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Vilnius. Eine Hauptstadt vieler Nationen

Vilnius feiert dieses Jahr sein 700-jähriges Bestehen. Die Stadt wurde erstmals 1323 in einem Brief des Großfürsten Gediminas an Papst Johannes XXII erwähnt. Wahrscheinlich gab es dort schon früher eine Siedlung, dennoch gilt sein Brief als erste geschichtliche Quelle. Auf diese Weise wurde der Fürst zum Gründer von Vilnius, was sich in seiner Präsenz im Stadtbild widerspiegelt. Es gibt ein Gediminas-Denkmal im Zentrum der Stadt, er wurde zum Namensgeber für eine der Hauptverkehrsadern. Der Großfürst Gediminas spielt nicht nur für Litauen eine besondere Rolle, sondern für die gesamte Region Mittel-Osteuropas. Er begründete die Gediminiden-Dynastie, von der die Jagiellonen abstammten – eine der größten Dynastien des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas. Die Jagiellonen waren von grundlegender Bedeutung für die historischen und kulturellen Prozesse im mittelöstlichen Teil des Kontinents. Sie bauten jenen Staat auf, von dessen romantischen Darstellung sich viele Menschen bis heute hinreißen lassen. Einer der wichtigsten Gründungsmythen des Jagiellonen-Staates ist seine Multikulturalität. Polen-Litauen (die erste Rzeczpospolita) wird manchmal als ein „Land ohne Scheiterhaufen“ bezeichnet. Ein mythischer Landstrich, wo Menschen verschiedener Nationalitäten, Konfessionen, ethnischer oder kultureller Zugehörigkeit im Einvernehmen und Wohlstand gelebt haben sollen. Polen-Litauen war ein Staat nicht nur zwei, sondern mehrerer Nationen, was heute häufig hervorgehoben wird.

Eine der wichtigsten Städte in Polen-Litauen war eindeutig Vilnius, das als Symbol jener Multikulturalität galt. Das 19. Jahrhundert trug maßgeblich zur Nationalitätenbildung und zur Entstehung anderer Formen kollektiver Identitäten bei, doch als Teil des Russischen Kaiserreiches verlor Vilnius ein Stück weit seine Bedeutung. Die multiethnische und multikonfessionelle Bevölkerung brachte faszinierende Impulse hervor, die eine Art Kulturlabor in der Stadt entstehen ließen. Die voranschreitende Urbanisierung verstärkte die Entwicklung der städtischen Multikulturalität. Im Kaiserreich gab es mehrere verschiedene Städte. Die Einzigartigkeit von Vilnius lag darin, dass es, im Gegensatz zu anderen ähnlichen Städten, keine lokale Identität basierend auf der Homogenität seiner Einwohner entwickelt hatte. Im Gegenteil, Vilnius blieb nach wie vor ein Bezugspunkt für viele Kulturen und Nationen als ihre Geburtsstätte und historische Hauptstadt. Städte wie Baku, Lodz oder Odessa schufen die transnationale Identitätsgemeinschaft ihrer Bürger, also der Einwohner von Baku, Lodzermenschen oder Odessiten. Vilnius wurde indessen zum Verwahrer des Kulturerbes von Belarusen, Litauern und Polen. Für die zahlreichen Litwaki (litauische Juden) war die Stadt das Jerusalem des Nordens. Der Bezug auf die historische Hauptstadt der alten Israels in einer Zeit, als es keinen jüdischen Staat gab, war nicht zufällig. Deutliche Spuren in der Stadt hinterließen außerdem die Tataren und Karäer; schließlich geht es hierbei um eine – im Hinblick auf die damalige politische Situation – russische Stadt.

Das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 markierte den Wendepunkt in der Geschichte der Stadt. Eigentlich ist das eine formelle Zäsur, da fast das ganze 20. Jahrhundert eine äußerst turbulente Zeit für die Stadt war. Vilnius wurde zum Schauplatz der litauisch-polnischen Rivalität um die Vormachtstellung in der Region und die Kontrolle über das ganze Vilnius-Gebiet. Für beide Staaten, die ihre Unabhängigkeit etablieren wollten, waren die Ansprüche an Vilnius verständlich. Für die Litauer war dies die vom litauischen Großfürsten gegründete Stadt sowie die Hauptstadt des Großfürstentums Litauen – eines Staates, zu dessen Nachfolger das junge Litauen wurde. Für die Polen war Vilnius die Stadt mit der überwiegend polnischsprachigen Bevölkerung, welche sich mit dem Polentum identifizierte (laut des polnischen Narrativs), eine der wichtigsten Städte der Rzeczpospolita mit den herausragenden akademischen, kulturellen und politischen Zentren. Darüber hinaus war Vilnius für beide Nationen die Stadt ihrer führenden Kulturschaffenden. Interessanterweise betrafen die Narrationen nicht selten dieselben Personen, wie zum Beispiel Adam Mickiewicz. Die Polen halten ihn für einen polnischen Nationaldichter, die Litauer für einen litauischen. Gleichzeitig sollte darauf hingewiesen werden, dass selbst der sich neuformierende belarusische Staat in Vilnius den idealen Kandidaten für seine Hauptstadt gesehen hatte. Die Belarusen betrachteten (und betrachten bis heute) das Erbe des Großfürstentums Litauen als ein Grundstein ihrer nationalen Identität und halten das Fürstentum für ein historisches belarusisches Staatswesen.

Ein solches Zusammentreffen von politisch-kulturellen Forderungen muss Vorbote eines heranziehenden Sturmes gewesen sein. Dieser kam dann 1918, kurz nachdem die Waffen des Ersten Weltkrieges verstummten und die deutschen Truppen, die Vilnius seit 1915 besetzt hielten, die Stadt verließen. Litauisch-polnische Kämpfe brachen aus. Die Bolschewiki versöhnten die Konfliktparteien schnell, allerdings nur für kurze Zeit. Sie besetzten die Stadt Anfang 1919. Für die nächsten zwei Jahre gehörte die Stadt abwechselnd den Bolschewiken, den Litauern und den Polen. Die beiden ersten schufen strategischen Allianzen. Schlussendlich behielt Polen die Macht in der Stadt, indem es Vilnius mit List und Tücke im Oktober 1920 besetzte. Das Täuschungsmanöver von Józef Piłsudski ging in die Geschichte als die „Żeligowski-Meuterei“ ein, weil der Marschall (Piłsudski) eben diesem General Lucjan Żeligowski die Besetzung der Stadt befiehl. Diese Aktion hatte den Anschein, als ob der General den Gehorsam verweigert hätte; das ermöglichte Piłsudski, die eigene Beteiligung zu bestreiten. Ein marionettenhaftes Gebilde namens Republik Mittellitauen entstand, die 1922 in die Zweite Polnische Republik eingegliedert wurde. Dieser Status quo blieb in Vilnius bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erhalten. Während der gesamten Zwischenkriegszeit fanden sich die Litauer mit dem Verlust der Stadt nicht ab, sogar in deren Verfassungen von 1928 und 1938 wurde Vilnius als Hauptstadt aufgeführt. Die eigentliche Hauptstadt in Kaunas galt als provisorisch.

Die Turbulenzen nach dem Ersten Weltkrieg spiegelten sowohl die politische als auch die identitätsbezogene Dimension der Ereignisse wider. Viele Einwohner von Vilnius und dem ganzen Gebiet mussten nun die Frage beantworten: Wer bin ich? Manche wurden zum ersten Mal damit konfrontiert. Obwohl die Nationalitätenfrage im 19. Jahrhundert sicherlich eine extrem wichtige Rolle spielte, bedeutete das Nichtvorhandensein von Nationalstaaten jedoch nicht, die Frage sei vorentschieden und somit eindeutig zu beantworten. Vilnius Einwohner als Untertanen des russischen Zaren konnten ihre verschiedenen Identitäten ausleben und bewahren. Der politische Konflikt von 1918 stellte sie vor allem vor einer fast manichäischen Frage: Sind wir Litauer oder sind wir Polen? Es schien, als ob die Sprache helfen könnte, das Problem zu lösen. Trotzdem war es nicht immer so: Ein gutes Beispiel dafür wäre Mykolas Römeris. Dieser polnischsprachige Jurist und Politiker entschied sich schlussendlich für die litauische Identität. Interessanterweise deutet sein Nachname auf eine deutsche Abstammung. Römeris stammte tatsächlich aus einer baltendeutschen, in Teilen polonisierten Familie, was ihn näher an Polen heranbrachte. Seine Tagebücher, die er in dieser stürmischen Phase schrieb, zeugen von der Schwierigkeit, eine Wahl zu treffen. Für ihn schlossen sich die litauische und die polnische Identität lange Zeit nicht aus, nur zwangen ihn die damaligen Umstände dazu, sich für eine davon zu entscheiden. In eine solche Zwangslage gerieten viele Familien. Nicht selten sprach sich ein Teil der jeweiligen Familie für Litauen und der andere Teil für Polen aus. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür war die Familie Miłosz: der berühmte polnische Dichter und Schriftsteller Czesław Miłosz wählte die polnische Identität und sein Verwandter Oskar die litauische.

Die Dichotomie derartiger Entscheidungen war umso schwieriger für Menschen mit einer bestimmten ethnischen, kulturellen oder religiösen Herkunft. Viele Belarusen, Tataren beziehungsweise Juden konnten sich in dieser Einteilung nicht wiederfinden. Manche wurden von den Bolschewiki mit ihrem internationalistischen Narrativ vereinnahmt, etliche versuchten ihre eigene Identität zu bewahren, andere wiederum gaben dem Druck nach und plädierten für eine der beiden vorhandenen Optionen. Viele von ihnen waren überdies Schikanen und Verfolgungen seitens der Litauer oder Polen ausgesetzt, was einen hässlichen Schatten auf dem schönen, romantischen Bild der multikulturellen Stadt Vilnius warf.

Der Zweite Weltkrieg markierte ein weiteres dramatisches Kapitel in der Geschichte der Stadt. Im September 1939 besetzten die Sowjets Vilnius. Zuerst übergaben sie die Stadt an Litauen, doch nach einem halben Jahr entschied sich Moskau, diese direkt in die UdSSR einzugliedern. Der erneute Machtwechsel kam 1941, als die nach Osten vorpreschenden deutschen Streitkräfte die Stadt eroberten und bis 1944 besetzten. Während der deutschen Besatzung kam es zur Vernichtung fast der gesamten jüdischen Bevölkerung. Nachdem die Rote Armee, unterstützt von der Polnischen Heimatarmee, die Stadt eroberte, wurde Vilnius zur Hauptstadt der neugegründeten Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen. Die voranschreitende Sowjetisierung führte zu allmählichem Verlust der Einzigartigkeit dieser Stadt, dabei wurde sie im Rahmen der sowjetischen Gleichschaltung den anderen Städten der UdSSR angeglichen. Die letzte grundlegende Änderung erfolgte in den Jahren 1990-1991, als infolge des Zerfalls der UdSSR fünfzehn unabhängige Staaten entstanden. Einer davon war Litauen mit Vilnius als Hauptstadt.

In den letzten drei Jahrzehnten erlebte die Stadt enorme Veränderungen auf vielen Ebenen, unter anderem auf dem Gebiet der Identität und Erinnerung. Das Stadtbild wird verständlicherweise durch die litauische Optik dominiert, das Litauische schwingt mit in den Galerien, Museen, Denkmälern, Straßen- und Platznamen sowie öffentlichen Gebäuden, aber auch während der Veranstaltungen an Nationalfeiertagen. Zudem gibt es viele Initiativen und Organisationen, welche die komplexe und vielschichtige Vergangenheit der Stadt allgemein verbreiten. Dort gibt es Platz für die Erinnerung an die belarusische, polnische, jüdische oder tatarische Kultur, die polnische Community ist immer noch lebendig, das belarusische und jüdische Leben erwacht wieder. Sichtbar sind insbesondere die Belarusen, die nach den Protesten 2020 zahlreich ihre Heimat verließen. Viele haben sich in Vilnius niedergelassen, wodurch sie die Stadt zu ihrer inoffiziellen Hauptstadt machten. Andererseits ist es in einem gewissen Sinne offiziell, weil Vilnius zum Sitz des belarusischen Vereinigten Übergangskabinetts, also der belarusischen Exilregierung wurde.

Vilnius ist wahrlich eine der wichtigsten Städte für die Geschichte Mitttelosteuropas und jene Geschichte fokussiert die Probleme und Herausforderungen, mit denen diese Region seit Jahrhunderten zu kämpfen hatte. Die Vielfalt an neuen Initiativen gibt eine gewisse Hoffnung auf die harmonische Koexistenz unterschiedlicher Gruppen unter einem gemeinsamen Dach. Die Zeit wird zeigen, ob ein solches Zukunftslabor eine Lösung auf breiterer Ebene sein könnte.

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Kacper Dziekan

Kacper Dziekan

Historiker und Osteuropaexperte. Im Europäischen Solidarność-Zentrum in Danzig arbeitet er an Bildungs-, Kultur-, Sozial-, Geschichts- und Bürgerprojekten, insbesondere mit Bezug postsowjetischen Ländern und Mittel- und Osteuropa.

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