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Die alte und die neue Rzeczpospolita

Deutsch-russische und polnisch-ukrainische Verflechtungen in Geschichte und Gegenwart und ihre aktuelle Bedeutung

Im 20. Jahrhundert kehrte Polen in das europäische Bewusstsein zurück, heute tut es die Ukraine. Und sie wird bleiben. Die Europäische Union wird demnächst östlicher und föderaler werden. Sie wird sich vom derzeitigen Liberum Veto zugunsten von Mehrheitsentscheidungen in Brüssel befreien. Die einstmals die europäischen Geschicke bestimmenden westlichen Mächte werden die europäische Geometrie neu lernen müssen.

Die polnisch-litauische Adelsrepublik wurde im 17. Jahrhundert offiziell Rzeczpospolita – Gemeinwesen – genannt. Diese originär polnische Lehnübersetzung für res publica wurde im Polnischen auch auf Venedig, die Schweiz oder Nowgorod angewandt. Nachdem Polen-Litauen im 18. Jahrhundert durch Preußen, Russland und Österreich liquidiert worden war, wird der Begriff heute ausschließlich für den 1918 wiederentstandenen, 1945 neu formierten und infolge des Völkerherbstes 1989 erneut souveränen polnischen Staat verwendet.

Trotzdem lebt der Begriff nicht nur in Polen weiter. Річ Посполита нашa державa (Rič Pospolita naša deržava) – die Rzeczpospolita, unser Staat – betitelte Natalia Startschenko ihre Vorlesungen über die ukrainische Geschichte innerhalb der alten Adelsrepublik, also des polnischen Staates bis 1795, und bekommt viel Lob, dass sie mit der schwarzen Propaganda aus der Zeit des Zarenreiches, der Sowjets und Putins bricht, wonach Polen-Litauen für die Ukraine allein Fremdherrschaft bedeutete, von der das Land durch Volksaufstände und Russland befreit wurde. Die Historiker Timothy Snyder und Serhii Plokhy betonen, die Rzeczpospolita habe trotz aller historischen Streitfragen durchaus ihre Verdienste für das heutige ukrainische Selbstverständnis.

Es geht dabei nicht um die Galvanisierung einer längst gemeuchelten Entität, sondern um die zugeschütteten Wurzeln demokratisch-republikanischer Selbstbestimmung, wie sie die heutige Ukraine im zähen Abwehrkampf gegen den russischen Zugriff freilegt. Denn die Ukraine wurde keineswegs erst 1918 beim Separatfrieden mit den Bolschewiki in Brest-Litowsk von den Deutschen erfunden, wie Putin behauptet.

Die Kiewer Rus wurde im Mittelalter von Byzanz christianisiert. Zugleich war sie im Westen stark in die Frühgeschichte der polnischen Staatlichkeit involviert. Im 13. Jahrhundert von den Mongolen verwüstet und zeitweise tributpflichtig, war sie hingegen – anders als Moskau – der Goldenen Horde nicht direkt unterworfen. Im 14. Jahrhundert geriet sie in litauische Abhängigkeit, behielt dabei die orthodoxe Religion und eigene Fürsten, deren ruthenische Sprache zur Verwaltungssprache des Großherzogtums Litauen wurde.

Mit der polnisch-litauischen Personalunion 1385 begann der Vormarsch der lateinischen und der polnischen Sprache, insbesondere nach der Realunion 1569 in Lublin, welche Wolhynien und die Kiewer Ukraine mit Einverständnis des dortigen Adels der polnischen Krone überschrieb.

Eine regionale Macht

Die Rzeczpospolita war eine regionale Macht, verteidigungsfähig, aber mit ihrer föderativen Struktur eher in sich ruhend als imperial. Und – anders als Moskau – war sie in die kommunizierenden Röhren der geistigen Strömungen in Europa fest eingebunden. „Von Luther bis Mohyla“ betitelte der französische Historiker Ambroise Jobert den Modernisierungsschub, der die Orthodoxie über die Reformation und Gegenreformation in der Rzeczpospolita erreichte. Immerhin erklärte die Warschauer Konföderation (1573) die Religionsfreiheit noch vor dem Toleranzedikt von Nantes (1598), mit dem in Frankreich den calvinistischen Hugenotten das Recht der freien Religionsausübung zugestanden wurde.

Nach dem Aussterben der Jagiellonendynastie 1572 wurden die Könige von Polen, die zudem litauische Großfürsten waren, von der politischen Klasse, dem Adel, der über zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte, direkt gewählt und auf die seit 1573 bestehenden pacta conventa (die „vereinbarten Bedingungen“ als bindende politischen Verpflichtungen des Wahlkönigs) vereidigt: Unter den polnischen Wahlkönigen waren seither ein Franzose, ein Ungar, drei Vasas aus Schweden und zwei Sachsen. Auch der russische Zar Iwan IV. („der Schreckliche“) war im Gespräch; wie andersherum nach dessen Tod eine Fraktion Moskowiter Bojaren während der Smuta, also der Zeit der Wirren in Russland 1598–1613, einen polnischen Vasa zum Moskauer Zaren haben wollte, was zur zweijährigen Besetzung des Kremls durch polnische Truppen und nach deren Vertreibung 1612 zum Aufstieg der Romanows führte.

Das 17. Jahrhundert brachte den Deutschen mit den Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg ein nachhaltiges Trauma, der Rzeczpospolita dagegen eine mehr als doppelt so lange Verkettung von sich zeitlich überlappenden Grenzkriegen mit Moskau, Schweden, Siebenbürgen und dem Osmanischen Reich sowie einen Kosakenaufstand 1648, der sich zu einem Bauern- und Religionskrieg auswuchs und die Rzeczpospolita schwer erschütterte.

Die Kosaken hatten am unteren Dnjepr ihr eigenes Hetmanat, und einige von ihnen genossen als tapfere Krieger im Kampf gegen die Osmanen und deren Vasallen, die Krimtataren, in der Rzeczpospolita Freiheiten und Privilegien. Die vom König zugesagten Nobilitierungen der Führungsschicht der Kosaken wurden schließlich vom Sejm verweigert. Darüber hinaus wollte der orthodoxe Adel keine neue Konkurrenz. Der Aufstand unter Hetman Bohdan Chmelnyzkyj, der dem orthodoxen Adel der Rzeczpospolita angehörte und Zögling der Kiewer Jesuiten war, zog entlaufene Bauern sowie Gegner der 1596 gegründeten Unierten Kirche an. Diese suchte den orthodoxen Ritus mit der Anerkennung des Papstes in Rom zu verbinden, stieß aber beim orthodoxen Klerus auf heftigen Widerstand.

Union dreier Nationen

Nach der verlorenen Entscheidungsschlacht unterwarf Chmelnyzkyj 1654 den vom ihm kontrollierten Teil der Ukraine dem Moskauer Zaren, allerdings ohne die Bestätigung der in Polen-Litauen geltenden Privilegien zu erhalten. Enttäuscht wandten sich die Hetmane wieder der polnischen Krone zu, und im Vertrag von Hadjatsch 1658 wurde die Verwandlung der polnisch-litauischen Adelsrepublik in eine Union „Dreier (Adels)-Nationen“ festgelegt, der polnischen, litauischen und ruthenischen.

Nichtsdestotrotz kam diese Einigung zu spät. Der Westfälische Friede bedeutete zwar das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, stellte jedoch in schwedischen Diensten stehende Truppen zu Eroberungen andernorts frei. Als Moskau 1654 in Litauen einfiel, marschierte der schwedische König Karl X. Gustaf in Polen ein. Diesen ersten Versuch einer Aufteilung durch auswärtige Mächte wehrte die Rzeczpospolita mühevoll ab. Dessen ungeachtet wurde die multiethnische und multikonfessionelle Adelsrepublik spürbar geschwächt, auch in ihrem inneren Zusammenhalt. 1652 wurde zum ersten Mal unter Berufung auf das Recht des Liberum Veto, das einem einzigen Abgeordneten gestattete, eine Beschlussfassung zu verhindern, eine Sejm-Sitzung abgebrochen und das Parlament bis zur nächsten Wahlperiode vertagt.

Das Prinzip der Einstimmigkeit war nicht neu und hatte lange recht gut funktioniert. Sein Sinn war, dass keine Mehrheit automatisch eine Minderheit mit einer vielleicht besseren Idee überstimmen konnte. Die Abstimmung sollte erst nach einem ucieranie („das Vermahlen“), also einer Kompromissfindung erfolgen. Immer öfter aber wurde im Interesse innerer Koterien und ausländischer Einflussnahme das Parlament gesprengt statt vermahlt. Die Rzeczpospolita verfügte zwar nach wie vor über ein beachtliches militärisches Potential. Mit König Johanns III. Sobieskis erfolgreichem Entsatz Wiens 1683 schrieb sie sich noch einmal in die antiosmanische Liga ein. Doch sie wurde zunehmend zum Spielball fremder Interessen.

Die „Sachsenzeit“ (1697–1763) genießt in Polen einen eher schlechten Ruf, obwohl die Personalunion mit Sachsen durchaus ein Modernisierungspotential für die Rzeczpospolita mit sich brachte. Allerdings ließ sich König August II. („der Starke“) im Bündnis mit dem Zaren Peter I. in einen Krieg gegen Schweden verwickeln, den er nicht als polnischer König, sondern als sächsischer Kurfürst überwiegend auf dem Gebiet der Rzeczpospolita führte. Das verwüstete Land erholte sich anschließend wirtschaftlich einigermaßen. Allein eine tiefgreifende politische Reform der Rzeczpospolita war bei der Selbstgenügsamkeit eines großen Teils des Adels und der geringeren Entscheidungsgewalt des Königs kaum durchzuführen, zumal die Nachbarmächte über Agenten oder militärische Interventionen Reformversuche abblockten.

Das Ende der polnischen Adelsrepublik und der Aufstieg Russlands

Geschichte verläuft nicht linear. Auch das Ende Polen-Litauens infolge der Teilungen 1772, 1793 und 1795 war keineswegs vorprogrammiert. Dennoch wurde die Rzeczpospolita das Opfer eines neuen Politikverständnisses, das sich im Anschluss an den Westfälischen Frieden von 1648 entwickelte. Dieses etablierte letztendlich eine Pentarchie der neuentstandenen Großmächte, die ihre Machtansprüche durch wechselnde Koalitionen im Zentrum und Grenzverschiebungen ihrer Einflusszonen an den Peripherien austarierten. Durch Russlands Aufstieg in dieses Mächtekonzert, das sich in seinen imperialen Ansprüchen keine Schranken setzte, wurde Ostmitteleuropa zum Kolonialgebiet der aufstrebenden Mächte.

Bis heute hallt dies bei Putin wider, wenn er zum Schulanfang einem russischen Schüler vor laufender Kamera lächelnd erklärt, Russland habe keine Grenzen … In die Praxis übersetzt heißt das, es setzt sich keine. Und so war es auch im 18. Jahrhundert beim russischen Drang nach Westen.

Bezeichnenderweise blieb die Grenze der polnischen Krone zum Heiligen Römischen Reich, durch karge Felder und nicht entlang mächtiger Ströme oder Bergketten gezogen, vom 14. Jahrhundert bis 1772 weitgehend ruhig, während die Grenzen im Osten zum „heiligen Russland“ trotz immer wieder feierlich unterzeichneter „ewiger Frieden“ wie 1634 oder 1684 ständig verschoben wurden, weil es dort kein gemeinsam verpflichtendes Rechtsverständnis gab. Stattdessen dominierte der schiere Machtwille der Moskauer Selbstherrscher.

Der entscheidende Anstoß zur ersten Teilung der Adelsrepublik kam dagegen von Seiten des preußischen Königs Friedrichs II. Er erweiterte Preußen um einträgliche Gebiete, spielte das aber herunter, verhöhnte die Polen als „Irokesen Europas“, andererseits war er gegenüber dem Komplizen Russland nicht aufrichtig. Da die Lähmung und Beschneidung der Adelsrepublik Russland gefährlich stärkten, unterstützte Preußen die polnische Reformbewegung, zugleich schacherte es mit fremden Gebieten: 1778 überlegte Staatsminister Ewald Friedrich von Hertzberg, ob Österreich Galizien an Polen zurückgeben solle und dafür mit Moldawien und der Walachei entschädigt werden könne. Russland sollte wiederum mit Bessarabien, und nicht mit der Krim zufriedengestellt werden. Und für die Rückgabe Lembergs an Polen sollten sich Polen mit der Abtretung Danzigs, Posens und Thorns an Preußen bedanken …

Unterdessen kamen in Polen tatsächlich Reformen in Gang. Der Große Sejm (1788–1792) verabschiedete am 3. Mai 1791 coupartig eine moderne Verfassung, die nach dem Ableben des Königs Stanisław August die sächsischen Wettiner als Erbmonarchen vorsah. Ein funktionsfähiger polnischer Staat war jedoch für Russland nicht akzeptabel. Die Lähmung der Rzeczpospolita nicht zuletzt durch militärische Interventionen war seit Peter I. („dem Großen“) ein Dogma der russischen Machtpolitik. Und nun setzte Katharina II. ihre Agenten in Polen in Bewegung, um sie um den Schutz der alten „Goldenen Freiheit“, also der Adelsprivilegien bitten zu lassen. Die russischen Truppen marschierten ein, Preußen besetzte die Gebiete, die es beanspruchte, und um die Legalität des Raubaktes vorzutäuschen, zwangen sie in Grodno (Hrodna im heutigen Belarus) den Sejm unter Waffengewalt, die Zweite Teilung Polens anzuerkennen. Wie ein einzelner Abgeordneter in einer dramatischen Geste auf dem Liberum Veto bestand, ging zwar in den Bilderschatz der polnischen Nationalmythen ein, war bloß angesichts der Übermacht der fremden Mächte nutzlos.

Auch der Kościuszko-Aufstand von 1794 rettete den polnischen Reststaat nicht. Er wurde vielmehr für die Teilungsmächte zum Vorwand, die Rzeczpospolita als „jakobinischen Unruhestifter“ 1795 endgültig zu liquidieren und Polen völlig von der Landkarte verschwinden zu lassen.

Die Finis Poloniae erfolgte im Windschatten der Revolution in Frankreich am Vorabend der napoleonischen Ära. Die Drei Schwarzen Adler (nämlich Preußen, die Habsburgermonarchie und Russland) einigten sich darauf, den Namen Polen fortan nur noch im geografischen Sinne zu verwenden. Spuren davon gibt es im Deutschen bis heute etwa in der gängigen Wendung „polnische Teilungen“, als ob das Objekt des Fremdeingriffes nie ein internationales Subjekt gewesen wäre. In Russland sah man es einfacher: Es war eine Wohltat, Lebensunfähiges zu beseitigen. „Der von unheilbarer Krankheit zerfressene polnische Gesellschaftskörper war nur krampfhafter, das Ende begleitenden Zuckungen fähig“, schrieb 1863 der namhafte russische Historiker Sergej Solowjow in seiner „Geschichte des Falles von Polen“ (dt. Ausgabe 1865).

Ohnehin leben Totgesagte länger. Zwar gibt es keinen Grund zu übermäßiger Nostalgie für die alte Rzeczpospolita. Sie hatte ihre schwerwiegenden historischen Schwächen, sie war aber auch zäh und hatte ihre Vorzüge als eine Union mit vielfachen Identitäten.

„Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“, lautete die erste Zeile eines Soldatenliedes der polnischen Legionen in Italien, die an der Seite Napoleons die Wiedergeburt Polens zu erkämpfen hofften. Diese Worte schrieben 1862 ukrainische Patrioten für ihr eigenes Lied um: Ще не вмерла Україна … (Noch ist die Ukraine nicht gestorben …). Nunmehr sind diese Texte die Nationalhymnen Polens und der Ukraine. Wobei heute die mehrsprachige Ukraine mehr von der alten Rzeczpospolita an sich haben mag als das nach 1945 ethnisch weitgehend homogen gewordene, nach Westen verschobene Polen.

Anfang des 19. Jahrhunderts war jedenfalls nichts vorbestimmt und gesichert. Nicht einmal das politische Überleben der Teilungsmächte. 1805 spielte Kaiser Alexander I. zusammen mit seinem Außenminister, dem polnischen Fürsten Adam Czartoryski, mit dem Gedanken, das Königreich Preußen aufzuteilen und die Rzeczpospolita in einer Personalunion mit dem Zarenreich zu restituieren. Die deutsche Lobby am Zarenhof war indes einflussreicher, und Alexander entließ seinen polnischen Vertrauten.

Dennoch wurden Preußen 1807 und Österreich 1809 um Teile ihrer polnischen Erwerbungen beschnitten, als Napoleon das Großherzogtum Warschau schuf. Und nach Napoleons Niederlage setzte der russische Kaiser immerhin Teile von Czartoryskis Idee um. In Wien entstand 1815 ein „Königreich Polen“ mit dem russischen Kaiser als König, der in Russland weiterhin Selbstherrscher war, in Polen aber an eine Verfassung gebunden. Diese Quadratur des Kreises führte unter anderem 1825 zum Dekabristenaufstand in Russland und 1830 zum Novemberaufstand in Polen.

Der Novemberaufstand scheiterte, ebenso der Januaraufstand von 1863/64. Mit jeder Niederlage wurden die Bindungen zwischen den verschiedenen Territorien aus der Zeit der alten Rzeczpospolita schwächer, nach 1831 in der Ukraine und nach 1863 im ehemaligen Großherzogtum Litauen. Das nationale Erwachen richtete sich dort nicht nur gegen die aktuelle Russifizierungspolitik, sondern gegen die historische Dominanz der polnischen Sprache und Kultur.

Das hatte Folgen für das polnische Selbstverständnis – jahrhundertelang durch die multiethnische und multikonfessionelle Adelsrepublik ständisch geprägt, erhielt es im Zuge der restriktiven Germanisierungspolitik in Preußen und die Russifizierung im nach der Niederschlagung des Januaraufstandes „Weichselland“ genannten russländischen Teilungsgebiets moderne Züge.

Mit der polnisch-katholischen Bauernbewegung wurden Ende des 19. Jahrhunderts endgültig Bauern als bodenständiger Teil der politischen Nation gewürdigt. Gleichzeitig bekamen die oft aus dem verarmten Kleinadel stammenden Sozialisten eine starke Konkurrenz in den kleinbürgerlichen Nationaldemokraten, die weniger von einem Kampf „für eure und unsere Freiheit“ (so die Parole aus dem Novemberaufstand) als von „nationalem Egoismus“ im Ringen mit der deutschen zivilisatorischen, russischen imperialen und jüdischen wirtschaftlichen Dominanz sprachen. Nicht Aufstände und Revolutionen wie 1905 sollten das Denken des modernen Polen prägen, sondern der Aufbau eines starken polnischen Mittelstandes im Rahmen der bestehenden Teilungsmächte.

Wiedergeburt Polens

Der Erste Weltkrieg mit der deutschen Mitteleuropapolitik und Ausrufung eines nebulösen Königreichs Polen im November 1916, die russische Revolution 1917 mit der Aufhebung der Teilungen Polen-Litauens durch Lenin und vor allem der militärische Zusammenbruch aller drei Teilungsmächte ermöglichten die Wiedergeburt des polnischen Staates. Auf Anhieb stellte sich dann die Frage: Welches Polen soll es sein?

Die polnischen Grenzen blieben bis 1923 umkämpft: Um Posen herum und Schlesien gegen die Deutschen, in Lemberg gegen die Ukrainer, in Wilna gegen die Litauer, im Teschener Gebiet gegen die Tschechen. Es gab freilich keine „fünf Kriege“ des neu entstehenden Polen gegen die Sowjetunion, wie man bisweilen in Deutschland lesen kann. 1919 lösten die polnischen Truppen die deutschen Soldaten an der Ober-Ost-Linie ab, es kam zu Zusammenstößen mit den Bolschewiki. Piłsudski verweigerte den „Weißen“ unter Anton Denikin ausdrücklich militärische Unterstützung, als sie im Sommer von „Kleinrussland“ (das heißt der Ukraine) aus gegen die „Roten“ vorrückten. Nach seiner Niederlage behauptete Denikin gar in einem Buch, Piłsudski habe die Sowjetmacht vor dem Untergang gerettet.

Der „polnische Bismarck“ Piłsudski war gewissermaßen der letzte Erbe der alten Rzeczpospolita. Er stammte aus dem früheren Großherzogtum Litauen und schwärmte für dessen Neuauflage in Form eines Intermarium – einer Föderation neuer Staaten zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Daher ließ er sich im April 1920 auf das Abenteuer ein, polnische Truppen zu entsenden, um einen ukrainischen Staat unter Simon Petljura verteidigen zu helfen. Das Vorhaben schlug politisch fehl. Die Gegenoffensive des bolschewistischen Generals Tuchatschewski wurde zwar vier Monate später bei Warschau und am Nemen abgewehrt. Doch den Friedensvertrag in Riga handelten bereits die Nationaldemokraten aus, denen ein völlig anderes Polen vorschwebte – keine Föderation, sondern ein starker Nationalstaat, in dem nationale Minderheiten polonisiert oder verdrängt werden sollten. Die Nationaldemokraten setzten sich bei den Verhandlungen nicht für die Belange der ukrainischen Alliierten ein und akzeptierten als Grenze die Linie von 1919, die starke polnische Siedlungsinseln auf der sowjetischen Seite ließ, dagegen die belarusischen und ukrainischen Minderheiten in Polen verkleinerte.

Dennoch hatte die Zweite Rzeczpospolita (1918–1939) noch einiges vom Flair der alten Adelsrepublik. Mit Wilna und Lemberg, deren Bedeutung für die polnische Kultur vergleichbar war mit der von Weimar, Breslau oder Königsberg für die deutsche, waren die kresy, die östlichen Randgebiete, nach wie vor multiethnisch, multikonfessionell und multikulturell. Dort hatten die alten, konservativen Adelsfamilien wie die Radziwiłłs ihre Familiensitze. Dort waren die jüdischen Schtetl und die Fischerdörfer in den Prypjat-Sümpfen.

Der nach Piłsudskis Tod 1935 von dessen Offizieren autoritär regierte polnische Staat geriet immer stärker unter Druck von Seiten des radikalen Flügels der Nationaldemokraten, denen Mussolinis Italien mehr imponierte als die alte Adelsrepublik. Ihre restriktive Minderheitenpolitik ließ die ohnehin enttäuschte ukrainische Nationalbewegung zu einer Irredenta nach irischem Vorbild werden.

Außenpolitisch stützte sich die Zweite Rzeczpospolita auf die Bestimmungen des Versailler Friedens. Da sich aber Frankreich als Ordnungsmacht bereits 1925 mit seiner Annäherung an Deutschland in den Verträgen von Locarno als eher unsicherer Kantonist erwies, versuchte Piłsudski, der 1926 mit Unterstützung der Linken gewaltsam an die Macht zurückkehrte, Polen durch parallele Nichtangriffspakte mit der UdSSR 1932 und NS-Deutschland 1934 abzusichern. Trotzdem verfolgte Warschau zu keinem Zeitpunkt, wie heute in Russland und selbst zuweilen in Deutschland behauptet wird, eine antisowjetische Allianz mit den Nazis. Gerade deswegen ging Hitler im Sommer 1939 auf Stalins Angebot für einen Nichtangriffspakt ein, der in seinem Geheimen Zusatzprotokoll eine vierte Teilung Polens vorsah.

Der Erste Weltkrieg endete mit der Wiedergeburt Polens, der Zweite begann wegen Polen und endete mit einem erneuten Geschichtsbruch. Der polnische Staat, im September 1939 von deutschen und sowjetischen Panzern niedergewalzt, wurde bis siebzig Kilometer vor Berlin verschoben und unter die Kuratel eines der beiden Täter von 1939 gestellt.

Auch Volkspolen nannte sich Rzeczpospolita, nur seine Bevölkerung wurde völlig neu sortiert. Nach der von NS-Deutschland geplanten und umgesetzten Shoah gab es im einstigen paradisus judaeorum des 16. Jahrhunderts fast keine Juden mehr. Deutsche waren 1945 vor der Roten Armee geflohen, dann wild vertrieben und schließlich ausgesiedelt worden. Die restlichen Ukrainer wurden entweder ausgesiedelt oder über ganz Volkspolen verstreut. Die polnischen „Repatrianten“ aus den ehemaligen kresy sowie viele aus dem armen und zerstörten Zentralpolen zogen in ehemals deutsche Häuser ein. Der nationaldemokratische Wunschtraum von einem ethnisch homogenem Polen wurde, allerdings in einer sowjetischen und antiwestlichen Version, plötzlich wahr.

Neue politische Geografie

1945 war es mit der einstigen Rzeczpospolita mehrerer Nationen vorbei. Und doch nicht ganz. Sie lebte fort in den intellektuellen Debatten der Pariser Exilzeitschrift „Kultura“, die sich für die Aussöhnung Polens mit den Litauern, Belarusen und Ukrainern einsetzte und für eine kritische Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte warb. Dort erschienen 1981 Jan Józef Lipskis „Zwei Vaterländer – zwei Patriotismen: Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen“, die für die Politiker der Solidarność geradezu zu einer programmatischen Formel für offenen Patriotismus wurden.

Polen erkannte 1991 als erster Staat die souveräne Ukraine völkerrechtlich an und unterstützte im Rahmen seiner Möglichkeiten die Anbindung seiner vormals sowjetischen Nachbarn an den Westen. Dabei übernahm man das schon seit Jahrzehnten erprobte Instrumentarium des deutsch-polnischen Dialogs mit Schulbuchkommissionen, gemeinsamer Universität in Lublin und Heimwehtourismus.

Die alten Wunden des Massakers ukrainischer Verbände an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien 1943 schmerzten, aber polnisch-ukrainische Versöhnungsgesten taten ihre Wirkung. Russische Nationalisten wie der kürzlich verstorbene Wladimir Schirinowski beschworen im russischen Fernsehen einen polnischen Revisionismus, den sie gleichzeitig in Polen zu schüren versuchten, freilich ohne alle Resonanz.

Die Polen, die in der Dritten Rzeczpospolita der 1990er Jahre unter diversen postkommunistischen und Solidarność-Regierungen in die euroatlantischen Strukturen von NATO und EU drängten, hatten in ihrem Selbstverständnis wenig gemein mit den Prägungen der alten Adelsrepublik oder des Polens der Zwischenkriegszeit. Das lag natürlich an der jahrzehntelangen Herrschaft einer Partei, die sich immer weniger als „kommunistisch“ verstanden hatte, dagegen ihre Regierungsgewalt immer mehr geopolitisch-national als einzige für den Kreml akzeptable Verwalterin eines polnischen Staates ausübte.

Die polnische Daseinsverschiebung ergab sich offenkundig aus der neuen politischen Geografie. Die heutige Rzeczpospolita liegt, mit Karl Schlögel gesprochen, nicht mehr ostwärts, sondern westwärts.

Mehr als die Hälfte der Polen lebt in den ehemals deutschen Landschaften der „Wiedergewonnen Gebiete“ mit Berlin oder Dresden in unmittelbarer Nähe. Die „Rückkehr nach Europa führt über Deutschland“, lautete die eingängige Formel der 1990er Jahre. Selbst Andrzej Wajda, dessen Familie aus dem russischen Teilungsgebiet stammte, seufzte damals in der Zeitschrift „Polityka“, ob junge Polen in Zukunft nicht vielleicht zu sehr deutsch werden wollten. Die Nationalkonservativen von der „Ostwand“ wurden deutlicher und irgendwie „bayerischer“: „Wir sind wir, wir waren immer in Europa und brauchen niemandem nachzujagen …“

Sie glaubten, in sich zu ruhen, trauten den Minderheiten nicht und suchten krampfhaft in der EU nach Pferdefüßen – mal drohte Polen der Ausverkauf der angestammten Scholle, mal eine neue Teilung, mal erneut eine deutsche Kolonisierung …

Dem polnischen Papst kann man sicher vorhalten, die heutige Krise des polnischen Katholizismus mit seiner erzkonservativen Personalpolitik mitverursacht zu haben. Doch sein Beitrag zum annus mirabilis 1989 und sein Engagement zugunsten der EU bleiben unbestritten.

Von der Lubliner Union zur Europäischen Union

Vor dem Beitrittsreferendum beorderte der Papst die polnischen Bischöfe nach Brüssel, damit sie sahen, dass es dort mit rechten Dingen zugehe. Und von Rom aus schlug er den großen historischen Bogen „von der Lubliner Union zur Europäischen Union“. Ein rhetorisches Glanzstück. Man konnte es nach Belieben deuten: Es sei müßig, nostalgisch zurückzuschauen, zugleich bringe Polen in die EU eine ansehnliche Mitgift an Erfahrung: das Bewusstsein für die Vorteile des föderativen Zusammenlebens mit anderen sowie die Weisheit gebrannter Kinder, denen die historischen Fehler der eigenen Geschichte bewusst seien. Deutlicher wurde Karol Wojtyła nicht. Er kicherte nur nach dem EU-Beitritt: Es ist uns doch geglückt …

Das ist tatsächlich eine translatio der alten res publica in die EU, konnte einem im Winter 2004 durch den Kopf schießen beim Anblick der nach Regionen geordneten zivilen Pulks von Ukrainern auf dem Maidan, die auf den Ausgang der EU-Vermittlung nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen warteten. Im Präsidentenpalast verhandelten damals beide Kandidaten, Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowytsch, mit den Präsidenten Polens und Litauens sowie Javier Solana als höchstrangigem Vertreter der EU.

Die orange Revolution hatte wenig mit so alten Prägungen zu tun. Sie war vielmehr ein Nachbeben des Völkerherbstes 1989 in Ostmitteleuropa, ein Zeichen der Bindungen der Ukrainer an europäische Normen des Rechts und der Demokratie an Stelle des autokratisch und imperial verstandenen Russkij Mir. Und dennoch ist die heutige Neuentdeckung der Wurzeln der ukrainischen Staatlichkeit und Selbstverwaltung in der Kiewer Rus, im Kosaken-Hetmanat, und nicht zuletzt in der polnisch-litauischen Rič Pospolita, die ebenfalls originäre ukrainische Züge trug, hilfreich für die künftige Selbstfindung der Ukraine in der EU.

Und genauso umgekehrt: Im 20. Jahrhundert kehrte Polen ins Bewusstsein der Europäer zurück, heute tut es die Ukraine. Und sie wird bleiben. Die Europäische Union wird demnächst östlicher und föderaler werden. Sie wird sich vom derzeitigen Liberum Veto zugunsten von Mehrheitsentscheidungen in Brüssel befreien. Und die einstigen westlichen Pentarchen werden die europäische Geometrie neu lernen müssen.

 

Dieser Beitrag erschien im Deutsch-Polnischen Magazin DIALOG Nr. 144

 

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Adam Krzemiński

Adam Krzemiński

Germanist und Publizist, Redakteur der Wochenzeitschrift „Polityka“, von 1987 bis 1998 Chefredakteur des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG, lebt in Warschau.

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