – mit vorsichtigem Fragezeichen – im Bonner Haus der Geschichte anschaulich thematisiert und dargestellt hat.
Die Zähmung deutscher Ängste als Teilaspekt der neuen Staatsgründung im Westen beeinflusste vier Jahrzehnte lang die Prioritäten der bundesdeutschen Außenpolitik – mit Rückwirkung sowohl auf das Gefühlsregime der Bundesrepublik, also auf die kollektive emotionale Konditionierung der westdeutschen Gesellschaft, als auch nachhaltig auf die außenpolitische Praxis selbst. Mit der Wiedervereinigung von 1990 wurde die Aufgabe des altbundesrepublikanischen Selbstbeschränkungsethos’ jedoch keineswegs eingeläutet. Mit sich selbst, insbesondere mit der erhofften Verdauung der DDR beschäftigt, labte sich die Berliner Republik an der mindestens ein Jahrzehnt währenden relativen Entspannung der weltpolitischen Lage und trügerischen Siegeseuphorie des Westens. Man tat sich schwer, die deutsche Komfortzone zu verlassen, die darauf beruhte, international zugleich wirtschaftlicher Exportriese und politischer Zwerg zu sein. Selbst im Rahmen multilateraler Verträge zögerte das nunmehr vollkommen souveräne und „normale“ Deutschland, sich an kollektiven Militäraktionen zu beteiligen – erstmals 1999 zur Stabilisierung der Lage im Kosovo. Selbst das Aufkommen neuer Bedrohungen, dessen stärkstes Symbol die Anschläge des 11. Septembers 2001 in den USA lieferten, brachte keine grundlegende Abkehr vom deutschen Modell des Nicht-Engagements mit sich. Dass die Position der Bundesregierung 2003 bezüglich des Nichteingriffs im Irak mit der Haltung des ansonsten ja nicht interventionsscheuen Frankreichs übereinstimmte, war dabei belanglos; die deutsche Diplomatie glich in jener Situation eher einer stillstehenden Uhr, die irgendwann dann doch die richtige Zeit angab… Die etwa zeitgleiche Bereitschaft, die deutsche Sicherheit „auch am Hindukusch“ zu verteidigen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der deutsche Beitrag zur kollektiven Sicherheit auch in den folgenden Jahren und bis heute (z.B. in Westafrika oder in Syrien) nicht annähernd dem tatsächlichen Gewicht Deutschlands in den internationalen Beziehungen entsprochen hat.
Seitdem sich mit US-Präsident Donald Trumps neuem Kurs erste tiefere Risse in der atlantischen Gemeinschaft bzw. im so genannten Westen bemerkbar machen, wird diese Zurückhaltungskultur für Deutschland – auch angesichts der Erwartungen mancher seiner europäischen Partner – nun immer weniger tragbar, was inzwischen sogar mancher deutscher Beobachter kritisiert und z.B. Christoph von Marschall zu dem Schluss bringt: „Wir verstehen die Welt nicht mehr“ (2018). Es bleibt dahin gestellt, inwiefern Angela Merkels „Wir schaffen das“ von einer zumindest nach innen hin abebbenden German Angst zeugte; dieser entschiedene und risikobewusste Ausdruck deutscher Willkommenskultur setzte dennoch – abgesehen von unübersehbar mitschwingenden wirtschaftlichen Interessen – ein Zeichen der Bereitschaft Deutschlands zur größeren, wenngleich nicht militärischen, internationalen Verantwortungsübernahme.
Ist denn die 1990 erlangte staatliche Normalität und die sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen nach dreißig Jahren für die Deutschen allmählich verkraftbar geworden? Aus der Perspektive der vergangenen vier Jahre hat sich Angela Merkels flüchtlingspolitischer Kurs trotz zunächst breiter Zustimmung längerfristig als nicht konsensfähig erwiesen. Der Einzug der AfD in den Bundestag zeigte den relativen gesellschaftlichen Zuspruch für diese Angstpartei par excellence. Dennoch scheint sich in der deutschen ‚Angstkultur’ etwas geändert zu haben: Die im politischen Gefecht angesprochenen Ängste eines Teils der deutschen Gesellschaft gleichen in vielem denen der Bevölkerung anderer europäischer Länder. Insofern könnte man also behaupten, dass sich die Gefühlskultur der Bundesrepublik sehr wohl normalisiert hat, was angesichts der generellen Herausforderung des Populismus an die liberale Demokratie in Europa (und Übersee) jedoch nur einen geringen Trost bedeuten mag. Spezifische deutsche Befindlichkeiten werden dadurch allerdings nicht aufgehoben: Die einst optimistisch anvisierte Absorption der DDR hat vielmehr die gefühlskulturellen Ungleichzeitigkeiten der deutsch-deutschen Zeitgeschichte vor Augen geführt, wie sie in vielen Wahlergebnissen und Umfragen zum Ausdruck kommen. Drei Jahrzehnte nach der Wende haftet dem Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution ein bittersüßer Beigeschmack an, der vielleicht in Rammsteins jüngstem Lied – zwischen Heraufbeschwörung dunkler Erinnerungen und Andeutung beklemmender Zukunftsvisionen – auf prägnanteste Weise hervorsticht:
„Deutschland – deine Liebe
Ist Fluch und Segen,
Deutschland – meine Liebe
Kann ich dir nicht geben.“
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