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Pulverfass Balkan

Die Lage auf dem Balkan ist gefährlich angespannt. Das erinnert an die Standoffs aus Quentin Tarantinos Filmen, bei denen jeder der Protagonisten seine Waffe auf einen anderen gerichtet hält. Und auch wenn niemand wirklich etwas davon hat abzudrücken, ist die Gefahr doch groß, dass es jemand tut, weil ihm die Nerven durchgehen. Und dann verwandelt sich die Situation augenblicklich in eine Tragödie.

Die Kosovo-Albaner fürchten, dass die Serben dabei sind, einen Angriff vorzubereiten. Die Serben fürchten, die Europäische Union könne sie zwingen, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Die Bosnier, das heißt die bosnischen Moslems fürchten sich, dass die bosnischen Serben Bosnien-Herzegowina von innen heraus zerstören könnten.

Einziger Nutznießer dieser verfahrenen Lage ist Russland. Denn die wachsenden Spannungen in der Region sorgen dafür, dass der Westen sich durch die Eröffnung einer zweiten Front in dem großen Zusammenprall der Zivilisationen zwischen den (mehr oder minder liberalen) westlichen Demokratien und den scheindemokratischen Autokratien Russland und Belarus bedroht fühlen könnte, der durch den Krieg in der Ukraine eröffnet wurde, und von den Russland unterstützenden Diktaturen China, Nordkorea, Iran usw. Obwohl Serbien sich offiziell um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union bewirbt, befindet es sich doch bei dieser Auseinandersetzung großteils auf Seiten des neuen Ostblocks. Es ist kaum anzunehmen, dass eine, nennen wir es einmal militärische Invasion des Kosovo in der gegenwärtigen Lage durch Russland unterstützt würde, was eher unwahrscheinlich ist, da Russland nicht über die Mittel verfügt, um Serbien irgendeine wesentliche militärische Unterstützung zukommen zu lassen. Andererseits ist genauso wenig anzunehmen, dass eine auf sich selbst angewiesene serbische Armee es schaffen würde, nicht nur eine kosovarische Armee, sondern auch NATO-Truppen zu bekämpfen, so etwa die dauerhaft in dem US-amerikanischen Camp Bondsteel im Kosovo stehenden Einheiten. Dennoch liegt die Anspannung in der Luft. Die jüngste Eskalation war der Angriff von Serben auf den Nordkosovo, der hauptsächlich von Serben bewohnt und von der Regierung in Pristina weitgehend unabhängig ist, auf eine kosovo-albanische Polizeipatrouille, bei dem ein albanischer Polizist getötet wurde. Der Zwischenfall endete mit dem Angriff kosovarischer Truppen auf das orthodoxe Kloster Banjska, in das sich die Angreifer zurückgezogen hatten. Diese wurden zum Teil erschossen, aber einigen, darunter dem Anführer gelang es, auf serbisches Gebiet zu flüchten. Dort befinden sie sich nach wie vor in Freiheit.

Serbien ist in sich gespalten. Einerseits findet es viele Gründe, um sich auf die russische Seite zu schlagen, angefangen mit seiner althergebrachten Sympathie für Russland, das von vielen Serben als „Verteidiger der Slawen“ wahrgenommen wird, bis hin zum Krieg im Kosovo und der Bombardierung Serbiens durch die NATO 1999, der sich Moskau entgegenstellte. Andererseits, genauso wenig, wie Russland damals dem NATO-Angriff etwas entgegenzusetzen hatte, ist es jetzt in der Lage, viel auf dem Balkan auszurichten. Seine Möglichkeiten dazu sind beschränkt: In der Region erinnert man sich noch an den fehlgeschlagenen Putsch, den Russland in Montenegro vor dessen Beitritt zur NATO durchführen wollte. Auch konnte Russland Nikola Gruevskis Regierung in Mazedonien nicht retten, die nach Protesten gegen Korruption stürzte und nachdem herausgekommen war, dass sie Politiker und Journalisten abgehört hatte; Gruevski musste außer Landes fliehen und fand in Ungarn Asyl.

Die begrenzte Reichweite Russlands zugunsten des von fast jeder Seite von NATO-Mitgliedern umgebenen Serbiens ist das eine. Ebenso wenig ist Russland für Serbien von besonderem ökonomischem Gewicht, insbesondere im Vergleich mit dem Potential der Europäischen Union. Belgrad weiß, wo das große Geld zu machen ist, und trotz seines Flirts mit den Chinesen, die zum Beispiel den Serben während der Covid-Pandemie bei der Impfdosen-Krise aushalfen, und trotz zahlreicher chinesischer Investitionen im Land weiß es sehr genau, dass es keine allzu große Wahl hat, wenn es sich Europa anschließen will.

Serbiens Problem ist, dass für die Bewerbung um die EU-Mitgliedschaft die serbische Führung unter Präsident Aleksandar Vučić ihre Begierden in‑ und außerhalb der Politik einschränken müsste, denn heute erinnert das politökonomische System des Landes stark an dasjenige von Ungarn, und mit diesem Land hat die Europäische Union schon genug Ärger. Präsident Vučić und seine Koterie aus Businessleuten benutzen den Staat und das Rechtssystem für ihre persönlichen Zwecke, vor allem, um ihre wirtschaftliche Position auf das ganze Land auszudehnen; ohne Einvernehmen mit dieser politisch-ökonomischen Elite kann niemand in Serbien so recht ins Geschäft kommen. So bleibt nur wenig Spielraum für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Zweitens und vor allem verlangt die EU von Serbien, seine Beziehungen zum Kosovo zu normalisieren, im Optimalfall, es als unabhängiges Land anzuerkennen. Darauf will sich Belgrad jedoch nicht einlassen. Es sind ihm überdies die Hände gebunden, stellen wir die öffentliche Meinung in Rechnung, für die die Kosovo-Frage eine Frage des nationalen Ethos ist: „Kosovo je Srbija“ (Kosovo ist Serbien) und fertig. Die rebellische Provinz ist und bleibt auf der serbischen mentalen wie der tatsächlichen Landkarte eine Provinz und darf kein unabhängiges Land sein.

Daher befindet sich Serbien im Spagat. Es stünde gern an der Seite Russlands, doch das hat keinen Sinn; übrigens besteht, ganz abgesehen von wirtschaftlichen und militärischen Fragen, zwischen Belgrad und Moskau kein besonderes Vertrauen, insbesondere seit sich herausgestellt hat, dass der russische Nachrichtendienst seine serbischen Verbündeten abhört. Offiziell sind die Beziehungen ausgezeichnet, der russische Botschafter in Belgrad kann sich vor Ehrenerweisungen kaum retten, doch die Realität sieht weniger rosig aus. Mit Europa kann es Serbien leider nicht, solange es die offenen Fragen nicht löst, wozu ihm Fähigkeit und Wille fehlen. Es befindet sich also weiter in einem Schwebezustand, und die Frustration wächst.

Beobachter verweisen noch auf einen weiteren Aspekt, wieso Serbien sich nicht besonders gut in das westliche Gefüge einpasst. Ähnlich wie Russland mit seiner Konzeption von der „russischen Welt“ (russkij mir), hat auch Serbien etwas in der Art des „nahen Auslands“. Dazu gehört nicht allein der Kosovo, insbesondere sein nördlicher Teil, sondern auch Bosnien, besonders dessen föderaler Bestandteil, die Republika Srpska in Bosnien. Zudem erklärt der Führer der bosnischen Serben, Milorad Dodik, der schon ganz offen mit Russland paktiert, in gewissen Zeitabständen seine Absicht, sich von der Zentralregierung in Sarajevo loszusagen und sich höchstwahrscheinlich Serbien anzuschließen. Vorerst werden so weit wie möglich nur die Verbindungen zum bosnischen Zentrum gelöst. Plakate mit serbischen Soldaten, bereit zur Verteidigung der Republika Srpska gegen die aus dem eigenen Land drohende Gefahr, sind im gesamten Gebiet zu sehen. Europäische Union und NATO wollen jedoch kein Einverständnis zur Lostrennung noch eines weiteren europäischen Landes geben, daher haben sie in letzter Zeit die Anzahl der Soldaten in den in Bosnien und Herzegowina stationierten Stabilisierungsmissionen erhöht.

Der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti gießt noch Öl ins Feuer, indem er im Gefühl des Rückenwindes aus dem Westen hin und wieder dadurch die Spannungen verstärkt, dass er den hauptsächlich symbolischen Rückzug der Serben aus dem Nordkosovo zu erzwingen versucht, um dort faktisch eine kosovarische Verwaltung einzuführen, anders gesagt, um seine eigene rebellische Provinz unter Kontrolle zu bringen. Von ihren Symbolen wollen die Serben unter keinen Umständen lassen, was auch umgekehrt gilt: Für nichts in der Welt würden die Kosovo-Serben die von Pristina ausgegebenen Nummernschilder an ihre Autos schrauben. So wachsen die Spannungen in der Region, und Vučić, der sich zum Verteidiger der Serben nicht nur auf dem Gebiet des eigentlichen Serbien stilisiert, sondern in der gesamten „serbischen Welt“, kann und will sein Einverständnis nicht geben. Die Spannungen gehen also weiter, serbische Truppen werden ab und zu an die Grenze des Kosovo geschickt, und selbst wenn niemand den Konflikt wollte, weil er sich nämlich für niemanden bezahlt macht, kommt es doch immer wieder zu kleineren Explosionen. Ein Beispiel dafür war der beschriebene Angriff auf die albanischen Polizisten, regelmäßig kommt es zu serbischen Protesten im Nordkosovo, zur Blockierung der Zufahrtsstraßen nach Mitrovica, der Hauptstadt des Nordkosovo, usw. Unterdessen hoffen alle, dass die Lage nicht eines Tages doch noch außer Kontrolle gerät.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Ziemowit Szczerek

Ziemowit Szczerek

Ziemowit Szczerek ist Journalist und Schriftsteller, der sich u.a. mit europäischen Randgebieten befasst. Er schreibt für zahlreiche polnische Zeitungen und Magazine, darunter die "Polityka" und "Gazeta Wyborcza".

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