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Władysław Bartoszewski – eine außergewöhnliche Biografie

Er war 18 Jahre alt, als er am 19. September 1940 im Zuge einer Razzia im Warschauer Stadtteil Żoliborz von den Deutschen aus der Wohnung herausgezogen und ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde. Der Grund für die Verhaftung war nicht etwa ein Verdacht der Teilnahme an Untergrundaktivitäten, sondern eine Massenaktion gegen polnische Intellektuelle. Zur Zeit der Festnahme war er Mitarbeiter des Polnischen Roten Kreuzes (PCK), einer Institution, die völlig legal mit Erlaubnis der Besatzer funktionierte.

Den Interventionen seitens des PCK war es wohl zu verdanken, dass er nach sieben Monaten – im April 1941 – das Lager verlassen konnte. Schwerkrank kehrte er nach Hause zurück, mehrere Wochen verbrachte er im Bett, mit Bandagen umwickelt und gepflegt von Hanka Czaki (Teilnehmerin des polnischen Untergrunds, zu Beginn 1944 in Warschau verhaftet und exekutiert, Anm. d. Red.). Er erzählte ihr über das Lager.

Sein Bericht – mit einigen anderen – diente als die Grundlage der im Frühling 1942 konspirativ publizierten Broschüre „Auschwitz. Das Tagebuch eines Häftlings“. Damals konnte er noch nicht wissen, dass Czaki als Sekretärin bei einem der Leiter im Informations- und Propagandabüro der Heimatarmee-Hauptkommandantur arbeitete – Jerzy Makowiecki.

Untergrund im Krieg

Ermutigt durch den schon damals bekannten Seelsorger Jan Zieja, begann er im Jahre 1942 die Zusammenarbeit mit der – von der Schriftstellerin Zofia Kossak gegründeten – egalitären katholischen Untergrundorganisation Front der Auferstehung Polens (Polnisch: Front Odrodzenia Polski, kurz: FOP, Anm. d. Red.), die nach dem Grundsatz handelte, dass Christen nicht dem Hass verfallen dürfen. Dieses Gebot – des tiefen Gerechtigkeitsgefühls ohne Hass – wurde allmählich zur innigsten Eigenschaft seiner Haltung. Als FOP-Mitglieder engagierte er sich bei den Aktivitäten des damals gerade ebenfalls von Zofia Kossak organisieren Hilferates für Juden und parallel in der Gefängnisabteilung der Vertretung der Exilregierung im besetzten Land (sog. Delegatura, Anm. d. Red.). Den Hilferat, besser unter dem konspirativen Decknamen „Żegota“ bekannt, gründeten Polen, Angehörige linksorientierter und mancher katholischen Gruppierungen zusammen mit den sich versteckt haltenden Juden.

Die Menschen von „Żegota“ versuchten verfolgte polnische Staatsbürger jüdischer Abstammung ausfindig zu machen, versorgten sie mit gefälschten Ausweisen, finanziellen Mitteln und suchten für sie sichere Verstecke. Die Gefängnisabteilung hatte dagegen das Ziel, Kontakte zum Pawiak-Gefängnis herzustellen, wo die verhafteten Teilnehmer verschiedener Formen und Gruppen des polnischen Untergrunds eingesperrt wurden. Sie sammelte Informationen über die Festgenommenen und ihre Schicksale, manchmal schmuggelte sie dringend benötigte Arzneimittel ins Gefängnis.

Als vereidigter Soldat der Heimatarmee (Polnisch: Armia Krajowa, kurz: AK, Anm. d. Red.) arbeitete er im Informations- und Propagandabüro (kurz: BIP, Anm. d. Red.) der Hauptkommandantur. Das Büro gab regelmäßig ein paar Untergrundblätter der AK heraus, beaufsichtigte konspirative Druckereien, machte aber auch Analysen der konspirativen Presse verschiedener politischer Gruppierungen – von der linken bis zur rechten Seite. Im BIP lernte Bartoszewski die Kunst der bündigen Analyse der Untergrundpresse unterschiedlicher Parteien und das Verfassen von Berichten für die Kommandantur. Er hatte dort die Möglichkeit mit herausragenden, gebildeten Menschen zusammenzuarbeiten (viele von ihnen wurden später zu geschätzten Professoren, wie Aleksander Gieysztor, Kazimierz Kumaniecki, Stanisław Herbst). Sie alle teilten demokratische, im Zentrum der politischen Szene angesiedelte, gemäßigt liberale, manchmal katholische, aber immer im Widerspruch zu jedem Chauvinismus stehende Ansichten.

Die extreme nationalistische Rechte führte in der Mitte 1944 einen Angriff auf diesen Personenkreis durch – hinterhältig ermordet wurden Jerzy Makowiecki, Leiter der Informationsabteilung im BIP (unmittelbarer Vorgesetzter von Bartoszewski) und Dozent Ludwik Widerschal, ebenfalls eine bedeutende Figur im BIP. Zwei weitere herausragende BIP-Mitarbeiter, Prof. Marceli Handelsmann und Halina Krachelska, fielen aufgrund einer Denunziation in die Hände der Gestapo. Der Schock nach diesen Verbrechen prägte sich tief in die Identität des Kreises der BIP-Mitglieder ein und vertiefte ihre Abneigung und ihr Misstrauen gegenüber den extremen Rechten.

Nach dem Warschauer Aufstand, in dem er aktiv Dienst leistete (u.a. als Redakteur eines Nachrichtenblattes), arbeitete Bartoszewski eng mit Kazimierz Moczarski (während der Besatzung Chef des konspirativen Büros für Information und Propaganda, Autor des Buches „Gespräche mit dem Henker“, Anm. d. Red.) beim Herausgeben des „Informationsbulletins“ (wichtigstes Presseorgan der Heimatarmee) zusammen. Er wurde auch als Mitglied von „Nie“ vereidigt, einer internen Untergrundorganisation, gegründet schon nach dem Auflösen der Heimatarmee zur Aktivität unter sowjetischer Besatzung. Diese Erfahrungen und damals geknüpfte persönliche Beziehungen blieben in seinem ganzen weiteren Leben sehr wichtig, bildeten einen Kreis der vertrautesten Menschen – und der sich weltanschaulich am nächsten stehenden in Hinsicht auf die gemeinsame Abneigung gegenüber dem Kommunismus, bei gleichzeitiger Suche nach legalen Möglichkeiten des Aufbaus souveräner Kultur.

Die Heimatarmee wurde aufgelöst. Im Sommer 1945 nahm die Polnische Bauernpartei (Polnisch: Polskie Stronnictwo Ludowe, kurz. PSL, Anm. d. Red.), die damals einzige zugelassene nichtkommunistische politische Bewegung mit Wurzeln im Untergrund der Besatzungszeit, ihre legitime Arbeit wieder auf. Bartoszewski schloss sich kurzerhand dem PSL an. Die Strategie der Bauernpartei bestand darin, eine breite Oppositionsfront gegen die Kommunisten aufzubauen und den Versuch zu wagen, die in Jalta angekündigte Wahl zu gewinnen. Im zentralen Presseorgan der Bauernpartei – der „Volkszeitung“ („Gazeta Ludowa“) – erinnerte Bartoszewski an den Warschauer Aufstands, an den Hilferat für Juden, verfasste Berichte von Exhumierungen von Kriegsopfern auf Warschaus Plätzen und Straßen und von ihrer Überführung auf den Powązki-Friedhof.

Als Journalist spezialisierte er sich auf kleinere publizistische Formen, Notizen aber auch Berichterstattungen vom Verlauf der politischen Prozesse. Bei der „Volkszeitung“ machte er auch erste Schritte als Historiker und war Autor von gern gelesenen Artikeln über die Zeit der deutschen Besatzung. Parallel begann er die wissenschaftliche Arbeit am Institut für Nationales Gedenken (Polnisch: Instytut Pamięci Narodowej, kurz: IPN, Anm. d. Red.), das die Verbrechen der Deutschen untersuchte. Gleich in der ersten Ausgabe des IPN-Jahrbuches veröffentlichte er einen gut dokumentierten Artikel über die Exekutionen von Zivilisten in Warschau in der ersten Hälfte 1944.

Bartoszewski wurde in den Vorstand der Bauernpartei im Warschauer Bezirk Mitte gewählt. Er engagierte sich auch in der Redaktion des internen Organisationsbulletins des PSL, was ihn – und andere Redaktionsmitglieder – im November 1946 ins Gefängnis brachte. Es waren Zeiten der erbarmungslosen Hetze der Kommunisten gegen die Mitglieder der konkurrierenden Bauernpartei unmittelbar vor der Wahl. Nach eineinhalb Jahren wurde Bartoszewski dank Interventionen von Menschen, die ihm das Überleben während der deutschen Besatzung verdankten, freigelassen. Inzwischen gab es keine Bauernpartei mehr, ihre ranghöchsten Mitglieder waren entweder ins Ausland geflohen, haben sich den Kommunisten ergeben oder sind verhaftet worden.

Bartoszewski versuchte sein noch während des Krieges an der Warschauer Untergrunduniversität angefangenes Studium der polnischen Literatur fortzusetzen. Im Herbst 1949 wurde er jedoch von seinem – inzwischen zum geheimen Agent der Staatssicherheit gewordenen – ehemaligen Bekannten aus der Zeit der Konspiration, einem früheren katholischen Aktivisten, denunziert. In der Folge des Denunzierungsschreibens von Dezember 1949 kam er erneut ins Gefängnis und wurde 1952 im geschlossenen Gerichtsverfahren zu 8 Jahren Haft wegen Spionage verurteilt. Spionage bedeutete in seinem Fall die Beteiligung an der Zusammenstellung von in der ersten Jahreshälfte 1945 erschienen Berichten zu verschiedenen Ereignissen im Land für die übriggebliebenen Untergrundstrukturen nach der Auflösung der Heimatarmee.

Im Gefängnis lernte er viele Teilnehmer der Kriegskonspiration kennen, berühmte Persönlichkeiten oder einfache Untergrundmitglieder. Er traf auch auf Deutsche, frühere SS-Offiziere. Manche von ihnen, im Versuch sich zu retten, belasteten mit falschen Vorwürfen jene Polen, die die kommunistische Staatssicherheit brechen und als angebliche Spitzel oder Kollaborateure verurteilen wollte. Noch in der Besatzungszeit und später im stalinistischen Gefängnis begegnete Bartoszewski sowohl der Größe, als auch der Niedertracht im Menschen, den Helden und den Feiglingen, auch dem Verrat, die entweder aus Schwäche oder aus Verzweiflung das eigene Leben zu retten versuchten. Es waren allesamt dramatische Erlebnisse. Sie zwangen zur Reflexion über die menschliche Natur, vor allem im Angesicht der Gräuel und der Angst. Er hat nicht oft darüber gesprochen, aber diese Erfahrung ist für immer tief in ihm steckengeblieben.

Bartoszewski ließ sich nie dazu verleiten, andere zu verurteilen, Rache an früheren Peinigern anzustreben oder menschliche Schwächen bloßzustellen. Er wollte keine Namen der Agenten verraten, die ihn jahrzehntelang bespitzelten, obwohl er zuletzt von dem Institut für Nationales Gedenken eine lange Liste der Denunzianten erhalten hat. Als ich ihn 2014 über den Menschen informierte, der ihn für fünf Jahre ins Gefängnis schickte, behielt er dessen Namen für sich.

Władysław Bartoszewski - eine außergewöhnliche Biografie, Beitrag Andrzej Friszke
Władysław Bartoszewski

Zeugnisse der Erinnerung

Im August 1954 wurde ihm – ähnlich wie vielen anderen jungen Häftlingen im Zuge des sog. „Tauwetters“ nach Stalins Tod – eine „einjährige Haftunterbrechung“ für gesundheitliche Rekonvaleszenz gewährt und er konnte das Gefängnis verlassen.  Das erwähnte „Tauwetter“ führte auch 1955 zur Urteilsaufhebung. Seinen ersten Artikel nach der Freilassung – eine Rezension der Bibliografie über Nazi-Kriegsverbrechen – publizierte er in der Bibliotheksfachzeitschrift „Przegląd Biblioteczny”. Mitte 1956 schrieb er für das populäre Wochenblatt „Stolica“ (die „Hauptstadt“) eine Reihe von Beiträgen über verschiedene Episoden des Warschauer Aufstandes und militärische Aktionen der Heimatarmee. Es war der Anfang des neuen und fruchtbaren Kapitels seiner Tätigkeit als Historiker.

Bartoszewski schrieb nicht über Politik oder Ideen und er brachte seine eigenen Ansichten zu solchen Dingen in seinen Publikationen nicht direkt zum Ausdruck. Er ergriff das Wort ausschließlich als Historiker. Doch seine Texte ließen darauf schließen, welche Meinungen er selbst vertrat und welchem Ziel er folgte. Das Schreiben über die Heimatarmee und den Warschauer Aufstand war zwangsweise nicht neutral, es war ein wahres „Schlachtfeld“ im Kampf um das Gedenken, um die Traditionen, um die Gestalt der – wie wir sie heute wohl nennen würden – historischen Erinnerung.

Im Jahre 1960 musste er die Redaktion von „Stolica“ verlassen, die Thematik der Heimatarme war ein Dorn im Auge der polnischen Machthaber und sollte in einer auflagestarken Zeitschrift keinen Platz haben. An die Heimatarmee und ihre Aktivitäten im Krieg erinnerten damals am häufigsten die Blätter der sog. PAX-Bewegung, die gleichzeitig aber das politische System der Volksrepublik Polen unterstützte und mit der Arbeiterpartei kooperierte. Bartoszewski wollte einen derartigen Deal auf keinen Fall eingehen, der PAX-Bewegung stand er ausgesprochen kritisch gegenüber, in der von ihr herausgegebenen Presse veröffentlichte er keinen einzigen Artikel.

Er pflegte alte Kontakte aus der Zeit der Heimatarmee, manche von seinen Bekannten aus diesen Jahren gehörten zum während des „Tauwetters“ entstandenen Diskussionskreis „Klub des Krummen Rades“ („Klub Krzywego Koła“). Er nahm also an dessen Versammlungen teil, einmal hielt er ein Referat über polnisch-jüdische Beziehungen zur Zeit der Besatzung, ein andermal über die Kollaboration mit den deutschen Okkupanten. Im Saal waren viele Zeitzeugen anwesend, darunter frühere hochrangige Heimatarmee-Offiziere, die sich ebenfalls an der Debatte beteiligten. 1962 erhielt Bartoszewski den Preis des „Krummen Rades“. Dortige Diskussionen bildeten den Ansporn für sein leidenschaftliches Sammeln von Berichten und Zeugnissen über die Rolle der Polen bei der Rettung von Juden. 1963 nahm er zunächst die Urkunde und bald danach die eigene Medaille des „Gerechten unter den Völkern der Welt“ in Empfang, verliehen vom Staat Israel an Personen, die es in der Besatzungszeit versucht haben, verfolgte und gemordete Juden zu retten. Diese große Würdigung – im Zusammenhang mit Bartoszewskis Tätigkeit während der Besatzungszeit in dem Hilferat für Juden – stärkte seine Position in Polen und im Ausland. Sie sicherte ihm auch gewissen Schutz vor Repressionen seitens der Staatsgewalt.

Der zweite Personenkreis, mit dem ihn gemeinsame Sprache und ähnliche Wertvorstellungen verbanden, war um das Krakauer Wochenblatt „Tygodnik Powszechny“ versammelt – eine katholische, aber weltoffene und geschichtsinteressierte Zeitschrift. Zu den Redakteuren gehörten ebenfalls Zöglinge des polnischen Staates der Vorkriegszeit, zum Teil mit Erfahrungen in den Reihen der Heimatarmee. Bartoszewski begegnete dort Menschen, mit denen er in weiteren Jahrzehnten eng befreundet bleiben wird – Stanisław Stomma, Stefan Kisielewski, Krzysztof Kozłowski und Mieczysław Pszon. Sie alle fühlten sich miteinander verbunden durch ähnliches Empfinden der polnischen Identität und der Staatsraison, ähnliches Verständnis der Rolle des deutsch-polnischen und polnisch-jüdischen Dialoges. In Debatten über Religion und Kirche engagierte sich Bartoszewski dagegen nicht. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Thematik der Besatzungszeit, der Heimatarmee, des Warschauer Aufstands, auf jüdische oder deutsche Kontexte. Lange Jahre führte er auch im „Tygodnik Powszechny“ die Rubrik „Verstorbene“, als Ausdruck des Abschieds von Menschen der Vorkriegsgeneration und des bewaffneten Untergrunds, von inzwischen vergessenen früheren Politikern, Journalisten oder Vertretern der Kultur.

Im Jahre 1967 ist die Anthologie „Der ist aus meiner Heimat“ (Ten jest z Ojczyzny mojej) erschienen, unter der Redaktion von Władysław Bartoszewski und Zofia Lewinówna, mit seiner umfangreichen Einführung. Es war das erste Buch, in dem methodisch die Frage der polnischen Hilfe für Juden während der deutschen Besatzung behandelt wurde. Die Publikation erhielt den Preis der Vereinigung ehemaliger Heimatarmeesoldaten in London. Diese Würdigung des polnischen Autors durch antikommunistische Exilkreise war damals außergewöhnlich und beispiellos, ihre Akzeptanz verlangte Mut und stellte eine positive Geste gegenüber den „Feinden der Volksrepublik“ dar.

Zu dieser Zeit, an der Schwelle der antizionistischen Hetze, entstand im polnischen Innenministerium eine Notiz, in der Bartoszewski als Staatsfeind und Antikommunist mit proisraelischen Ansichten beschrieben wird. Im Sommer 1968 stellte eine Agentin des Sicherheitsdienstes fest: „Er ist ein Mensch, dessen Kontakte eigentlich zu allen bekannten Personen der Kulturwelt in der Hauptstadt führen“. Man merkte auch an, dass sich Bartoszewski radikal in die Verteidigung von Zofia Lewinówna engagierte, der inzwischen die Entlassung aus dem Staatlichen Verlagsinstitut (Państwowy Instytut Wydawniczy, kurz: PIW) drohte.

Repressionen wurden aber keine eingesetzt. Warum? Einerseits waren die Sicherheitsbeamten (oft pathologische Antisemiten) von der Thematik der Unterstützung für Juden irritiert, andererseits war diese behilflich bei der Bekämpfung der von internationaler Presse erhobenen Vorwürfe der Gleichgültigkeit der Polen gegenüber dem Schicksal von Juden.  Das Buch kam also den Machthabern irgendwie „gelegen“ obwohl Bartoszewski selbst ihnen natürlich ganz fremd und als „Werkzeug“ bei verschiedenen Propagandaaktionen völlig ungeeignet war. Im Jahre 1970 verfasste der Leiter jener Abteilung, die im Innenministerium für die Überwachung von Oppositionellen verantwortlich war folgende Meinungsnotiz über Bartoszewski: „In den letzten 25 Jahren nutzt er konsequent jede Gelegenheit zur antikommunistischen Tätigkeit, ihre Formen und Methoden passt er der aktuellen politischen Lage im Lande an.“

In den 60er Jahren schrieb Bartoszewski auch für auflagenschwache, aber bedeutende Blätter wie „Polen“, manchmal für das populäre Magazin „Świat”, wie immer über den Aufstand im Warschauer Ghetto, den Hilferat für Juden oder über deutsche Kriegsverbrechen. Sein erstes Buch, „Wahrheit über von dem Bach“ (Prawda o von dem Bachu, 1962) war eine Stimme in der Debatte über die Verantwortung des berüchtigten Henkers des Warschauer Aufstands. Bartoszewski, mit seinen unübersehbar großen Kompetenzen, bahnte sich allmählich den Weg zur ersten Reihe der angesehenen Publizisten.

Trotz des mangelnden akademischen Ranges wurde er allgemein – auch in wissenschaftlichen Kreisen – als einer der kompetentesten Kenner der deutschen Besatzungszeit in Polen angesehen. Dies bezeugten seine Bücher: „Der Todesring um Warschau“ (Warszawski pierścień śmierci, polnische Auflage 1967), „Der ist aus meiner Heimat“ (zweite polnische Auflage 1969), „1859 Tage Warschaus“ (1859 dni Warszawy, polnische Erstauflage 1974) oder seine Arbeit bei der Redaktion des mehrere Bände umfassenden Werkes „Die Zivilbevölkerung im Warschauer Aufstand“ (Ludność cywilna w Powstaniu Warszawskim). Dazu kamen Hunderte von Artikeln, unter ihnen zum Beispiel das Studium „Die Untergrundpresse während der Besatzungszeit 1939-1945 und ihre Rolle im Leben der Gesellschaft“ (1980).

Zum direkten Kontakt mit zahlreichen Zuhörern ist Bartoszewski in der zweiten Hälfte der 70er Jahre übergegangen, im Rahmen öffentlicher Vorträge, die in stets wachsender Zahl von Pfarrhäusern abgehalten wurden. Zu seinen Vorlesungen über den polnischen Untergrundstaat der Besatzungszeit kamen hunderte Zuhörer, um die im offiziellen Umlauf verschwiegene Geschichte der Heimatarmee kennenzulernen oder aus dem Wissen und der Eloquenz des Referenten zu schöpfen. Das Publikum sehnte sich regelrecht nach positiven Traditionen als Gegengift zum verfallenden System des kommunistischen Staates und Bartoszewski spielte eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der Erinnerung an das Untergrundpolen, den Warschauer Aufstand und große Ideale aus der Zeit vor dem Kommunismus.

In seinen Vorträgen war er sprachgewandt, erzählte über wenig bekannte Dinge, scheute auch nicht vor bissigen Anspielungen an die Zensur oder an die Faktenverdrehung der Parteipropaganda. Von allen Vortragenden in solchen Pfarrhäusern oder Kirchensälen hätte wahrscheinlich nur einer – Stefan Kisielewski – mit Bartoszewski um die Popularität wetteifern können. Im Frühling 1978 begann Bartoszewski auch Vorträge für die Studenten der „illegalen“, von den Mitgliedern des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter gegründeten sog. „fliegenden Universität“ zu halten und schloss sich ihrer Dachorganisation, der Gesellschaft für Wissenschaftliche Kurse, an. Die halblegalen, in privaten Wohnungen abgehaltene Vorlesungen, erfreuten sich großer Popularität und beunruhigten zugleich sehr den Sicherheitsdienst. In den Archiven sind zahlreiche Meldungen der Agenten erhalten geblieben, mit Informationen über die von Bartoszewski angesprochenen Themen und mit Versuchen, Namen der Zuhörer festzustellen. Letztendlich, im Herbst 1979 unterbrach die Miliz eine Vorlesung über den polnischen Untergrundstaat, die ein neues Studienjahr eröffnen sollte. Gegen Bartoszewski wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet und er bekam eine Geldstrafe.

Bartoszewski entwickelte eine eigene Methode der historischen Beschreibung. Er konzentrierte sich ausschließlich auf Fakten und Details, war sehr konkret und präzise, gab seinen Ausführungen gern die Form einer Chronik (wie das berühmte Buch „1859 Tage Warschaus“), vermied Verallgemeinerungen, Urteilsstellungen und Synthesen. Diese Methode entwickelte er im Kampf gegen die Zensur, für die es einfacher war, allgemeine Urteile oder Meinungen zu streichen, als nackte Tatsachen anzugreifen. Trotzdem konnten damalige Leser, die lange Texte und dicke Bücher nicht scheuten, aus all diesen Fakten eigenen Sinn und Urteile ziehen.

Auf diese Art rettete Bartoszewski, beginnend im Jahr 1946 (mit seinem Zyklus der Chroniken des Warschauer Aufstands in der „Volkszeitung“), Menschen, Ereignisse, Namen von Organisationen und Zeitschriftentitel vor dem Vergessen, zeigte die Kraft der Erlebnisse und stärkte die Erinnerung an literarische Initiativen. Auf gleiche Weise schrieb er über deutsche Gräueltaten, deutete auf konkrete Ereignisse hin und rekonstruierte Namen von tausenden Hinrichtungsopfern, oft mit zusätzlichen Angaben zum Rang des Hingerichteten im öffentlichen, politischen oder kulturellen Leben Polens. Nach diesem Muster ist das Buch „Der Todesring um Warschau“ entstanden. Das dort dargestellte Bild machte einen enormen Eindruck, nicht nur auf Polen, sondern auch auf Deutsche (das Buch wurde auch in deutscher Übersetzung herausgegeben).

Eigene Kontakte mit Deutschen unterhielt er seit 1963, zuerst im Zusammenhang mit seinen Zeugenaussagen – u.a. vor der deutschen Staatsanwaltschaft – über deutsche Kriegsverbrechen. Das waren die Anfänge, allerdings bei dieser Perspektive wollte er es nicht belassen. Er vertrat den Standpunkt: Verbrechen dürfen nicht in Vergessenheit geraten, die Schuldigen sollen bestraft werden, doch mit der Verantwortung darf man nicht nachfolgende Generationen belasten. Deutsche und Polen werden nebeneinander leben, man sollte also an die Zukunft denken und die Versöhnung beider Völker anstreben. Auf deutscher Seite fand er Gleichgesinnte, mit denen er einen Dialog aufnehmen konnte, mit allmählich wachsenden Erfolgen, in den nach und nach politisch bedeutende Personen aus der Bundesrepublik Deutschland und auch junge Menschen einbezogen werden konnten.

Andere Intellektuelle der sog. Znak-Bewegung (Polnisch: Zeichen), unter ihnen Stanisław Stomma und Tadeusz Mazowiecki, teilten seinen Standpunkt und nahmen ebenfalls an Kontakten mit Deutschen teil, u.a. im Rahmen der Auschwitz-Seminare, die nach 1970 einige Jahre lang zum Treffpunkt für Geistliche und katholische Laien aus beiden Ländern wurden, bis sie die polnische Politspitze 1977 endgültig untersagte. Abschließender Akzent dieser Etappe war die Teilnahme Bartoszewskis im September 1977 an der öffentlichen Debatte in Köln „Intellektuelle und Politik. Menschenrechte“ zusammen mit Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Leszek Kołakowski und Zdeněk Mlynář. Danach haben die polnischen Machthaber Bartoszewski für einige Jahre den Reisepass entzogen.

Offene und geheime Opposition

Im Jahre 1963, während seiner ersten Auslandsreise in den Westen, nach Israel und nach Österreich, schickte er eine Postkarte an seinen früheren Vorgesetzten im Informations- und Propagandabüro der Heimatarmee, Tadeusz Żenczykowski, inzwischen stellvertretenden Leiter der polnischen Redaktion von Radio Freies Europa. Żenczykowski reagierte sofort und es kam zu einem Treffen der beiden Herren in Wien. Zwei erfahrene Konspirationsteilnehmer setzten die Regeln für zukünftige Kontakte fest. Im Verlauf der weiteren Jahre schickte Bartoszewski auf vereinbarte Weise seine schriftlich verfassten Berichte an die Senderedaktion, danach wurden sie für Millionen Zuhörer in Polen ausgestrahlt. Er informierte über Repressionsmaßnahmen der Regierung (darunter politische Prozesse), über Konflikte der Partei mit verschiedenen Berufskreisen, über Eingriffe der Zensur.

Diese Tätigkeit sorgte einerseits dafür, dass gewisse Unrechtmäßigkeiten und Repressionen der Politspitze nicht verschwiegen werden konnten, andererseits war sie extrem riskant und mit der Gefahr von langjähriger Gefängnisstrafe verbunden. Eine damals unternommene Ermittlung der Staatssicherheit führte zur Verhaftung einiger Mitarbeiter von Bartoszewski und zur 24-stündigen Hausdurchsuchung in seiner Wohnung am 1. Oktober 1970. Die Sicherheitsbeamten beschlagnahmten mehrere hundert Kilogramm Bücher, Manuskripte und Dokumente, dennoch wurde keine Spur seiner Zusammenarbeit mit Radio Freies Europa gefunden. Der Erfahrungen aus der Zeit der Kriegskonspiration zeigten noch einmal ihren unschätzbaren Wert. Trotz mangelnder Beweise blieben die Ermittler von seiner Schuld überzeugt. Bartoszewski wurde ein vierjähriges Druckverbot auferlegt – natürlich auch ein Verbot von Auslandsreisen – und die Ermittlung ging weiter. Letztendlich wurde sie 1974 eingestellt. Diese Geschichte erklärt auch lebenslange enge Beziehung Bartoszewskis mit Tadeusz Żenczykowski und dem Leiter der polnischen Abteilung von Radio Freies Europa, Jan Nowak-Jeziorański.

In den 70er Jahren engagierte sich Bartoszewski in die Kontakte mit der entstehenden polnischen Opposition. Formell bekleidete er eine verhältnismäßig hohe Position als Vorsitzender des Polnischen PEN-Zentrums und Vortragender der Katholischen Universität Lublin. 1974 unterschrieb er – zusammen mit einigen anderen prominenten Bürgern – einen offenen Brief an die Regierung der Volksrepublik mit einer Petition für die Freilassung der seit 1970 inhaftierten Anführer der Untergrundgruppe „Ruch“. In den Jahren 1974-1975 traf er sich mit sog. „Elitesoldaten“ („Komandosi“), den Veteranen der Studentenbewegung von 1968, um ihnen über die Heimatarmee, den Warschauer Aufstand und die Bauernpartei zu erzählen. Im Dezember 1976 unterschrieb er den sog. „Brief der Achtzehn“ („List 18“) gegen die Einführung des Eintrags über die Brüderschaft mit der Sowjetunion in die Verfassung der Volksrepublik Polen. In direkte und öffentliche oppositionelle Tätigkeit engagierte er sich als „Schirmherr“, gleichzeitig aber war ihm seine Position als unabhängiger Historiker und Vortragender wichtig.

Eine weitere Ebene seiner Aktivität bildeten schon erwähnte Vorlesungen im Rahmen der Gesellschaft für Wissenschaftliche Kurse und die Aufnahme der Zusammenarbeit mit der illegalen Polnischen Unabhängigkeitsverständigung (Polskie Porozumienie Niepodległościowe, kurz: PPN) unter der Leitung von Zdzisław Najder (Literaturwissenschaftler, Oppositioneller, in den Jahren 1982-1987 Leiter der polnischen Redaktion von Radio Freies Europa, Anm. d. Red.). Dort gehörte er zum Autorenkreis von Analysen über notwendige deutsch-polnische Verständigung als Bedingung für eine zukünftige Annäherung Polens an das sich vereinigende Europa.

Diese Schrift bildete einen Auseinandersetzungsversuch mit der zukünftigen Perspektive der Beziehungen zwischen zwei Völkern und Staaten. Sie enthält den – damals revolutionären – Satz: „Die Polen könnten anerkennen, dass deutsche Vereinigung im polnischen Interesse liegt“. Die Anerkennung der deutschen Einheit war ein Umbruch – nicht nur in Hinsicht auf die internationale Lage, sondern auch im Denken der Polen selbst, die damals das geteilte Deutschland als schwächer – also weniger gefährlich – betrachteten. Dieser in jener Schrift publizierte Gedanke stellte wohl die erste derart klar formulierte Deklaration der Oppositionsbewegung dar.

Die Vereinigung Deutschlands sollte aber – das soll hier betont werden – unter zwei Bedingungen erfolgen: der vollen Anerkennung der polnischen Westgrenze und der grundsätzlichen Integrierung Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft. Diese fundamentalen Bedingungen brachte die Polnische Unabhängigkeitsverständigung PPN im Mai 1978 zum Ausdruck.  Nach Jahren, zum Umbruch von 1989/1990, sind sie zu offiziellen Postulaten der Regierung von Tadeusz Mazowiecki geworden.

Damals unterschrieb Bartoszewski zahlreiche Erklärungen und Briefe zur Verteidigung von Arbeitern und Oppositionsmitgliedern, die Repressionen ausgesetzt waren, oder Appelle für friedliche Lösung von Konflikten während der Streiks an der Ostseeküste und in der Zeit von „Solidarność“. Er sollte auch Mitglied in dem am 12. Dezember 1981 gegründeten (von der Parteipropaganda als „Kontra-Regierung“ bezeichneten) Öffentlichen Rat für Nationale Wirtschaft (Społeczna Rada Gospodarki Narodowej) werden. Am 13. Dezember wurde er verhaftet und interniert.

Der Westen

Seine Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte Bartoszewski vor allem in den 80er Jahren, nachdem er aus dem Internierungslager freigelassen worden war und eine Ausreiseerlaubnis bekommen hatte. Am Anfang stand im Jahre 1983 die Verleihung des Herder-Preises in Wien und die Publikation von zwei bescheidenen Büchern – über das Warschauer Ghetto (mit einem Vorwort von Stanislaw Lem) und der Erinnerungen „Herbst der Hoffnungen“ (in Polen besser unter dem Titel „Es lohnt sich anständig zu sein“, Warto być przyzwoitym, bekannt). Das zweite Büchlein erschien mit einem Nachwort von Reinhold Lehmann, Generalsekretär von Pax Christi und wichtige Gestalt in der Öffentlichkeit der BRD.

Zur selben Zeit wurde Bartoszewski in Deutschland allmählich zum breit bekannten Zeitzeugen der schrecklichen Besatzungszeit, ihrem Erforscher und zugleich Vertreter des freien Polens, das zwar von Generälen unterjocht wurde, aber immer noch „lebte“, existierte und Hoffnung für die Zukunft gab.

Bartoszewski erklärte die polnische Geschichte den Zuhörern in Wien, München, Augsburg, Hamburg und in vielen anderen Städten, er nahm an Radio- und Fernsehsendungen teil. Meiner Meinung nach – was natürlich durch irgendwelche Nachforschungen überprüft werden könnte – war dies die größte Dosis von Wissen über den Krieg in Polen, den die Deutschen in den 80er Jahren erhalten haben. Man hörte ihm zu, weil es in seinen Worten keinen Hass gab, keine Vorurteile, sondern nur die Darstellung damaliger Geschehnisse und die Bestätigung unserer Erinnerung. Die Opfer leben unter uns – sagte er den Deutschen – und ihr dürft nicht vergessen. Wenn wir miteinander ernsthaft reden sollen, müssen wir gemeinsam daran erinnern. Seine Art zu sprechen, verstärkt durch seine persönliche Erfahrung als Häftling im KZ Auschwitz, im stalinistischen Gefängnis und im Internierungslager von Jaruzelski, sorgte dafür, dass er gehört wurde. Die Krönung dieser Etappe war 1986 die Verleihung des prestigevollen Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Bartoszewski und regelmäßige Vorlesungen für deutsche Studenten an der Universität München, Augsburg und an der katholischen Universität Eichstätt.

Auf der Basis vieler Gespräche mit ihm in den 80er Jahren kann ich die damaligen ideologischen und politischen Anschauungen von Bartoszewski folgendermaßen rekonstruieren: Für die negativen Schlüsselerfahrungen des 20. Jahrhunderts hielt er den Nationalsozialismus von Hitler und den Kommunismus von Stalin, zwei totalitäre Gewaltideologien. Nationalsozialismus in Deutschland konnte überwunden werden, die Demokratie schlug Wurzeln – damit entstand auch die Ebene für Dialog, Zusammenarbeit und Annäherung. Sowjetischer Kommunismus war aber nach wie vor eine imperialistische Struktur, totalitär in seinen Ambitionen und mit dem abhängigen, freiheitsberaubten Polen in seinem Bann.

Die Sowjetunion und der Kommunismus als ihr Werkzeug waren also weiterhin Feinde. Als Feind waren sie derart stark, dass der Widerstand besondere Strategien verlangte: evolutionäre, verständliche und für potenzielle Alliierte im Westen, die von den polnischen Bestrebungen überzeugt werden sollten, akzeptable Strategien. Die polnische Staatsraison war dieselbe wie 1945: Wiedererlangung der Unabhängigkeit und der demokratischen Ordnung. Alles, was zu diesem Ziel führte, sollte unterstützt werden – beginnend mit der Herausbildung einer authentischen, nichtkommunistischen Identität, bis zu verschiedenen Initiativen des unabhängigen politischen Gedankens und realer Wirkung großer Gesellschaftsgruppen (daher die Unterstützung für „Solidarność”).

Bei all dem war Bartoszewski kein Radikaler, er ließ sich nicht für laute Aktionen ohne dauerhafte Ergebnisse begeistern. Für wichtig und unterstützungswert hielt er langfristig angelegte Arbeit – illegales Verlagswesen, unabhängige Bildung, Hilfe für Inhaftierte, Stärkung von sozialen Netzwerken auf verschiedenen Ebenen. Wichtig war für ihn auch das Zusammenwirken in diesem Geiste mit der Kirche und die Nutzung ihres Potenzials. Gut verständigen konnte er sich mit den Strategen von „Solidarność” – Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek. Allerdings vertrat er eine unterschiedliche Sicht auf die Möglichkeit der schnelleren Veränderungen und blieb skeptisch in Bezug auf die Chancen der Verständigung mit Kommunisten. Auf den Runden Tisch blickte er zunächst distanziert und wohl ohne große Überzeugung. Der Spitze der Arbeiterpartei traute er nicht, betrachtete sie eher als unfähig, sich an die Abmachungen zu halten. Als er aber doch merkte, dass dauerhafte Umwälzungen im Gange waren, engagierte er sich sofort und stellte sich Premierminister Mazowiecki zur Verfügung.

Im freien Polen scheute er Parteiaffiliationen, konzentrierte sich auf Fragen der Außenpolitik, vor allem des Dialogs mit Deutschland, der ja an sich allein wichtig war, aber zugleich auch für Polen den Weg in das vereinigte Europa darstellte. In diesem Europa sah er die Garantie für die Sicherheit Polens gegenüber möglichen Veränderungen internationaler Konjunktur. Zweimal bekleidete er das Amt des Außenministers. Er dachte immer in Kategorien der Staatsraison und genau das sorgte für Kritik auf der Seite von Menschen, die maßlos damit beschäftigt waren, interne Konflikte zu schüren.

In den letzten Jahren sah er sich zunehmend im Konflikt mit der rechten Seite der politischen Szene und wurde sogar noch nach dem Tod angegriffen. Gründe dafür gab es viele. Seit dem Krieg akzeptierte er keinen Nationalismus, keine aggressive Demagogie, keine Unklarheiten in der Beurteilung des Faschismus, keine antisemitischen Tendenzen und keine Lügen. In der Politik sah er die Sorge um das Gemeinwohl, die Fähigkeit einen Dialog zu führen, Allianzen zu bauen und konkrete Ziele zu erreichen, die dem Staat und seinen Institutionen dienen. Auf der Rechten aber verdichtete sich in der Zwischenzeit die Atmosphäre von Anschuldigungen, Abrechnungen, Aufwühlung und Demagogie oder Tendenzen, die Geschichte und nationale Erinnerung zu manipulieren, mit Autoritäten zu kämpfen und in Verschwörungsmythen zu flüchten. Diese Eigenschaften der besonderen Parteimobilisierung zerstörten die politische Kultur und wirkten sich negativ auf das Ansehen Polens im Ausland aus – waren also gegen die Staatsraison.

Das an Erfahrungen und verschiedenen Arbeiten reiche Leben von Władysław Bartoszewski besteht aus bestimmten Etappen und Leitfäden, jeder davon ist einer näheren Analyse würdig. Das erste Kapitel bildet sein Engagement während der Besatzungszeit in einigen wichtigen Bereichen, ergänzt durch seine Tätigkeit in der Nachkriegszeit und die sechsjährige Haftperiode. Kapitel Zwei umfasst die breitangelegte wissenschaftliche Aktivität auf dem Gebiet der Dokumentation der Besatzungszeit und des Warschauer Aufstands, der Schilderung der Tragödie der Juden und ihrer Rettungsversuche durch den polnischen Untergrundstaat. All dies kommt in zahlreichen Artikeln und Büchern zum Ausdruck. Drittes Kapitel, parallel zum zweiten, bezieht sich auf seine eigens entwickelte Widerstandmethode im Kampf gegen die Diktatur der kommunistischen Arbeiterpartei, sowohl in der Öffentlichkeit als auch konspirativ. Eine weitere Plattform und ein weiterer Arbeitsbereich ist seine Teilnahme im deutsch-polnischen Dialog, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Und schließlich steht das letzte Kapitel im Zusammenhang mit den Quellen und Methoden der Hasshetze gegen Bartoszewski im gegenwärtigen Polen. Seine Biografie beinhaltet auf jeden Fall genug Material für ein paar Bücher über verschiedene Themen der Geschichte Polens der letzten 75 Jahre.

 

 Dieser Text basiert auf dem Artikel in „Więź”, Nr. 2 – Sommer 2015


Der Text entstand im Rahmen des Symposiums „Brücken bauen“ (November 2020), organisiert von der Bartoszewski-Initiative und der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Berlin in Kooperation mit der Europa-Universität ViadrinaKardinal-Stefan-Wyszyński-Universität WarschauKarl-Dedecius-Stiftung, dem Pan-Tadeusz-Museum, Fundacja Służby Rzeczypospolitej, dem Pilecki-Institut unter finanzieller Unterstützung durch das BKM und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

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Andrzej Friszke

Andrzej Friszke

Historiker und Dozent. Er ist spezialisiert auf die Geschichte des kommunistischen Polens und die demokratische Opposition gegen das kommunistische Regime. Friszke absolvierte 1979 das Institut für Geschichte der Universität Warschau.

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