Laudatio anlässlich der Verleihung des renommierten „DIALOG-Preises“ für 2023 an den Grafiker und Maler Wiesław Smętek durch den Bundesverband der Deutsch-Polnischen Gesellschaften am 17.11.2023 in der Staatsbibliothek zu Berlin
Im Jahr 2016 schenkte mir Wieslaw Smętek eine seiner Zeichnungen. Ich beschloss, das großformatige Werk zu rahmen und in meinem Büro aufzuhängen. Der Künstler hat die Silhouette eines Mannes auf ein mit wenigen Strichen skizziertes Ziffernblatt gesetzt. Die Figur kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Einmal sind ihre Glieder einfach nur die Zeiger einer Uhr, ein anderes Mal vermittelt die Figur das sisyphushafte Streben nach Zeit oder die hoffnungslose Flucht vor ihr.
Ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit ich dieses Geschenk erhalten habe. Vielleicht habe ich damals den Eindruck erweckt, sehr beschäftigt zu sein; die Zeichnung sollte eine Art Memento sein. Sie sollte mich daran erinnern, langsamer zu werden, ab und zu eine Pause zu machen. Vielleicht ging es aber auch um etwas anderes, etwa um einen Aufruf, keine Zeit zu verschwenden…. Ein paar Striche und eine Welt der Interpretation taten sich auf.
Bis heute regt mich der Künstler zum Nachdenken über das Vergehen der Zeit und die möglichen Reaktionen auf dieses unumkehrbare Phänomen an. Angesichts der Herausforderung, uns mit der Zeit zu messen, sind wir alle verletzlich. Manchmal stehe ich vor dieser Zeichnung und suche (von neuem) nach Antworten.
Der Grafiker und Maler Wiesław Smętek ist ein brillanter Künstler, der seine Werkstatt perfekt versteht. Doch was seine Werke zeitlos macht, ist das Unausgesprochene, die Möglichkeit der Mehrfachinterpretation, die spielerische Art, Botschaften neu zu lesen. Smętek provoziert, regt uns zum Nachdenken an, lässt uns nicht gleichgültig und lehrt uns letztlich auch Neues. Vielleicht ist es das, worum es bei dieser Zeichnung, die vor Jahren entstand, ging. Das Thema Zeit und unser Verhältnis zu ihr ist ein bekanntes, eigentlich ewiges Thema. Aber es verlangt von uns immer wieder aufs Neue, dass wir uns anstrengen, dass wir unsere eigenen Wege suchen, ihr nachzulaufen oder zu entkommen. Oder vielleicht nach der Dauerhaftigkeit, denn auch diese ist mit der Zeit verbunden.
Wiesław Smętek arbeitet und schafft seit mehr als drei Jahrzehnten in Deutschland, hat sich auf seine Weise hier verwurzelt und ist Teil der deutschen Kultur geworden. Er bleibt aber auch ein kritischer und konstruktiver Beobachter der deutsch-polnischen Beziehungen. Dies ist auch der Hauptgrund, warum ihm der Bundesverband der Deutsch-Polnischen Gesellschaften den renommierten „DIALOG-Preis“ 2023 verliehen hat. Smętek reiht sich damit in die beeindruckende Liste der Preisträger ein, zu denen auch Ludwig Mehlhorn, Klaus Zernack. Martin Pollack, Marek Prawda, Lech Wałęsa oder Adam Bodnar zählen.
Wiesław Smętek wurde 10 Jahre nach dem Krieg in Łobżenica geboren, einer Stadt 50 km von Bydgoszcz entfernt an der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze. Sein Vater betrieb eine Schlosserwerkstatt, seine Mutter war Hausfrau. Er hatte fünf Geschwister. Seine Eltern schufen gute Lebensbedingungen für die Entwicklung ihrer Sprösslinge. In seinem Elternhaus lernte Wiesław Respekt vor der Arbeit und Bescheidenheit „gegenüber der Welt um ihn herum“. Er setzte seine Ausbildung in Bydgoszcz an einem Kunstgymnasium fort. Es war eine Zeit, in der er „die Freiheit feierte“, wie er sich selbst erinnert.
Der junge Smętek nahm die Welt um sich herum mit allen Sinnen auf, nutzte Bibliotheken, besuchte Museen und schaute sich Filme von Fellini, Bergman und Kurosawa an. Seit seiner Kindheit war er fasziniert von der „eingefrorenen Welt der Bilder“. Seine eigene Art der „bildlichen“ Wahrnehmung entwickelte er in der Schule und vertiefte sie während seines Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in Danzig. Er war fasziniert von der Plakatkunst der Vertreter der sogenannten polnischen Plakatschule, Henryk Tomaszewski, Wojciech Fangor und Jan Lenica, auf deren Werke er sich immer wieder bezog. 1981 machte er seinen Hochschulabschluss an der Akademie. Ein Jahrzehnt später, als Künstler mit ersten Erfolgen, erhielt er ein Künstlervisum und reiste mit seiner Familie nach Cuxhaven, um eine Ausstellung in Bielefeld vorzubereiten.
Nach einiger Zeit beschloss er, in Deutschland zu bleiben. Er entwickelte eine Karriere als Grafiker. Die Arbeiten des polnischen Künstlers, dessen Zeichnungen soziale oder politische Probleme perfekt auf den Punkt brachten, erregten das Interesse der führenden deutschen Zeitschriften „Der Stern“ und „Der Spiegel“ (1999 begann er eine dauerhafte Zusammenarbeit mit „Die Zeit“). Auch bei anderen Verlagen fand er sehr schnell Anerkennung. So kamen – neben den bereits erwähnten Titeln – weitere Titel hinzu: „Cicero“, „GEO“ und „Handelsblatt“.
In den mehr als 30 Jahren seiner Tätigkeit in Deutschland schuf er über 1.000 Titelbilder und mehr als 3.000 Illustrationen für Zeitschriften. Allein für „Die Zeit“ schuf er zwischen 2001 und 2014 mehr als 600 Illustrationen, von denen 230 auf der Titelseite der Zeitung erschienen. Wiesław Smętek arbeitet seit Jahren auch mit deutsch-polnischen Magazinen zusammen, unter anderem mit der Zeitschrift „Deutsch-Polnisches Magazin DIALOG“. Auch Buchumschläge gestaltet er gerne.
Smęteks Arbeit wurde schon oft diskutiert und hat immer wieder lebhafte Reaktionen hervorgerufen. Er gestaltet mit viel Distanz und Humor. Oft verwendet er historische Motive, darunter solche aus der polnischen Vergangenheit und den deutsch-polnischen Beziehungen. Auf seine eigene Weise „überarbeitet“ er auch die Werke polnischer Pinsel-Meister.
Wiesław Smętek hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Im Jahr 1996 erhielt er die Goldmedaille des Art Directors Club, Deutschland.
Das Spektrum der Themen, mit denen sich der Künstler beschäftigt, ist sehr breit. Sein scharfes Auge, seine Assoziationsgabe, seine hervorragende Beherrschung des Handwerks und die Schnelligkeit seiner Umsetzung ermöglichen es ihm, sich erfolgreich mit einer Vielzahl von Themen auseinanderzusetzen. Oft war er mit der Aufgabe konfrontiert, ein fertiges Projekt innerhalb weniger Stunden zu erstellen. „Ich kenne niemanden“, schrieb der Herausgeber der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, Giovanni di Lorenzo, bewundernd über Smętek, „der in so kurzer Zeit zu fast jedem Thema aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissen, Kultur und Gesellschaft etwas Beeindruckendes zustande bringt.“
Da er jahrelang in Deutschland lebt und das Leben unserer Nachbarn aufmerksam mitverfolgt, konnte er einige interessante Beobachtungen machen. Er erwähnte dies in einem Interview mit dem Chefredakteur des „Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG“, Basil Kerski.
„Es gibt nicht das eine Deutschland“, sagte er . ”Es gibt nicht die eine Religion, es gibt keine einheitliche Gesellschaft. Ich glaube, wir wissen davon nichts, solange wir nicht eine Zeit lang hier gelebt haben. Ich hatte Glück, weil die meisten Themen, die ich zu illustrieren hatte, mir dabei halfen, neue Dinge kennenzulernen und etwas über deutsche Kultur, Geschichte und Gegenwart zu lernen.” Und er fährt fort: „Ich entdecke Deutschland stets aufs Neue. Heute leben wir in einer interessanten Zeit, die deutsche Gesellschaft als Nation definiert sich ganz neu. Dabei entstehen neue nationalistische, antieuropäische Strömungen, trotzdem glaube ich an die Stärke der deutschen Demokratie“.
In jüngster Zeit hat sich Wiesław Smętek wieder der Malerei zugewandt, in der er Techniken, Grafik und Malerei kombiniert. Erste Ergebnisse sind bereits zu sehen, u.a. in den Illustrationen für die Zeitschrift „DIALOG”.
Wiesław Smętek lebt mit seiner Familie in der Nähe von Hamburg, und wenn er Pinsel und Stifte zur Seite legt, greift er gerne zum Tennisschläger oder steigt auf ein leistungsstarkes Fahrrad (Fixie-Bike).
Vielleicht war die erwähnte Zeichnung von Wiesław Smętek nicht nur für mich bestimmt, sondern sollte nur zeigen, dass wir alle Probleme mit der Zeit haben, mit dem Einhalten von Terminen, aber auch mit der Bewältigung ihres Vergehens. Aber lasst uns rennen, solange unsere Zeit noch läuft.