Frankreichs Erinnerung an die Weltkriege im Super-Jubiläumsjahr 2019
Der 14. Juli war 2019 für Frankreich von besonderer Bedeutung. Noch mehr als sonst, sollte man hier gleich hinzufügen, feierte man doch an der Seine zugleich den alljährlichen Nationalfeiertag der Erstürmung der Bastille und den 230. Jahrestag jenes historischen Ereignisses, das einst die Französische Revolution von 1789 eingeläutet hatte. Vor 30 Jahren, am runden Jahrestag 1989, verfolgte die staatliche, prunkvolle Inszenierung den geschichtspolitischen Versuch, die kollektive Erinnerung an diesen tiefen und mehrdeutigen Einschnitt in der französischen Geschichte friedvoll zu vereinheitlichen. Die diesjährige Fête nationale bot wiederum eher die Gelegenheit, der Republik und seinem in letzter Zeit etwas angeschlagenen Präsidenten Emmanuel Macron einen innen- und außenpolitisch willkommenen Schuss Grandeur in Krisenzeiten zu verschaffen. Die ansonsten ohnehin nie bescheidene Militärparade auf den Champs-Élysées wirkte diesmal besonders imponierend, die Welt war wieder einmal zu Gast in Paris und ein Megakonzert mit kunstvollen Feuerwerken auf dem Champ de Mars bildete am Abend den Höhepunkt dieses Rausches französisch-republikanischen Selbstbewusstseins. Wie immer – noblesse oblige –auf bestechend postmonarchische Art. Im öffentlichen Gedenken an jene Sternstunde der Menschheit (allerdings aber – Revolution ist ja kein Sonntagsspaziergang – nicht gerade der Menschlichkeit…) blieben die Sansculotten bis auf die seit langem zur Allegorie mutierten Marianne eher unsichtbar, und selbst der Unmut der gelben Westen verblich vorläufig im betörenden Lichte des funkelnden Eiffelturms. Schließlich feierte ja auch die ehrwürdige „eiserne Dame“ als bereits 1889 entstandenes Jubiläumskind und unübertroffenes Wahrzeichen der Hauptstadt dieses Jahr ihren (130.) Geburtstag.
In Frankreichs Erinnerungskultur bleibt nämlich nach wie vor der Erste Weltkrieg – la grande guerre – das traumatische Urereignis des “Zeitalters der Extreme”. Die Verheerung der Bausubstanz und Wirtschaftskapazitäten ganzer Landstriche (mehr als 7% des Territoriums) entlang der etwa 700 km langen Frontlinie, die in der längsten Phase des Stellungskriegs von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze fast ausschließlich auf französischem Boden verlief; insgesamt anderthalb Millionen Gefallene; drei Millionen Verwundete (darunter 750.000 Invaliden und Zehntausende von Gesichtsversehrten – den so genannten gueules cassées) hinterließen besonders in Nordost-Frankreich – wo beispielsweise um Verdun die Landschaft bis heute Spuren der Zerstörung trägt – ein kollektives Gefühl des Schreckens, das eine ganze Generation prägte. Spätestens die Heimkehr der Soldaten, vor allem der verstümmelten, machte der französischen Gesellschaft das ganze Ausmaß und Grauen dieses Kriegs bewusst. Wortwörtlich überall wurden Kriegsgefallenendenkmäler aufgestellt und es gab kaum ein Dorf in Frankreich, das nicht um mehrere seiner Söhne zu trauern hatte. Eine direkte erinnerungspolitische Folge davon war schon ab den 1920er Jahren das alljährliche Gedenken am Grabe des Unbekannten Soldaten unter dem Pariser Triumphbogen – eine Tradition, die bald auch in anderen europäischen Ländern, darunter Polen, aufgegriffen wurde. Mit dem Ableben der letzten Soldaten des Ersten Weltkriegs änderte sich natürlich der Zugang zu sowie der Umgang mit der Erinnerung an diesen Konflikt. Anders als etwa noch 1984, als siebzig Jahre nach Kriegsausbruch die sehr menschliche Versöhnungsgeste zwischen Staatspräsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl in Verdun ein starkes emotionales Potenzial in Frankreich und Deutschland besaß, waren spätere runde Gedenkfeiern bereits nicht mehr so sehr auf das Nachempfinden ausgerichtet. Die mobilisierende Kraft der Jubiläen aber kam zwischen 2014 und 2018 ein weiteres (letztes?) Mal in einem offiziellen Gedenkmarathon zum Vorschein, dessen Etappen an die wichtigsten Momente d.h. Schlachten erinnerten. Dies verschaffte auch den Staatsoberhäuptern beider einstiger Erzfeinde, Deutschland und Frankreich, mehrere Gelegenheiten (wie z.B. im November 2017 im elsässischen Hartmannsweilerkopf), trotz unterschiedlicher Erfahrungen dennoch im gemeinsamen Gedenken symbolstarke Zeichen der gelungenen Versöhnung beider Nationen zu setzen.
Parallel dazu war Frankreich im selben Zeitraum in seinen bilateralen Beziehungen zu den Staaten Ostmitteleuropas bemüht, die damalige Waffenbrüderschaft zu unterstreichen und die freundschaftlichen Kontakte hervorzuheben. Dies ließ sich insbesondere mit Polen beobachten, wo das Institut Français diesbezüglich insgesamt drei Ausstellungen fertigstellte, die u.a. Frankreichs wesentlichen Beitrag zur Wiederentstehung und Unterstützung des polnischen Staats in der Endphase des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit thematisierten. Gerade dieser Erzähl- und Erinnerungsstrang führt jedoch vor Augen, weshalb das Gedenken an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 achtzig Jahre später für Frankreich einer Gratwanderung gleicht. So entscheidend Frankreichs Beistand schon ab 1917 bei der Wiedergeburt des polnischen Staats gewesen war, so enttäuschend erwies sich die abwartende französische Haltung unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 und in den darauffolgenden Monaten. Zwar nahm Großbritannien eine sehr ähnliche Position ein, doch besonders bitter war für zahlreiche Polen vielmehr die Erfahrung der nicht erfüllten Erwartungen an den französischen Verbündeten, dessen Waffenbrüderschaft gegen das bolschewistische Russland in den Gründungsjahren der II. Republik Polen ja so wichtig gewesen war. Der Sitzkrieg, der bis zur großen deutschen Westoffensive von Mai 1940 dauerte und in der französischen Erinnerung als „seltsam“ – drôle de guerre –, in der britischen als „unecht“ – phoney war – bezeichnet wird, war sozusagen die Fortführung der nachgiebigen Politik der europäischen Westmächte Hitler gegenüber – nach dem Anschluss Österreichs (März 1938) und dem Münchner Abkommen (September 1938). Ein solcher Fehlstart im Kampf gegen den deutschen Aggressor bleibt auch 2019 wenig jubiläumstauglich. Viel eher bietet sich als positives Narrativ die Erinnerung an die Befreiung von Paris (25. August 1944): Vier Jahre nach der beinahe restlosen Niederlage Frankreichs gegen das nationalsozialistische Deutschland wurde die Selbstbefreiung der französischen Hauptstadt zum Symbol der zurückerrungenen Ehre Frankreichs – Francia restituta. Die Befreiung Paris’ erfolgte damals mithilfe französischer Truppen aus Großbritannien und dank des enormen militärischen Drucks, den die doppelte Landung der Westalliierten in der Normandie am 6. Juni und der Provence am 15. August 1944 sowie der Vormarsch der Roten Armee im Osten auf die Wehrmacht ausübten. Frankreich verpasste es auch 2019 nicht, an die Operationen „Overlord“ (Landung in der Normandie) und „Dragoon“ (Landung in der Provence) öffentlich zu gedenken.
Das Narrativ der Francia restituta wurde von General Charles de Gaulle unterstützt und durchgesetzt und verhalf dem Land zur schnellen gesellschaftlichen wie auch politischen Stabilisierung – vorläufig auf Kosten der Auseinandersetzung mit dem dunklen Kapitel der Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem „Dritten Reich“. „Paris! Paris geschändet! Paris gebrochen! Paris gemartert! Doch Paris befreit!“: Der berühmte Satz des Generals jährt sich 2019 zum 75. Mal und gehört auf jeden Fall zu den fest verankerten französischen Erinnerungsorten des 20. Jahrhunderts.
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