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Europäische Werte, französischer Spagat und das Weimarer Dreieck

Der Besuch des französischen Präsidenten Emanuel Macron in Warschau sollte das Verhältnis zwischen Polen und Frankreich aufbessern und das Weimarer Dreieck reaktivieren. Doch wird es Paris schwerfallen, diese Ziele zu erreichen.

 

Anfang Februar stattete der französische Präsident erstmals seit 2013 Polen einen Staatsbesuch ab. Macron hat bislang auffällig viele Besuche im EU-Ausland absolviert. Doch ist Polen erst das 21. von ihm besuchte EU-Land. Dieser späte Termin lässt sich nur mit der merklichen Verschlechterung des Verhältnisses zwischen beiden Ländern erklären, seit 2016 in Polen die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die Regierung übernommen hat. Der Besuch fand statt, nachdem Macron zu der Auffassung gelangt war, dass nach dem Brexit und einer gewissen Abkühlung im deutsch-französischen Verhältnis aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zur Zukunft der EU es an der Zeit sei, die Beziehungen zu Polen zu verbessern. Diese Neuausrichtung der französischen Außenpolitik wird dadurch begünstigt, dass sich Macron wie auch die französischen Wähler nach rechts bewegen und PiS weitere Wahlerfolge errungen hat. Zugleich ist Macron bemüht, sich weiterhin als Verteidiger der europäischen Werte darzustellen, die von der Regierung in Warschau immer stärker in Frage gestellt werden. Daher befindet sich Frankreich mit seinem Annäherungsversuch an Polen in einem schwierigen Spagat.

 

Geschäft und Prinzip

Bei dieser versuchten Annäherung sind für Frankreich die eigenen Wirtschafts‑ und mögliche gemeinsame Interessen ausschlaggebend. Macron ließ sich von einer großen Delegation aus Ministern und Unternehmern begleiten, die Polen ein Angebot zum Bau eines Nuklearkraftwerks und zur Teilnahme am deutsch-französischen Gemeinschaftsprojekt zur Entwicklung eines neuen Kampfpanzers machten. Beide Länder bekundeten ihre Bereitschaft, auf EU-Ebene bei der Aushandlung des neuen Finanzrahmens in der Agrarpolitik eng zusammenzuarbeiten. Macron äußerte zudem den Wunsch, in den nächsten Monaten einen Gipfel des Weimarer Dreiecks zu veranstalten, wie er letztmals unter Beteiligung der Staats‑ und Regierungschefs 2013 stattgefunden hatte.

 

Beide Präsidenten resümierten, Macrons Besuch habe ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen Warschau und Paris eröffnet. Doch bei aller Verbesserung der bilateralen Beziehungen bleibt ein grundlegender Unterschied in der Einschätzung der innenpolitischen Entwicklung Polens. Diese wurde viele Male von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat als Abbau des Rechtsstaats kritisiert. Im Gespräch mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda äußerte Macron seine Beunruhigung über die neuerdings in Polen vorgenommenen Änderungen im Justizwesen. Er wünsche sich dazu einen intensiveren Dialog mit der Europäischen Kommission. Im Gespräch mit Ministerpräsident Mateusz Morawiecki meinte Macron, die Lage in Polen sei ein europäisches, kein bilaterales Thema, weil es alle betreffe. Man könne jemanden um der Öffentlichkeitswirkung halber einladen und ihm eine Gardinenpredigt halten. Doch Frankreich wolle das nicht tun. „Es ist für uns jedoch wichtig, dass die Prinzipien und Werte und die europäischen Institutionen geachtet werden. […] Diese Institutionen sind nämlich dafür verantwortlich, die Prinzipien einzuhalten, und sie haben das Verfahren und den Dialog eröffnet. Wir unterstützen sie vorbehaltlos.“ Morawiecki konterte auf einer Pressekonferenz mit der Behauptung, Polen setze mit seiner Justizreform gerade die „wahren europäischen Werte“ um. Bei einem Vortrag an der Krakauer Universität kam Macron nochmals darauf zu sprechen, die Rechtsstaatlichkeit in Polen verteidigen zu müssen; bei der Gelegenheit deutete er auch eine Kritik am Geschichtsrevisionismus der polnischen Regierung an. Duda reagierte auf Macrons Kritik demonstrativ, indem er am selben Tag ein Gesetz zur Verschärfung von Disziplinarstrafen im Justizwesen unterschrieb.

 

Macrons Wendung nach rechts

Die Krise im polnisch-französischen Verhältnis setzte 2016 ein, als PiS nach der Regierungsübernahme die Alternativlosigkeit der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den USA erklärte und den Großankauf von französischen Kampfhubschraubern annullierte. Kurz darauf präsentierte sich Frankreich als einer der schärfsten Kritiker der innenpolitischen Vorgänge in Polen. Der polnisch-französische Konflikt stand in einem weiteren europäischen Zusammenhang, nämlich den prinzipiellen ideologischen Unterschieden zwischen dem liberalen und proeuropäischen Macron, der 2017 gewählt wurde, und den in Polen und Ungarn regierenden Nationalpopulisten. Trotzdem führte Macron 2019 eine merkliche Verbesserung im Verhältnis zu Viktor Orbán herbei. Er verweigerte sich nicht länger der Einsicht, der ungarische Ministerpräsident werde auf lange Zeit nicht mehr aus der europäischen Politik wegzudenken sein. Derselben Einsicht liegt Macrons polenpolitisches Einlenken nach dem neuerlichen Sieg von PiS bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2019 zugrunde. Weniger offenkundig waren die Motive hinter Macrons politischer Wendung nach rechts, die aus einem Stimmungsumschwung in der Gesellschaft rührten. Meinungsumfragen zeigen, dass es im Verlauf des letzten Jahres zu einer deutlichen Meinungsverlagerung zugunsten von Marine Le Pen gekommen ist, der Vorsitzenden des rechtsnationalistischen Rassemblement National, die sich 2022 um die Präsidentschaft bewerben will. Umfragen vom Herbst 2019 zeigten sie bei 45% im zweiten Wahlgang der Präsidentenwahlen. Bei den Wahlen von 2017 war Le Pen noch auf nur ein Drittel der Stimmen gekommen. Le Pen hat neue Anhänger gewonnen, indem sie ihre Rhetorik entschärfte und sich mehr auf die politische Mitte zubewegte; sie lehnt nicht länger prinzipiell die EU-Mitgliedschaft ab, bindet diese aber an die Voraussetzung, Kompetenzen an die Staaten zurückzugeben. Auch dass der Islam wieder einmal in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit in Frankreich gerückt ist, hat ihr neue Anhänger zugetrieben. In den vergangenen Monaten ist in Frankreich die Überzeugung gewachsen, der Islam lasse sich nicht mit den französischen Werten vereinbaren. Nach Umfragen des Institut français d’opinion publique (IFOP) vom Herbst 2019 stehen 60% der Franzosen auf diesem Standpunkt. Das Problem im Verhältnis zwischen dem Islam und der laizistischen französischen Republik ist jedoch von tiefergehender, struktureller Art, denn es geht dabei um die Trennung von Religion und Staat. Die Umfragen zeigen eine überwältigende Mehrheit in Frankreich, dass religiöse Feiern in der Öffentlichkeit von Rechts wegen geschützt werden sollen, während andererseits Angestellten auch in Privatunternehmen das Tragen religiöser Symbole untersagt sein müsse. Macron zieht daraus den Schluss, sich politisch nach rechts bewegen zu müssen. Im Herbst 2019 gab er einer rechtsgerichteten Zeitschrift ein in seiner Art präzedenzloses Interview, in dem er äußerte, die Kopftücher junger französischer Muslima seien ein Zeichen für die fehlgeschlagene Integration und die Kraft des Islamismus, wobei er auch vor Ausdrucksweisen nicht zurückschreckte, wie sie von Marine Le Pen bekannt sind.

 

 

Europäische Werte und grüne Welle

Die polnisch-französischen Beziehungen werden also entlang zweier paralleler Strategien entwickelt, nämlich der pragmatischen Wirtschaftszusammenarbeit und der politischen Zusammenarbeit mit Berlin und Warschau im Rahmen des reaktivierten Weimarer Dreiecks einerseits, der Aufrechterhaltung des Drucks auf Warschau durch die von Frankreich unterstützten europäischen Institutionen andererseits. Das kann sich jedoch mit Blick auf die innenpolitischen Entwicklungen in Polen und Deutschland als sehr schwierig erweisen. Denn Warschau hat bereits erklärt, seinen Kurs der „Justizreform“ unbeirrt fortsetzen zu wollen, und die PiS-Regierung hat bislang noch alle ihre Ankündigungen eingehalten. Der Umbau des Justizwesens steht im Zentrum der PiS-Ideologie, und die Partei zeigt nicht die mindeste Absicht, darauf zu verzichten. Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission, hat in einem Interview für den „Spiegel“ gleich nach Macrons Staatsbesuch in Polen die bisherigen polnischen „Reformen“ als „Flächenbombardement“ bezeichnet: „Das ist keine Reform, das ist eine Zerstörung.“ Die polnische Justizreform werde mit der Brechstange betrieben und stelle eine Herausforderung für die gesamte EU dar. Daher muss man sich auf einen immer schärferen Konflikt zwischen Warschau und Brüssel einrichten, der nicht ohne negative Folgen für das Verhältnis Warschaus zu den wichtigsten europäischen Akteuren wie Frankreich und Deutschland bleiben wird. Im Unterschied zu Frankreich kommt die äußerste Rechte in Deutschland bei Umfragen nicht aus der Minderheitenrolle heraus und liegt bei einem Mittelwert von etwa 13%, während die Zustimmung zu den Grünen enorm angestiegen ist (im Mittel ca. 23%), die nach den Christdemokraten (ca. 30%) in den Umfragen zur zweitstärksten Partei geworden sind. Höchstwahrscheinlich werden die Grünen demnach zu einem wichtigen Akteur in der Regierungskoalition, die nach den für 2021 angesetzten Bundestagswahlen entweder aus drei Linksparteien bestehen oder mit der CDU/CSU gebildet werden wird. Der Niedergang der SPD als Mitglied der Großen Koalition lässt vorgezogene Neuwahlen praktisch ausgeschlossen erscheinen. Die Grünen sind in Bezug auf Menschenrechts‑ und Minderheitsfragen, Rechtsstaatlichkeit und Multikulturalismus sehr prinzipientreu, andererseits lehnen sie entschieden die Atomenergie ab und sind pazifistisch eingestellt. Daher werden die Grünen im Rahmen des Weimarer Dreiecks aus verschiedenen Gründen für Frankreich und Polen ein schwieriger Partner sein.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Adam Balcer

Politologe, Programmdirektor Kolegium Europy Wschodniej (Niederschlesien), lehrt am Institut für Osteuropastudien an der Universität Warschau.

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