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Belcanto grenzenlos – Krakau, Bad Wildbad und Rossini

Ungewöhnlich ist diese Zusammenarbeit allemal: Die historische Hauptstadt und Kulturmetropole Krakau kooperiert bei der Produktion von Opern aus der Feder des italienischen Belcanto-Komponisten Gioacchino Rossini (1792-1868) mit dem kleinstädtischen Kurort Bad Wildbad bei Pforzheim. Genau genommen arbeiten hier zwei Festivals zusammen, die sich der Verbreitung seiner Musik verschrieben haben –  das bereits 30 Jahre bestehende badische Belcanto Opera Festival „ROSSINI in WILDBAD“ und das dieses Jahr aus der Taufe gehobene und mit vier Veranstaltungen noch recht schmalbrüstige Royal Opera Festival – ROF –  in Krakau. Mateusz Prendota, Leiter und Begründer von ROF ist fest entschlossen, daraus einen Fixpunkt für Rossini-Fans weltweit zu machen. Das ROF wurde durch die zwei Chöre, ein Sinfonieorchester, ein Bläserensemble und ein Streichquartett umfassende Musikformation PASSIONART – die sich insbesondere polnischer Musiktraditionspflege verschrieben hat – mit dem Ziel gegründet, zwei große Komponisten des 19. Jahrhunderts – Gioacchino Rossini und Stanisław Moniuszko – miteinander zu verbinden. Neben Krakau kam es auch zu Aufführungen in Szczawnica und Rom. Anlass hierzu bot der 200. Geburtstag des Vaters der polnischen Oper Stanisław Moniuszko sowie der 201. Jahrestag der polnischen Uraufführung der Oper Tancredi von Gioacchino Rossini.

 

Rossini 2019: Tancredi Aufführung in Krakau

Auftakt dieser Zusammenarbeit beider Festivals sollte die deutsch-polnische Koproduktion eben dieser Oper von Rossini sein – Tancredi –, die der Wildbader Intendant Jochen Schönleber inszenierte und der Górecki-Chor Krakau sowie das Sinfonieorchester von PASSIONART zunächst Ende Juni im Krakauer Słowacki-Theater und dann im Juli in Bad Wildbad aufgeführt haben. „Ich empfinde es auch als Ehre, in Krakau arbeiten zu dürfen, wo im Zweiten Weltkrieg ein Hans Frank gewütet hat“, beschreibt Schönleber seine jüngst gemachten Erfahrungen und betont dabei, dass er sich seiner Rolle als Gast im befreundeten Nachbarland immer bewusst war. Die Herausforderungen lagen jedoch jenseits nationaler Befindlichkeiten in den Zwängen extrem knapper Zeiträume. Das Stück wurde gerade einmal innerhalb von 14 Tagen ohne Zugriff auf die jeweilige Hauptbühne geprobt, welche im Słowacki-Theater viermal größer ist als in Wildbad. Somit konnte das eher minimalistische Bühnenbild (oftmals ersetzt durch die Licht-Inszenierung) und die Szenerie der Darsteller dort wesentlich großzügiger ausgelegt werden als im kleinen, nur 200 Zuschauer fassenden und vor kurzem renovierten Kurtheater von Bad Wildbad. Alle Sänger bis auf die Rolle des Tancredi traten in beiden Ländern auf; offiziell handelt es sich aus veranstaltungsrechtlichen Gründen um ein Gastspiel.

 

Tancredi wurde 1813 im Gran Teatro La Fenice in Venedig nach einer Textvorlage von Voltaire uraufgeführt und bedeutete für den damals zwanzigjährigen Rossini den Aufstieg in die erste Riege der Opernkomponisten Europas. Voltaires Vorlage folgend endet die diesjährige Produktion der in Polen wie in Deutschland sehr selten gespielten Oper mit dem Tod des Helden, und besiegelt so dessen unglückliche Liebe zu Amenaide, der Tochter seines Widersachers Argirio, der das Mädchen lieber in eine politische Ehe mit dem verbündeten Anführer Orbazzano drängen möchte. Schönleber weist die Akteure zwei zunächst rivalisierenden, später paktierenden Straßengangs zu, von denen die dominierende um Orbazzano einer Rockergruppe ähnelt. Dabei bleibt die Bühne nachtumflort: keine sizilianische Sonne grüßt die siegreichen Krieger, keine klassizistische Architektur gemahnt an die Erhabenheit hehrer Taten und Gefühle. Belcanto ist hier schlicht Reduktion auf die Musik, und die breitet ein üppiges Spektrum hinreißender musikalischer Einfälle und Stimmungen zwischen lyrischen Empfindungen, leidenschaftlicher Emphase und martialischem Feuer aus. Vokale Wechselbäder sind es auch, die Tancredi zu einem Fest für virtuose Akrobatik auf dem Hochseil stimmlicher Kunststücke machen. „Tancredi ist als Oper zu empfindlich, um es mit einer modernen Inszenierung allzu sehr zu belasten. Daher gibt es keine Verlagerung in andere Zeiten, aber das Aufzeigen von Machtstrukturen. Wir haben also aus den Frauen keine Männer gemacht, sondern wir zeigen stattdessen Frauen, die sich wie Männer verhalten. Anfänglich irritierte Fragen nach dieser Inszenierungsform, die es so normalerweise nicht in Krakau gibt, waren nach der Aufführung kein Thema mehr. Ich habe ja auch nicht in der Tradition des klassischen deutschen Regiertheaters inszeniert, was mir gleich wieder vom entsprechend sozialisierten deutschen Feuilleton vorgehalten wurde.“ Ein wenig Resignation über das Unverständnis drücken diese Worte von Regisseur Schönleber aus. Dabei wirkt es erfrischend, seine Figur des Tancredi als einen unverantwortlichen, jähzornigen, eingenommen – von einer Frau gespielten – Burschen zu sehen, der rücksichtslos durch die Welt tappt und dabei sich und seine Geliebte zu Grunde richtet. In Wildbad ist es die fabelhafte Diana Haller in dieser Hosenrolle des Tancredi, die von triumphierenden Höhen bis in furiose Tiefen ihre bemerkenswerte Beweglichkeit und farbige Klangkraft ihres fülligen Mezzos beweist. Neben ihr beeindruckt die Sopranistin Elisa Balbo in der elegischen Rolle der Amenaide durch ihre delikaten Piani und sensiblen Linien. Besonders überzeugt der mit einer enormen Stimmlagenbreite ausgestattete Tenor Patrick Kabongo mit seiner kultivierten, technisch ausgefeilten und stets nobel klingende Stimme als verknöcherter Vater Argirio, während Ugo Guagliardo dem wütenden Orbazzano mit polterndem Bass eine passend grobe Kontur verleiht.

 

Rossini 2019: Tancredi Szene 1

Das hier gewählte tragische Finale Tancredis war jedoch nicht Rossinis erster Entwurf. Bei der wenig erfolgreichen Uraufführung in Venedig ließ er das verwickelte Geschehen um Liebe und Verrat, Feindschaft und Verwechslungen in ein Happy-End münden, das er aber gleich danach für eine zweite Aufführung in Ferrara in einen düsteren Schluss umwandelte. Nur diese tragisch-heroische Variante schafft eine beklemmende Atmosphäre, wie sie dem Operntragiker Rossini gut zu Gesicht stand und an beiden Aufführungsorten eine ungeahnte musikalische Spannung verlieh. Ein Ende in „morendo“: erst stirbt Tancredi, dann erstirbt das Orchester. „Wie ein Poem“ klang dieses dahinhauchen der Musik für die sicher am weitesten angereiste Opernbesucherin aus Shanghai, meine Sitznachbarin. Auch die meisten anderen Festivalbesucher von ROSSINI in WILDBAD kommen für die Aufführungen extra angereist, zumeist aus dem mittleren Umfeld von Stuttgart, Karlsruhe oder Frankfurt, aber auch aus Österreich, der Schweiz, Frankreich und den Benelux-Staaten. Für sie gibt es Arrangements mit stilvollen Übernachtungen und gehobener Gastronomie. Jedoch spielen die kleinen Spielstätten (200 und 470 Plätze) kaum die Unkosten ein. Daher richtet sich das Hauptaugenmerkt der Veranstalter weniger auf große Zuschauerzahlen oder gute Erträge, sondern auf die Entdeckung bislang verborgener Schätze und Raritäten im Oeuvre des Komponisten und seiner Zeitgenossen sowie ihrer Verbreitung durch Rundfunkübertragungen im SWR, auf Deutschlandfunk Kultur und im Ausland sowie Einspielungen auf CD/DVD. Diese Saison gab es eine Liveübertragung und dreimal eine zeitversetzte Ausstrahlung im Radio, drei CDs und eine DVD für den internationalen Markt, die in den USA sehr nachgefragt sind.

 

Zum Rossini Festival im italienischen Geburtsort von Rossini in Pesaro nahe Ancona hat man ein gespaltenes Verhältnis, da dort große Gelder bewegt werden, die vielfach Intrigen über deren Verteilung auslösen. Das hat so manchen ehemaligen Pesaro-Anhänger nach Wildbad verschlagen. Andererseits hat sich die frühere Arroganz in der Adria-Stadt gegenüber dem kleinen Bruder im Nordschwarzwald inzwischen gelegt.

 

Rossini 2019: Kurtheater Wildbad

Gestartet war man in Bad Wildbad vor 30 Jahren, als sich das Ende der massenhaften, von den Krankenkassen getragenen Kururlaubsindustrie abzeichnete. Ein irgendwie geartetes Kulturereignis sollte dabei helfen, das alt-ehrwürdige Kurtheater vor dem Verfall zu retten. Dabei stieß man eher zufällig auf den Kuraufenthalt von Gioacchino Rossini im Jahre 1856, der dazu beitrug, seine mehrjährige Kompositionspause zu beenden indem er seine erste neu komponierte Tonfolge auf deutsches Papier – vielleicht sogar in Bad Wildbad erworben – notiert haben soll. Nach einem anfänglich ziemlich holprigen Start beförderte das Rossinijahr 1991 einen erfolgreichen Neustart für das fortan „Belcanto Opera Festival“ in der Unterzeile tragende, alljährliche Kulturereignis. Mit der Zeit erwarb sich das Festivalteam eine große Expertise in Sachen Musikgeschichte und Hintergrundwissen zu Rossini und seinem Umfeld und gab es mittels der selbst gegründeten Akademie BelCanto (ABC) an junge Nachwuchssänger weiter. Das lockte über die Jahre viele sowohl junge aufstrebende wie auch bereits renommierte Sänger in die Badische Kleinstadt. Joyce DiDonato, Olga Peretyatko, Maria Luigia Borsi, Sofia Mchedlishvili, Margarita Gritskova, Diana Haller, Pavol Breslik, Michael Spyres u.v.a. haben hier ihre ersten CDs aufgenommen oder überhaupt mit Rossini debütiert. „Unsere Besetzungen kommen oft aus München oder Salzburg, unser Dirigent Antonino Fogliani hat dieses Jahr sogar Bregenz abgesagt, damit er bei uns dirigieren kann“, hält Intendant Schönleber stolz fest. Trotz der inzwischen weltweiten Bekanntheit des Festivals rangiert die finanzielle Ausstattung auf sehr niedrigem Niveau, da die abgeschiedene Lage kaum Sponsoren anlockt und öffentliche Gelder nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen. Schönleber: „Wir spielen immer noch mit den Mitteln eines Dorfligaclubs in der Champions League.“

 

Die knappen Mittel haben es bei ROSSINI in WILDBAD immer notwendig gemacht, mit ausländischen Klangkörpern und Chören zu kooperieren. Lange Zeit führte diese Zusammenarbeit nach Tschechien, jedoch begannen die ersten Kooperationen mit polnischen Ensembles zu Beginn dieses Jahrzehnts, als ein neuer Chor gefunden wurden musste. Über Empfehlungen kam Schönleber an den Bach-Chor aus Posen, mit dem eine langjährige Zusammenarbeit entstand auch nachdem er später nach Danzig umzog. Aufgrund der Abberufung der Leiterin des Chores von ihrem Engagement bei der Baltischen Oper in Danzig im Zuge des politischen Machtwechsels konnte diese Zusammenarbeit jedoch nicht weiter fortgesetzt werden. Aber auch andere Chöre aus Polen fanden seitdem ihren Weg in die badische Kurstadt: Im Zuge der Einstudierung von Wilhelm Tell – weltweit die umfangreichste Produktion dieser an unterschiedlichen Fassungen reichen Oper – begann die Zusammenarbeit mit drei Männerchören aus Posen, Breslau und Krakau. Alle Proben der von den Chören zu besetzenden Massenszenen in dieser auf Schillers Drama über den schweizer Unabhängigkeitskampf basierenden Oper fanden 2013 ebenfalls in Danzig statt.

 

Der Kontakt zu den Krakauer Sängern führte dann im vergangenen Jahr dazu, dass auch das dort angesiedelte Sinfonieorchester von PASSIONART an die Stelle des zuvor abgesprungenen tschechischen Festivalorchesters trat. Schönlebers Fazit nach der ersten Saison über die langfristig angelegte Zusammenarbeit: „Es ist ein ganz junges Orchester, dessen Fokussierung auf polnische Musiktradition das Engagement einer iranisch-stämmigen Konzertmeisterin nicht ausschließt. Außerdem herrscht bei Chor und Orchester eine herausragende Arbeitsmoral. Probenarbeit macht da richtig Spaß, da muss man in Deutschland lange suchen.“ Musikalischen Facettenreichtum, ausdifferenzierte Klangfarben und eine umfängliche Registerbreite konnte man bei dem einzigen A-Cappella-Konzert des Górecki Chors erleben, als er diese bei seinem Programm ausbreitete: von Kriegs- bis zu Wiegenliedern, von mittelalterlichen (Palestrina) über romantische (Chopin, Mendelssohn, Schubert) bis zu neuzeitlichen (Krzysztof Penderecki, Franz Biebl) Klängen, von einem slawischen Basstimbre eines Jan Kanty Pawluśkiewicz bis zur mimimal music des Filmmusik-Komponisten Wojciech Kilar und seinem Agnus Dei aus dem Film „König der letzten Tage“. Auf diesem hohen Niveau plant Schönleber für 2020 in Bad Wildbad die Aufführung der Rossini-Oper „Elisabetta regina d’Inghilterra“ über die englische Königin Elisabeth I. aus dem 16. Jahrhundert sowie die Uraufführung von Joseph Haydn „Schöpfung“ in italienischer Fassung, wie sie von Rossini selbst dirigiert wurde und der er manche musikalische Anregungen entnommen haben soll. Und er hofft, dass beides auch in Krakau erklingen wird.

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Detlev Lutz

Detlev Lutz

Detlev Lutz publiziert immer wieder über deutsch-polnische Themen mit kulturellen, verkehrspolitischen oder touristischen Aspekten.

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