Zum Inhalt springen

Im Schaufenster der Politik

Ein Ausblick auf das deutsche Superwahljahr 2019

 

Wer etwas verkaufen will, stellt es ins Schaufenster. Kundschaft soll angelockt werden mit schönem Schein und wahren Waren, damit der Rubel rollt. Im Schaufenster gibt es keinen Einspruch, kein Für und Wider, im Schaufenster regiert die reine Attraktion. Jedes Schaufenster ist ein Glücksversprechen. Darum ließ schon Rainer Maria Rilke seinen träumerischen Romanheld Malte Laurids Brigge im Paris der Jahrhundertwende an „Kupferstichverkäufern mit überfüllten Schaufenstern“ vorbei flanieren. Zuweilen blieb Malte Laurids Brigge stehen, vertiefte sich in die Auslage, blickte hinein in den Laden und rief sehnsuchtsvoll aus: „Ach, wenn das genügte. Ich wünschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen für zwanzig Jahre.“

 

Demokratie ist keine Verkaufsveranstaltung. Man wirbt um Stimmen und Zustimmung, handelt nicht mit Produkten. In einer Demokratie soll durch Argumente überzeugt, nicht durch Augenschein überrumpelt werden. Und dennoch: Kein Wahlkampf kommt ohne Schaufenster aus, in denen die Parteien sich herausputzen für ihre Wähler und zeigen, was sie gerade zu bieten haben. Im Superwahljahr 2019 regieren in Deutschland die Schaufenster. Ob deren Inhalt zu gefallen weiß, zeigt sich am 26. Mai bei der Europawahl und der gleichzeitig stattfindenden Bürgerschaftswahl im Stadtstaat Bremen. Es folgen Anfang September parallel die Landtagswahlen von Brandenburg und Sachsen, ehe Ende Oktober in Thüringen der ostdeutsche Wahl-Triathlon beendet wird. Wer wird danach welche Reste zusammenkehren müssen?

 

Am meisten zu bieten hat derzeit die SPD – sofern man die Qualität des Angebots an der Quantität der Schaufensterauslage bemisst. Dass die Partei seit Jahren bei Wahlen darbt und siecht, bis Ende 2018 in Umfragen auf 15 Prozent abgestürzt war, mag kaum glauben, wer die überbordenden Aktivitäten der SPD betrachtet. Oder gerade doch? Ist es Aktionismus aus Verzweiflung, ein wildes Umsichschlagen vor dem drohenden Sturz in die Bedeutungslosigkeit? Die SPD agiert, als wäre sie nicht der kleine Teil einer geschrumpften Großen Koalition, die in Berlin regiert, sondern eine zu allem entschlossene linke Oppositionspartei.

 

Der Linksrutsch der SPD speist sich aus der Sehnsucht, wieder unterscheidbar zu sein im Angesicht einer unter Noch-Kanzlerin Angela Merkel nach links gerückten CDU. Das von der bisher farblosen Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) geforderte „Klimaschutzgesetz“ mit verbindlichen Kohlendioxid-Emissionsobergrenzen für sechs Schlüsselindustrien eignet sich prächtig für eine solche Profilierung. Prompt erntete Schulze wütende Stellungnahmen aus den Reihen von CDU und CSU – und das war vermutlich Sinn der Übung. Wie sonst lässt sich von der Regierungsbank aus ein Wahlkampf starten? Die Vorwürfe lauteten zwischen „Klimaplanwirtschaft“ und „Entdemokratisierung“.

 

Kabinettskollege Hubertus Heil (SPD), seines Zeichens Sozialminister, kämpft verbissen für eine staatlich garantierte Grundrente für Arbeitnehmer, die mindestens 35 Beitragsjahre vorweisen können. Auch einen höheren Mindestlohn und eine zusätzliche Reichensteuer hat die SPD im Angebot sowie neuerdings wieder die Forderung nach einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre – auf jenes Alter, in dem sich die selbsternannte schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg befindet. Der Zufall ist mehr als nur symbolisch, verknüpfte Bundesjustizministerin Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD für den Europa-Wahlkampf, ihr Plädoyer für das neue Wahlalter doch mit einem Lob für jene schulschwänzenden Schüler, die wie Greta freitags auf die Straße gehen. Es sei, so Barley, „großartig, dass die Jugendlichen jetzt für den Klimaschutz demonstrieren und sich so engagieren.“ Die Jugendlichen verdienten „hohen Respekt“ – und offenbar als Prämie für erwünschtes Verhalten die Chance, ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Gewiss weiß Katarina Barley, dass Kinder und Jugendliche, dürften sie wählen, sich in weit überdurchschnittlichem Ausmaß für linke Parteien erwärmten. Und stramm nach links marschiert die SPD gerade.

 

Diesen Marsch haben die Linkspartei und die Grünen hinter sich. Letztere waren unter ihrem Spitzenduo Annalena Baerbock und Robert Habeck angetreten, bürgerliche Kreise stärker an sich zu binden als Ökofundamentalisten. Wahlen und Umfragen zufolge ist dieses Ziel erreicht. Für die Wahl zum Europäischen Parlament werden rund 18 Prozent erwartet, im traditionell schwierigen Osten Deutschlands immerhin zwischen 9 und 12 Prozent. Im September 2017 bei der Bundestagswahl waren es bescheidene 8,9 Prozent gewesen. Die gestiegenen Werte gehen freilich einher mit programmatisch irritierenden Tönen. Robert Habeck knüpfte gleich zweimal die demokratische Reife ganzer Bundesländer – Bayerns und Thüringens – an das Maß, in dem dort die Grünen gewählt werden. Das grüne Urgestein Jürgen Trittin griff zu anti-amerikanischen Verschwörungstheorien, um Kritiker am iranfreundlichen Kurs von Bundespräsident Steinmeier zu desavouieren. Generell gibt es kaum einen Bereich, in dem die Partei, die für Biene, Eisbär, Windrad kämpfen will, keinen staatlichen Eingriff forderte. Die Freiheitspartei, die sie sein wollen, sind die Grünen derzeit nur ausnahmsweise. Sie sind eine linke Partei für Besserverdiener mit gutem Gewissen.

 

Vom Bundesparteitag der Linkspartei Ende Februar blieb jene Szene in Erinnerung, in der ein Dutzend Mitglieder ein Plakat hochhielten mit der Inschrift „Hände weg von Venezuela – vorwärts zum Sozialismus“. Solidarität mit dem linksfaschistischen Diktator Maduro wurde nicht zur offiziellen Parteilinie erhoben, doch das von großem Verständnis geprägte Verhältnis der Linkspartei zu antiwestlichen Autokratien dürfte sie von Regierungsverantwortung auf Bundesebene noch lange abhalten. Im Osten hat sie als Regionalpartei mit Kümmererimage eine relativ stabile Wählerschaft. Dennoch könnte sie in Thüringen ihren einzigen Ministerpräsidenten verlieren. Bodo Ramelow erzielt für seine Partei in Umfragen rund 22 Prozent – ein Minus von sechs Punkten seit 2014. Etwa gleichauf rangieren CDU und AfD. Der Ausgang der Landtagswahl am 27. Oktober ist völlig offen.

 

Mit der „Alternative für Deutschland“ ist der Linkspartei eine rechte Konkurrenz entstanden, die ebenfalls die Besonderheiten des Ostens betont und vor antikapitalistischen Tönen nicht zurückschreckt. In jedem der drei Länder könnte die AfD stärkste Kraft werden, wenngleich ihre Ergebnisse am schwierigsten zu prognostizieren sind. In Brandenburg gelten derzeit 20, in Sachsen 25 Prozent für realistisch. Sollte die ungelöste Migrations- und Asylfrage wieder auf den Titelseiten und in den Hauptnachrichten verhandelt werden, sind der AfD nach zuletzt abbröckelnden Umfrageergebnissen (bundesweit 14 Prozent) steigende Zahlen zuzutrauen.

 

Für Aufsehen sorgte auf dem Parteitag der baden-württembergischen AfD Parteisprecher Jörg Meuthen, als er eine scharfe Grenze nach Rechtsaußen zog: „Wer hier seine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausleben möchte, dem sage ich ganz klar: Sucht euch ein anderes Spielfeld für eure Neurosen!“ Die östlichen Landesverbände werden freilich, außer in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, von rechten Hardlinern dominiert. Der Co-Vorsitzende Alexander Gauland lässt derweil die Öffentlichkeit an düsteren Überlegungen zur Zukunft Europas und zu seiner eigenen teilhaben, während die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, die Öffentlichkeit eher meidet, seit ihrem regionalen Verantwortungsbereich unrechtmäßig zugeflossene Spendengelder vorgehalten werden. Dass die Gesamtpartei vom Bundesverfassungsschutz geprüft, aber (noch) nicht beobachtet wird, könnte ihr im Westen schaden, im Osten aber, wo der Verfassungsschutz mitunter als Herrschaftsinstrument der alten BRD wahrgenommen wird, sogar nutzen. So oder so hat sich die AfD als rechte Oppositionspartei zwischen lauter Systemkritik, aggressiver Polemik und konservativer Skepsis etabliert.

 

Und was steht im Schaufenster der Liberalen? Parteichef Christian Lindner, wer sonst. Der noch immer jungenhaft wirkende Vorsitzende wirbt auf allen Kanälen für seinen „Full-Flavour-Liberalismus“, während die Spitzenkandidatin für Europa, Nicola Beer, die FDP in Deutschland als „Service-Opposition“ definiert. Derlei Wortgeklingel deutet auf eine Identitätskrise hin. Schnittige Slogans sind keine Antwort auf die Frage, wie sich ein zeitgemäßer Liberalismus zwischen rechtsstaatlicher Härte und marktwirtschaftlicher Flexibilität definieren ließe.

 

Bei der CDU überlässt die Kanzlerin das Spielfeld ihrer Nachfolgerin im Amt der Parteivorsitzenden, Annegret Kramp-Karrenbauer. Merkel selbst äußert sich mit Vorliebe zu außenpolitischen Themen und klagt dann routiniert „Multilateralismus“ ein – als verbales Gegengift wider Donald Trump und die Viségrad-Staaten. Ob Kramp-Karrenbauers rednerische Absatzbewegungen von Merkel, vor allem in der Migrationspolitik, in der sie die „Durchsetzungsfähigkeit der Sicherheitsbehörden“ betont, bei den Wahlen Früchte tragen werden, weiß niemand. Faktisch hat sich am „deutschen Desaster“ (so „Der Spiegel“ vom 2. März) namens Abschiebung nichts geändert.

 

So wären die Schaufenster der Parteien reichlich gefüllt. Ob die Botschaften verfangen, die Versprechen begeistern, hält immer auch von der Augenblickslaune der Wähler und der politischen Gesamtwetterlage am Wahltag ab. Malte Laurids Brigge beobachtete damals in Paris, dass die vielen Läden zum Schauen, aber nicht zum Hineintreten animierten. Die Händler machten „offenbar keine Geschäfte“. Auch im Superwahljahr 2019 könnten die Nichtwähler wieder die stärkste Gruppe werden. Auch sie müssen dann mit den Folgen ihres Nichttuns leben: mit neuen Akteuren, neuen Handlungen, neuen Herren vor und hinter der Schaufensterscheibe. Drinnen im Laden der Parteien, im politischen Betrieb, sitzen vielleicht wie weiland bei Rilke Ladenbesitzer und sind trotz allen Wahlgetöses ganz „unbesorgt; sorgen sich nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken.“

 

Das neue Buch von Alexander Kissler

Alexander Kissler

Alexander Kissler

Alexander Kissler studierte Literaturwissenschaften und Geschichte. Er arbeitet im Berliner Büro der NZZ und schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife".

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.