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Die drei Säulen Europas

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, an einem merkwürdigen Meinungsaustausch auf dem, nennen wir es einmal so, öffentlichen Forum von Twitter teilzunehmen. Das passiert mir nicht oft oder sonst eigentlich überhaupt nicht, denn, wie ich schon vor einiger Zeit bekannt habe, steckt in mir kaum etwas von einem, der auf großen Versammlungen Streit anzettelt. So habe ich mir seit langem den Gedanken zu eigen gemacht, in der Öffentlichkeit zu versuchen, sein Gegenüber argumentativ zu überzeugen, sei nicht mehr als Schaumschlägerei und habe nichts gemein mit einem Gedankenaustausch, wie ihn zum Beispiel die Lektüre von Plato, Nietzsche oder Béla Hamvas in der Stille der eigenen Schreibstube gewährt.

Diesmal ließ ich mich jedoch provozieren, was ich übrigens anschließend stundenlang bedauert habe.

So bemerkte ein bestimmter Twitter-User ganz schüchtern und im nachdenklich-nostalgischen Tonfall, das moderne Europa sei von seinen Grundlagen der griechischen Vernunftbetontheit etwas abgekommen, woraufhin er von einem anderen User heftig mit der Behauptung attackiert wurde, das christliche Europa habe doch Griechenland und Rom nicht das Geringste zu verdanken, es sei ein eigenständiges Geschöpf, und von „fremden“ Einflüssen müsse man es gegebenenfalls reinigen, um sein wahres Antlitz zu erblicken, denn sein einziger Stammherr sei Jesus Christus. Das verwunderte mich höchlich, denn anscheinend sind doch gewisse Fakten definitionsgemäß über jede Diskussion erhaben. Etwa die Tatsache, dass jede Kultur eine Summe verschiedenartiger Bestandteile ist. Alles andere dagegen ist offen zur Diskussion: Ob die griechischen Einflüsse gut oder schlecht gewesen seien – sollte jemandem besonders an Axiologie gelegen sein; kreativ oder destruktiv – das Diskussionsfeld der Moralisten; welches unser Wissensstand hierzu und wie dieses Wissen mitzuteilen sei – auf diesem Feld können sich Humanisten und Akademiker tummeln; schließlich, in welcher Weise sich die verschiedenen Elemente miteinander verbanden und interagierten und so das schufen, was wir heute als Europa kennen– was überhaupt die an der Welt Interessierten bewegen dürfte. Solch ein Meinungsaustausch passt allerdings nicht in die Öffentlichkeit. Denn diese verlangt hitzige Temperaturausschläge, Kampf, Schweiß und Blut.

Doch sollten wir in allem auch den Nutzen sehen. So nahm ich also diese Diskussion zum Anlass für einen privaten Ausflug in die Untiefen der Christenheit, während ich ab und an ein Wort zur Verteidigung der griechischen und somit europäischen Werte in dem naiven Glauben einwarf, ihre Überzeugungskraft werde die Polemiker zur Besinnung bringen. Also begann ich meine gemächlichen Spaziergänge mit dem heiligen Paulus und den Evangelisten, die würdige Fortsetzer der griechischen Literatur waren; dann warf ich einen Blick auf die heiligen Augustinus und Hieronymus und andere Fürsprecher der „antiken Weisheit“; anschließend machte ich mir meine Gedanken zu der organischen Verbindung zwischen dem heiligen Thomas von Aquin und Aristoteles, dem Griechen der Antike. Lange verweilte ich ebenso auf den Irrgängen der mittelalterlichen Klöster, in denen die Griechen und Römer der Antike abgeschrieben wurden und in denen sich die weitere historische Synthese von Griechentum, Römertum und Judentum vollzog; schließlich machte ich mich noch bei den Vätern des Europas der Renaissance heimisch, den gelehrten Italienern, Deutschen und Polen.

Bibliothek von Alexandria

Was doch eigentlich Anlass zum Stolz sein sollte, dass nämlich das Christentum vermochte, so unterschiedliche Strömungen und Traditionen miteinander zu versöhnen und daraus eine so einzigartige Zivilisation zu schaffen, wenn auch unter großen Schmerzen, wird heutzutage, da über alles und jedes gestritten wird, zu etwas, was sich negieren lässt und geradezu negiert werden muss, bei absoluter Tatsachenignoranz. Ich bin weit davon entfernt, die Altertumsforscher zu verteidigen, die Jahr für Jahr unter Beweis stellen müssen, Wissen über die Antike popularisieren zu können und dabei doch Mitschuld daran tragen, dass wir aktuell vor einem Abgrund an Unwissen stehen. Aber eine so wesentliche Tatsache in Abrede zu stellen, wie die, dass unsere Zivilisation auf Athen und Rom ebenso zurückgeht wie auf Jerusalem, erscheint mir schlicht unanständig. Ich erinnere mich, während des Studiums Vorlesungen ultrakonservativer Professoren gehört zu haben, die wahrlich päpstlicher als der Papst waren, aber selbst sie wären nicht auf eine derartige Behauptung verfallen. Christentum ohne Aristoteles und Plato? Ohne Seneca? Leider verlangt die Agenda der „konservativen Operation“, zu immer schärferen Instrumenten zu greifen: Wir stehen kurz davor, selbst noch die Evangelisten als gefährlich einzustufen. Das ist eine scheußliche Veranschaulichung der gleichfalls scheußlichen Methode, die wir als Parabel vom Frosch im kochenden Wasser kennen.

Athen, Rom, Jerusalem. Diese drei symbolträchtigen Städte trugen gleichermaßen zur Schöpfung des mittelalterlichen und des neuzeitlichen Europa bei, mithin auch des heutigen. Der Verbund dieser drei Bestandteile muss nach jahrhundertelangem Zusammenwachsen und wechselseitiger Durchdringung unauflösbar bleiben, wenn Europa überleben soll. Umwerten und Zunichtemachen sind zwei sehr verschiedene Dinge. Was auf Letzteres folgen würde, wäre zutiefst bedauerlich. Aus dem europäischen Gewebe herauszureißen, was griechisch und römisch ist, lässt an makabre Szenen aus billigen Horrorfilmen denken. Das wäre, wie einen Menschen in sadistischer Weise zu zerfetzen, Fleisch und Knochen voneinander zu trennen.

Ein solches bestialisches Experiment ist es, was Europa nunmehr droht, und den Humanisten kann das nicht kalt lassen.

Athen, Rom, Jerusalem. Zwar schwanken diese drei Säulen merklich, auf denen Europa ruht; ist es jedoch die klügste Art, um die Lage zu beruhigen, eine von den dreien, zur Zeit die griechische, einfach umzustürzen? Zu welchem Zweck? Damit sie falle und in tausend Stücke zerspringe? Vielleicht sollte man eher umgekehrt darangehen: Weil das Ganze schwankt, sollten wir uns daran machen, jedes seiner Bestandteile zu stärken. Eines nach dem anderen. Das erfordert natürlich eine gezielte Anstrengung, es erfordert, Europa ernst zu nehmen. Doch sind wir tatsächlich nicht imstande, in uns dieses Feuer zu entfachen?

Was ich schreibe, ist sicher nichts anderes als ein in neue Worte gefasster Appell an ernsthaft über die Zukunft nachdenkenden Europäer, sich der Vergangenheit zuzuwenden, nicht jedoch im Sinne der Ereignisgeschichte, die von jeder Nation und jeder Partei auf ihre eigene Art interpretiert wird, sondern im Sinne unserer gemeinsamen Geschichte der Ideen, Konzeptionen und des Geistes. Der Schriftsteller und Denker Stanisław Vincenz hatte einst den Gedanken, die polnische Schule, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden musste, solle sich auf eine Fibel stützen, die sich aus Bibel, Homer und „Pan Tadeusz“ [von Adam Mickiewicz verfasstes polnisches Nationalepos; A.d.Ü.] zusammensetzt. Entsprechend könnten die Deutschen Mickiewicz durch Goethe ersetzen, die Engländer durch Shakespeare usw. Diese Konzeption rührte aus der Überzeugung, die europäische Zivilisation müsse von ihren Grundlagen her wiederaufgebaut werden, wie sie die jeweilige Gemeinschaft definieren und zusammenhalten. Im Anschluss könne man ein Zusammenleben höherer Ordnung aufbauen. Wenn jedoch die neuen Christen versuchen, Homer und Plato zu eliminieren, ist das, als ob sie die Säge an eines der Enden Europas ansetzen würden.

Der Streit, der auf Twitter entbrannte und an dem ich leider keinen geringen Anteil hatte, ging meines Wissens munter weiter, auch als ich gegangen war, nachdem ich meine Diskussionspartner höflich informiert hatte, ich habe jetzt leider keine Zeit mehr. Mein letzter Beitrag lautete ungefähr so: „Streitereien um die Bibel überlasse ich den Exegeten, über die Kirchenväter den Patrologen, über Logos und Gott den Theologen. Ich wünsche allen miteinander einen schönen Tag!“

Obwohl ich mich mit missionarischem Eifer beteiligte, betrachte ich meine Teilnahme jedoch als überflüssig. Bevor sich jemand auf dem Wege eines konstruktiven Austauschs davon überzeugt, was er denken soll, oder umgekehrt, es ihm zu überzeugen gelingt, ist viel Arbeit darauf zu verwenden, zu lehren, wie, also auf welche Weise zu denken sei. Und ich ließ mich in etwas hineinziehen, was die Dinge durcheinanderwarf, die Fakten und ihre Interpretation, Wissen und Wollen. Ich wie ich schon sagte, hat mich dieser Clinch mehre Stunden lang nicht zur Ruhe kommen lassen. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich nicht polemisieren. So lässt sich nur blindwütig mit Weisheiten um sich werfen, was entweder damit endet, sich gegenseitig mit Beleidigungen zu überschütten, oder damit, sofern die Diskussionsparteien soviel Anstand besitzen, den Streit in falschem Einvernehmen beizulegen, während doch in Wahrheit niemand mit irgendjemandem in irgendetwas übereinstimmt.

Ich denke nunmehr, solche Auseinandersetzungen wären um einiges interessanter und konstruktiver (was sie jetzt wahrlich nicht sind), wenn die Teilnehmer sich zunächst einmal über die Streitgespräche der Antike kundig machen würden, wie sie auf der griechischen Agora oder dem römischen Forum ausgetragen wurden und wie sie zwischen Heiden und Christen stattfanden. Und dann über die Polemiken, wie sie auf Zungen, in Herzen, auf städtischen Plätzen und mit der Zeit in den Gerichten des Westens entbrannten. Wir sollten uns keine Illusionen machen: Wenn erst einmal die Religion ins Spiel kam, dann wurde garantiert nicht mehr fair gespielt. Doch eines lässt sich den Polemikern der alten Zeiten nicht absprechen: Sie verstanden sich auf Rhetorik. Und hätten ohne diese so ungemein griechische Kunst die Christen irgendjemanden von ihren Standpunkten überzeugt?

Was mich anlangt, so sehe ich zu, tief und ruhig zu atmen. Denn schließlich weiß ich in Anbetracht von Richtung und Dynamik der Entwicklung, dass die Zeit kommen wird, in der ich von einem absolut seriösen und theoretisch bewanderten Menschen zu hören bekommen werde, die Erde sei flach und der Mensch habe nichts mit den Säugetieren zu tun. Darauf muss ich vorbereitet sein. Ich muss dergleichen Äußerungen mit einer den Stoikern der Antike würdigen Ruhe aufnehmen können.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Jacek Hajduk

Jacek Hajduk ist Schriftsteller, Übersetzer und Altphilologe, lehrt an der Krakauer Jagiellonen-Universität.

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Jacek Hajduk
Schlagworte: antike

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