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Die humorvolle Dichterin

Über die große polnische Dichterin, Wisława Szymborska, wird behauptet, dass sie sehr zurückhaltend gewesen sei. Bekannt ist ihre panische Reaktion auf die Nachricht vom Nobelpreis – sie sprach immer von der „Nobelpreistragödie“. Fast alle offiziellen Auftritte mussten damals abgesagt werden, denn Szymborska hatte Angst, vor großem Publikum aufzutreten.

Mit dem Nobelpreis hat die Welt an die Tür der Dichterin geklopft und gesagt, hier bin ich, du wirst jetzt gesehen, du kannst dich nicht mehr in Krakau in deiner „Schublade“ (wie sie ihre kleine Wohnung nannte) verstecken! Komm heraus! Und genau das wollte sie nicht. Die Erinnerungen ihres langjährigen Sekretärs Michał Rusinek sind hierzu ambivalent:

„Schnell zum Lachen zu bringen. Exzentrisch, kichernd, manchmal frivol, verliebt in Wortspiele und Streiche. Gespräche mit normalen Menschen Dichtertagungen und Diskussionen mit Intellektuellen vorziehend. Stimmt nicht. Depressiv. Melancholisch. Streng in den Urteilen über sich selbst und andere. Eine Perfektionistin, die es hasste, über Belanglosigkeiten zu reden und Zeit damit zu verschwenden, Leute zu treffen, die ihr nichts, als wie sie es nannte leere Kalorien bescherten. Stimmt auch nicht. Sowohl das eine als auch das andere. Stimmt. Sie hatte einen unglaublichen Sinn für Humor, aber immer im Zweierpack mit Ernsthaftigkeit. Es waren zwei Seiten derselben Medaille. Der Fehler derjenigen, die über sie schreiben, bestand darin, nur eine Seite von ihr zu zeigen, meistens die lustige“. Wie war sie also?

Diese Frage kann man sicherlich auch heute nicht beantworten, aber dennoch ein Versuch unternommen werden, die Gestalt der großartigen Dichterin etwas näher zu bringen, sie lebendig zu machen. Im Gedicht Im Gewimmel stellt sie sich selber vor:

Ich bin, wer ich bin. /

Ein Zufall, unbegreiflich /

wie jeder Zufall.

Und das Gedicht endet:

Ich hätte ich selbst sein können – doch ohne Staunen, /

und das würde bedeuten, /

jemand ganz anderer.

Schreiben ist immer ein Dialog mit der Welt, eine Reaktion auf das Erfahrene, Gehörte, Gelesene, Erlebte. Das „Staunen“ war eines ihrer Attribute, was sie besonders betont hat. Und in ihrer Nobelpreisrede unterstrich sie das „Nicht-Wissen“. Aus dem Staunen und dem Nicht-Wissen ist ihre Poetik erwachsen.

Aber ihr Staunen hat zwei Seiten. Wenn man staunt, wird alles zum Phänomen. Und für Szymborska war es wichtig, das Staunen ihr ganzes Leben lang zu behalten. Aus dem Beobachten des vermeintlich Unbedeutenden, des Gewöhnlichen, bezog sie ihr unentwegtes Staunen. Sie selbst sagte dazu einmal: „Ich vertrete oft eine relativistische Haltung, die ultimative Wahrheiten und absolute Ansprüche mit Distanz betrachtet. Ich betrachte gerne Pflanzen, Tiere und Menschen und entdecke dabei auf Schritt und Tritt die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz.“ In einem Buch des Schauspielers und Schrifttellers Joachim Meyerhoff fand ich einen interessanten Gedanken seines Großvaters, der ein Philosoph war: „Die Welt anzustaunen ist eine friedliche, gar kindliche Angelegenheit. Aber es ist auch furchtbar hilflos. Die Teilhabe ist dadurch eingeschränkt. Durch die Perfektionierung des Blickes auf die Welt droht einem, dass man sich selbst daraus ausschließt. Teilhabe bedeutet, ein Teil dieser Welt zu sein.“

Teil welcher Welt war Wisława Szymborska?

Szymborskas Vater, Wincenty Szymborski, war Gutsverwalter des Grafen Zamoyski, dem vor dem Zweiten Weltkrieg Zakopane gehörte und außerdem auch Kórnik, das in der Nähe von Poznań liegt – ein Ort mit einem wunderbaren Schloss und einem Park, der als botanischer Garten angelegt war. Wisławas Mutter hieß Anna Rottermund und war viel jünger als ihr Vater. Wisława war das zweite Kind, sie hatte eine sechs Jahre ältere Schwester names Nawoja. Nach dem Tod des Grafen Zamoyski im Jahr 1924 wurde die Lebenssituation des Vaters unsicher. Der Besitz des Grafen wurde in eine Stiftung umgewandelt, leider wurde nicht der Vater, sondern jemand anderer Vorsitzender. Die Rente wurde dem Vater Wincenty unregelmäßig ausgezahlt, das hatte natürlich einen entscheidenden Einfluss auf das Leben der Familie, der es in den guten Zeiten an nichts gefehlt hatte. Als Wincenty Szymborski, der Jahrzehnte lang dem Grafen Zamoyski treue Dienste geleistet hatte, 1936 die Nachricht bekam, dass die Kórnik-Stiftung seine Rente nicht mehr zahlen würde, versagte sein Herz. Szymborskas Mutter Anna führte einen jahrelangen Rechtsstreit mit der Kórnik-Stiftung, den sie erst nach dem Krieg, 1945 gewann. Zum Glück hatte Wincenty Immobilien in Thorn erworben, die der Familie ein Auskommen nach dem Tod des Grafen ermöglichte. 1931 zog die Familie noch einmal um, und zwar nach Krakau. Dort ging Wisława auch zur Schule. Sie schrieb ihre ersten Gedichte schon als kleines Mädchen.  Ihr Vater hatte viel Zeit und kümmerte sich rührend um die Töchter. Er war es, der der zukünftigen Poetin die nötige Motivation gab, indem er ihre Gedichte wertschätzte. „Wenn ich ein kleines Gedicht geschrieben habe, das meinem Vater gefallen hat, habe ich Geld dafür bekommen. Es war nicht viel, aber für solch ein kleines Kind eine große Freude. Die Gedichte, die ich vor dem Besuch der Grundschule geschrieben habe, mussten lustig und verspielt sein. So hat mich mein Vater motiviert. Ich verdanke ihm alles, was ich heute erreicht habe.“

Ihr Abitur bestand Ichna, wie sie damals genannt wurde, im Untergrund, in illegalen Kursen für Krakauer Kinder. Polnische Schulen waren während der deutschen Besatzung Polens verboten, die Jugendlichen lernten heimlich in Privatwohnungen. Sie scherzte oft, dass sie angesichts ihrer dürftigen Mathematikkenntnisse Hitler ihr Abitur verdanke, weil sie unter normalen Bedingungen bestimmt durchgefallen wäre.

Szymborska hatte auch ein Zeichentalent, und sie hat während des Krieges für den Vater ihrer Freundin, der Englischlehrbücher verfasste, die Neuausgabe eines Lehrbuchs illustriert. Das Buch wurde unter konspirativen Bedingungen gedruckt, aber es erschien gleich nach dem Krieg ganz offiziell – mit ihren Zeichnungen.  Heute kennt man ihre Vorliebe für lustige Collagen, die sie ihren Freunden als Grußkarten schickte.

Nach dem Abitur 1941 war an ein Studium nicht zu denken, und da die Mutter aus einer Eisenbahnerfamilie kam, besorgte sie Wisława eine Stelle im Büro der Bahn.  Während der Besatzungszeit musste die Mutter – Rottermund – nachweisen, dass sie aus einer polnischen Familie stammte, denn der Nachname klang für die Besatzer jüdisch. „Meine arme Mutter musste Dokumente über die polnische Abstammung ihrer Familie vorlegen, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte. Schließlich ließen sie sie in Frieden“.

Nach dem Krieg studierte Szymborska in Krakau polnische Literatur und Soziologie. 1945 veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht in einer wöchentlichen Beilage der Lokalzeitung „Dziennik Polski“. Ihr erster Gedichtband, noch geprägt vom sozialistischen Realismus, erschien 1952. Danach machte Szymborska sich zunehmend frei von ästhetischen Dogmen. 1962 erschien der Band „Salz“, der heute zu ihren wichtigsten Werken zählt. Insgesamt veröffentlichte sie rund 350 Gedichte in insgesamt elf Bänden.

Der polnische Dichter Adam Zagajewski verdankt sein poetisches Debüt Szymborska, 1967 hatte sie sein Gedicht für den Druck angenommen. Zagajewski erwähnt in seinem Essay „Kaffee auf Türkisch“ Szymborskas ideologische Verirrung, die vor allem dem Einfluss ihres ersten Mannes Włodek geschuldet war (er war ein engagierter Kommunist, Mitglied der Partei):

„Die Rechte wirft ihr vor, wie wir wissen, mitunter sehr brutal, eine kurze Loyalitätsphase zum sozialistischen Realismus gehabt zu haben. In solchen Fällen ist es vielleicht wichtiger, wie man aus einer solchen Krise herauskommt, und nicht, dass man ihr zum Opfer fällt.

Jeder von uns, besonders in der frühen Jugend, kann einen Fehler machen. Und Wisława Szymborska hat sich aus ihrem Fehler großartig befreit. Ihre Lyrik basiert auf der traumatischen Erfahrung des Stalinismus und dem Versagen ihrer frühen Lyrik, sich der Lüge zu stellen. Sie hat am eigenen Beispiel und an dem vieler Gleichaltriger schmerzlich erfahren, wie anfällig ein Dichter für den Konformismus der Zeit sein kann und wie empfindlich das Werkzeug Sprache ist, (…) das Wort der Wahrheit. Sie sah, wie leicht die Sprache korrumpiert wird, wenn der Dichter, der Schriftsteller, nicht von der höchsten Spannung ethischer oder philosophischer Aufmerksamkeit begleitet wird. Und es war für sie gewiss etwas Unvorstellbares, nach Jahren schöpferischer Arbeit, gewissenhaft und erfindungsreich: dass sie die Wahrheit der Poesie unterschlagen konnte, als sie jung war.“

Sie debütierte 1945 und lernte ihren ersten Ehemann Adam Włodek kennen. Vor der Ehe mit dem Redakteur, einem treuen Parteimitglied, hatte sie eine leidenschaftliche Beziehung mit Artur Weksler, der Jude war und den Krieg in einem Versteck überlebt hatte. Szymborska und Adam Włodek zogen 1948 in das berühmt-berüchtigte Literatenhaus in der Krupnicza Strasse in Krakau, in ein winziges Zimmer. Über dieses Haus gibt es viele lustige Geschichten und Legenden. Die Ehe dauerte sechs Jahre, dann zog Szymborska in die sog. „Schublade“, eine Einzimmerwohnung, die auch ihr Rückzugsort zum Schreiben war. Für die Urlaube ist sie sehr gerne nach Zakopane in das Hotel „Astoria“ gefahren – mit Zakopane verband sie die Familiengeschichte, ihr Vater hatte noch vor ihrer Geburt für den Grafen Zamoyski den Kurort modernisiert. Zakopane verdankt Wincenty Szymborski und Graf Zamoyski u.a. den Bau von Straßen, der Kanalisation, der Eisenbahnlinie nach Krakau, das Tatra Museum und den Freiwilligen Rettungsdienst (TOPR).

Im Haus in der Krupnicza war es eng, feucht und nicht besonders sauber, hier traf das junge Ehepaar Sławomir Mrożek und Maciej Słomczynski, den Shakespeare-Übersetzer, der Wisława Szymborska das Schreiben von Limericks beigebracht hat. Diesem Spaß hat sie sich jahrelang heimlich hingegeben.

Später war sie sehr lange mit Kornel Filipowicz liiert, bis zum Tod des Schriftstellers und Redakteurs, mit dem sie eine glückliche, innige Verbindung lebte – aber in zwei Wohnungen! Die beiden haben nie zusammengewohnt, liebten es jedoch gemeinsam zu zelten.

Szymborska verdiente ihren Lebensunterhalt in der Redaktion von Życie Literackie, sie redigierte den Lyrikteil, schrieb Buchrezensionen und eine populäre Kolumne mit Alltagsbeobachtungen. Sie antwortete auch auf die Anfragen junger Literaten. Die Texte schrieb sie immer in der Pluralform, um nicht als Frau erkannt zu werden (das ist in der polnischen Sprache möglich, das Gendern ist nicht immer nützlich). Ihre Antworten im Literarischen Briefkasten sind humorvoll und bissig. Es lohnt, einige davon hier anzuführen, zumal sie gerade in der Übersetzung von Renate Schmidgall unter dem Titel „Sie sollten den Kugelschreiber wechseln“ bei Suhrkamp erschienen sind: *

An H., Bochnia: „Es ist uns gelungen, einen kühlen Kopf zu bewahren, obwohl einer der Bridge-Spieler auf Seite 7 als Geist eines Erhängten entlarvt wird. Da haben wir schon ganz andere Dinge gelesen und gesehen (ganz zu schweigen davon, was man hört). Der Grund für unsere entschiedene Ablehnung ist die Tatsache, dass weder der Geist noch die drei anderen Spieler eine Ahnung von den Bridge-Regeln haben. Wir raten Ihnen, die Karten vorläufig durch Dominosteine zu ersetzen.“

Oder: An Ludomir aus Olsztyn: „Aus den eingesandten Gedichten konnten wir den Schluss ziehen, dass Sie verliebt sind. Jemand hat einmal gesagt, alle Verliebten seien Dichter. Das scheint uns übertrieben. Wir wünschen Ihnen viel Glück in Ihrem privaten Leben.“

Wisława Szymborska hielt am Begriff des Talents fest. Sie sagte einst: „Vielleicht wird es zu Recht vermieden, denn Talent ist ein wissenschaftlich schwer zu fassender Begriff. Aber nur weil es nicht so einfach zu definieren ist, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert. Im Übrigen bin ich kein Kritiker und kann mir gewisse Freiheiten erlauben. Talent … Der eine hat es, der andere wird es nie haben. Was nicht bedeutet, dass dieser andere verloren ist. Vielleicht wird er ein hervorragender Biochemiker.“

Wislawa Szymborska ist im Alter von 88 Jahren in ihrem Haus in Krakau friedlich im Schlaf gestorben. Schon 1962 hatte sie in ihrem Gedicht „Grabstein“ geschrieben:

Hier ruht, altmodisch wie ein Komma, eine/

Verfasserin von ein paar Versen. Die Gebeine/

genießen Frieden in den ewigen Gärten,/

obwohl sie keiner Literatengruppe angehörten./

Drum schmückt nichts besseres ihre Totenstätte/

als dieser Reim, die Eule und die Klette./

Passant, hol den Computer aus dem Aktenfach/

Und denk über Szymborskas Los ein wenig nach

 

 

 

 

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Dorota Danielewicz

Dorota Danielewicz

Dorota Danielewicz, geb. in Poznań, Polen. Zweisprachige freie Publizistin, Autorin und Kulturmanagerin. Buchveröffentlichungen: “Auf der Suche nach der Seele Berlins” (Europa Verlag, 2014), „Der weisse Gesang. Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution“ und „Droga Jana“ (Krakau 2020/„Jans Weg“ erschienen 2022 ebenfalls im Europa Verlag.

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