Vor einigen Monaten begab ich mich mit einer Gruppe Studierender auf eine Studienfahrt. Unser Reiseweg berührte ausgewählte Orte in Tschechien, der Slowakei und Ungarn und verlief längs eines kurzen Abschnitts der zweitausend Jahre alten Grenze zwischen dem Imperium Romanum und dem Land der Barbaren. Die Exkursion sollte nur ein paar Tage dauern, daher war es nicht möglich, alle interessanten Lokalitäten zu besuchen. Wir mussten unsere Pläne an unsere Möglichkeiten anpassen, auch finanziell.
In jedem Ort streckte ich erst einmal meine Fühler aus, um eine Ahnung zu bekommen, mit wem wir es zu tun haben würden, wobei sich unsere lokalen Kontakte stets als sehr sympathisch erwiesen. Was mich dann wie immer sehr verwunderte war, dass die alte und bis heute nachwirkende Weltengrenze, nämlich die zwischen dem mittelmeerischen und dem germanischen Raum, keineswegs nördlich von Italien und Griechenland verläuft, wie wir unwillkürlich denken, sondern gerade einmal ein paar Stunden des Wegs von meiner Heimatstadt Krakau entfernt. Wie immer ist es das eine, etwas in der Theorie zu wissen, und etwas ganz anderes, es mit eigenen Augen zu sehen. Und erst recht es mit den Händen zu betasten: Mauern, Überreste von Gebäuden und Brücken, Friedhöfe – alles ist dort zur Stelle.
Mark Aurel
Im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erlebte das kaiserliche Imperium Romanum seine besten Zeiten. Das Steuer des Reiches führten damals viele Jahrzehnte lang die sogenannten „fünf guten Kaiser“ – Nerva, Trajan, Hadrian, Antonius Pius und Mark Aurel. Wir sollten uns natürlich nicht der Täuschung hingeben, dass sie so gute Menschen waren wie Buddha oder der heilige Franziskus. Schließlich standen sie an der Spitze eines autoritären Staatswesens, das den ganzen unsrigen Teil der Welt unter dem Stiefel hielt. Doch immerhin waren sie anständige Kaiser, kompetente Verwalter und respektierte Heerführer. Auch wissen wir, dass sie Männer von hoher Bildung waren, vor allem Hadrian und Mark Aurel, der Philosoph der Stoa. Selbst wenn wir Rom als Militärstaat sehen, war dies also eine Zeit, da der Kaiserthron nicht mit Psychopathen besetzt war. Und das ist ja schon einmal viel wert.
Rom erreichte seine kritische Masse zur Zeit der Herrschaft Mark Aurels, als dieser Kaiser an den äußersten südlichen Rändern der den Menschen bekannten Welt steckenblieb, während er in den eisigen Wäldern des Nordens in schwere Kämpfe mit germanischen und slawischen Stämmen verwickelt war. Der Film „Gladiator“ von Ridley Scott gibt die Atmosphäre jener Jahre bestens wieder. Auch wenn dem Film ein wenig die Fantasie durchgeht, besonders was die Umstände des Todes des „Philosophen auf dem Thron“ betreffen, so zeigt er doch treffend den historischen Augenblick in seiner ganzen, buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren lassenden Wirkmacht. Denn das Imperium geriet damals an diesem Ende der Welt nicht nur im räumlichen Sinne in einen Morast, sondern auch politisch, gesellschaftlich und organisatorisch: Es würde entweder der große Zusammenbruch folgen oder die Republik wiederkehren… (Zwar überdauerte der Staat im Großen und Ganzen, musste sich aber gründlich verändern.)
Mit Staatsgrenzen verhält es sich wie mit Epochengrenzen – der Wirklichkeit halten künstlich festgelegte Grenzen nicht stand. Davon schrieb Jerzy Stempowski in seinem schönen, zuerst auf Französisch abgefassten Essay „Ziemia berneńska“ (Das Berner Land, 1990; frz. „La terre bernoise“, 1954): Der Autor wandert durch das schweizerische Land seiner Zeit, doch tatsächlich findet er auf Schritt und Tritt Spuren der römischen Welt…
Mušov
Unser erster Halt war im mährischen Mušov südlich von Brünn, einem winzigen Ort mit einem kleinen Museum und einer kleinen archäologischen Grabungsstätte. Ein Ort, den die meisten Reisenden sicher übersehen, denn wonach sollten sie in diesem unbekannten, untouristischen Winkel schon suchen? Um nach Mušov zu kommen, muss man schon wissen, dass man genau dort hinwill.
In der Zeit, da Mark Aurel seine Kriege gegen die sogenannten Barbaren führte, wurde die Zehnte Legion zur Erkundung in die Region geschickt: Sie sollte herausfinden, wo sich die Stämme der Markomannen und der Quaden befanden. Kurz darauf starb der Kaiser, und die römische Expansion kam in diesem Teil der Welt zu Stillstand. Es gibt keine literarischen oder chronistischen Quellen über diese militärischen Expeditionen; dafür existieren aber archäologische Zeugnisse. Diese Gegend bei Brünn hat uns beispielsweise Teile von Legionärsrüstungen erhalten. Diese kleinen Fundstücke wurden zusammen mit Überresten von Geschirr und Schmuck gesammelt und in dem modernen, allerdings ziemlich unscheinbaren Museum von Mušov ausgestellt. Der Besucher kann dort auch einen fiktionalisierten Dokumentarfilm anschauen, der versucht, die damaligen Ereignisse aus Sicht eines bestimmten Legionärs zu rekonstruieren, den das Schicksal in diese Gegend verschlug…
Bratislava, will sagen Rusovce
Die Visegrád-Länder sind tatsächlich mit solchen archäologischen Fundorten übersät, die ziemlich schlecht finanziert werden und daher mehr schlecht als recht über die Runden kommen. Von ihrer Existenz wissen meist nur die lokalen Archäologen.
Rusovce gehört zu den besser unterhaltenen Orten; einst befand sich dort ein römisches Lager, heute ist es ein Stadtteil der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Es gibt auch hier ein Museum, wiederum ein sehr kleines, und auch eine kleine Grabungsstätte, die aber eine gewisse Vorstellung der Bebauung von vor zweitausend Jahren vermittelt; wir wissen heute soviel, dass, um den übrigen Teil des einstigen Lagers (oder der einstigen Stadt) auszugraben, ein Teil von Bratislava abgerissen werden müsste; es bleibt also nur, das anzuschauen, was ausgegraben werden konnte: Ein Rand der Siedlung mit Mauerstücken und den Ruinen eines kleinen Tempels… Aber auch diese Ruinen und der ganze Zusammenhang geben ein Bild vom großen Ganzen – von der römischen Slowakei.
Übrigens will scheinen, dass die Slowakei reicher an römischen Überbleibseln ist als Tschechien. Dort befindet sich die kleine Stadt Trenčín, in der die Archäologen eine Tafel mit einer römischen Inschrift entdeckt haben, ein besonders wichtiger Fund: Denn die Tafel beweist, bis wohin die römischen Legionen mit Sicherheit vorgestoßen sind. Bis in die Slowakei! Wie nahe an Polen kam in der Antike doch der Süden.
Iža
Der erstaunlichste Ort unserer Reiseroute ist wahrscheinlich das Dorf (!) Iža, das sich an der slowakisch-ungarischen Grenze befindet, die allem Anschein nach auch die Grenze zwischen Rom und dem Barbarenland war. Um hierherzukommen, muss der Tourist den Weg kennen und Auto fahren, über ausgefahrene Wege und quer durchs Gelände.
Dort ist nicht viel zu sehen, aber der Besucher kann sich viel vorstellen. Der Ort, an dem sich zur Zeit des Philosophenkaisers ein römisches Lager befand, und zwar bereits auf der anderen, nichtrömischen Seite der Grenze, ist heute von hohem Gras überwuchert; nur hier und da ragen ein paar Mauerstücke über die Halme. Am Weg ist eine Tafel angebracht, auf der nachzulesen ist, was wir da anschauen, zusätzlich zu einer kleinen Karte. Unweit fließt würdevoll die Donau, auf dem anderen Ufer befinden sich die Überreste eines weiteren römischen Lagers, dieses befand sich bereits innerhalb der Grenzen des Imperium, und in den Tiefen des Flusses, entdeckt mittels modernen Messgerätes, liegen die Trümmer einer Brücke, die einst von den Römern überquert wurde. Vielleicht starb irgendwo in dieser Gegend, wie wir spekulieren dürfen, der Kaiser Mark Aurel. Hier also trat eine der wichtigsten Wendungen der europäischen Geschichte ein. Ja, genau hier, im Dorf Iža an der slowakisch-ungarischen Grenze.
Budapest
Aquincum innerhalb des heutigen Budapest ist wohl die berühmteste Hinterlassenschaft der Römer in der gesamten Visegrád-Region. Schließlich war Aquincum in der Antike eine bedeutende und bekannte Stadt, anders als die von uns zuvor bei dieser Exkursion besuchten Lokalitäten, die eher Orte am Rande und keine wichtigen Verwaltungszentren waren.
Unter allen römischen Städten war Aquincum die zweifellos wichtigste für diese Region: Sie war eine mächtige Festung an der nordöstlichen Peripherie des Imperiums. Als Hauptstadt der Provinz Pannonia Inferior war es auch ein wichtiges Zentrum der (Außen-) Politik und der Verwaltung, der Kultur und Kunst. Ihre Führungsrolle in der Region, wenn auch nicht ihre historische Bedeutung überhaupt, verlor sie erst unter Kaiser Diokletian im vierten Jahrhundert. Was würden wir nicht geben, um Kultur und Literatur von Aquincum in seiner Blütezeit näher kennenzulernen…
Dort gibt es ein großes Museum, das den Besucher wirklich in Beschlag nimmt. Ähnlichen Eindruck macht die direkt angrenzende Grabungsstätte, die an Pompeji und Herculaneum denken lässt oder sogar an Rom selbst. Zu diesem Eindruck trug nicht zuletzt bei, dass unser Besuch zwar im Mai, aber das Wetter schon hochsommerlich war. Also der Süden im Norden. Das Budapest der Antike, seine Gassen lassen sich frei zu Fuß erlaufen. Der Besucher kann in Häuser und Bäder schauen. Das allein zeigt schon den Unterschied in der Bedeutung dieses Zentrums zu den vorher besichtigten Orten. Auf der Karte sehen wir, dass Aquincum zusammen mit Vindobona (dem heutigen Wien) und Sirmium (heute Sremska Mitrovica in Serbien) die drei Ecken eines Dreiecks bildete, das Rom in die Eingeweide des nordöstlichen Europas trieb.
Europa einmal anders
Ich liebe es, die Orte zu besuchen, an denen die Welten des Mittelmeers und des Barbarenlandes aneinanderstießen; was auch immer wir sagen, unsere Gegenwart wird durch dieses Zusammentreffen definiert. Wenn das neuzeitliche Europa eine Synthese ist, ist die These das griechisch-römische Universum, die Antithese die germanisch-slawische Welt. Kulturen, Ethnien, Sprachen, Naturen. Alles. Neues Leben begann genau bei diesem Zusammentreffen. Ob in London, in Deutschland, auf dem Balkan, ob auch in den Visegrád-Ländern – dort überall, nicht nur in Rom und Athen, entstand das Europa, das wir kennen.
Aus den Bildern, die ich von diesen nicht so offenkundigen Erinnerungsorten der Antike anführe, konstruiere ich meine eigene Vorstellung von Europa: ein nicht nach Ost und West oder nach Nord und Süd aufgeteiltes Europa, sondern ein entstehendes und lebendes, sich vermengendes und wechselseitig gestaltendes auf beiden Seiten der natürlichen Grenzen: Längs der Flüsse, längs der Bergketten… Lässt sich das Bekannte anders betrachten? Von neu auf? Man kann es versuchen, zum Beispiel kann man beim Anschauen einer Europakarte den Kopf auf die linke Schulter neigen, so dass das Schwarze Meer den Fuß bildet, während der Donaulauf das Mark des Kontinents ist. Die ganze Visegrád-Region wird dann genauso europäisch wie Griechenland und Italien.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann