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Wolhynien 1943: Die angebliche Symmetrie der Schuld

Nach der ukrainischen Vorstellung von Versöhnung ist davon zu sprechen, dass es in Wolhynien während des Zweiten Weltkriegs Kämpfe zwischen der Ukrainischen Befreiungsarmee (UPA) und der polnischen Heimatarmee (AK) gab, bei denen beide Seiten ähnliche Kriegsverbrechen begingen. Diese Tatsache sei also als gemeinsame Tragödie anzuerkennen, die wir uns wechselseitig zu verzeihen hätten und die uns verbinden und nicht trennen solle. Deshalb benutzen die Ukrainer anstelle des Ausdrucks „wolhynisches Verbrechen“ die Bezeichnung „wolhynische Tragödie“.

 

Urszula Pieczek spricht mit Grzegorz Motyka

 

Urszula Pieczek: Sie haben sich verschiedentlich geäußert, Ukrainer und Polen verbinde alles ‒ außer der Geschichte. Welche Ereignisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts oder genauer, der Jahre 1943‒1947 ziehen die deutlichste Trennlinie zwischen beiden Nationen?

 

Grzegorz Motyka: Auf das polnisch-ukrainische Verhältnis traf das recht genau um 1991 zu. Heute würde ich anders formulieren: In politischer Hinsicht trennt uns nichts außer den Ereignissen, die unter dem Schlagwort Wolhynien 1943 zusammengefasst werden. Zwischen der polnischen und der ukrainischen öffentlichen Meinung, beiden Ländern und ihren politischen Führungsschichten zeichnet sich ein sehr tiefgreifender Unterschied in den Ansichten und Vorstellungen von dem ab, was damals geschah und wie dieses Problem heute im Umgang mit der Vergangenheit gelöst werden sollte.

 

Welches sind demnach die Unterschiede, wenn sich Polen und Ukrainer an die Geschehnisse in Wolhynien erinnern? In Polen ist diese Erinnerung sehr lebendig, besonders jeweils in der ersten Julihälfte, dagegen ist in der Ukraine oft zu hören, beim Wolhynienmassaker setze in der ukrainischen Gesellschaft Gedächtnisschwund ein, wie es beispielsweise Jaroslaw Hryzak formuliert. Geht die Auseinandersetzung im Kern auf diesen Gegensatz des spiegelbildlichen Erinnerns und Nichterinnerns zurück?

 

© Zygmunt Januszewski

Für die Polen zählen die Verbrechen in Wolhynien und Galizien zu den blutigsten Episoden des Zweiten Weltkriegs. Ich möchte ins Gedächtnis rufen, dass die „antipolnische Aktion“ von Stepan Banderas Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN-B) und der UPA eine Säuberung war, bei der die Vertreibung oder Ermordung von 1,5 Millionen Polen vorgesehen war; tatsächlich wurden etwa 100.000 Polen ermordet und 300-400.000 vertrieben. Weitere 800.000 Polen siedelten die Kommunisten auf Anweisung Stalins aus. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist in den Familien, die damals davon betroffen waren, sehr lebendig.

 

In der Ukraine war das Wissen darum immer sehr gering. Mein Eindruck ist jedoch, dass in den letzten Jahren die Behauptung, die Ukrainer wüssten darüber nichts, erstens nicht ganz richtig ist und zweitens immer häufiger eingesetzt wird, um durch die Blume zu sagen, man solle darüber besser schweigen.

 

Diese Formulierung war noch bis 2003 zutreffend, bis zum 60. Jahrestag des Wolhynienmassakers; damals fand eine umfassende Debatte über die Ereignisse des Sommers 1943 in der Ukraine statt. Natürlich war daran nur die ukrainische Intelligenz interessiert, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass heute noch jemand aus den ukrainischen Eliten nicht um die Auseinandersetzung mit Polen wegen der Geschehnisse in Wolhynien wüsste. Wenn also jetzt jemand diese Formulierung gebraucht, dann zumeist, um indirekt zu sagen: „Ich kann nichts tun, weil in unserer Gesellschaft darüber nichts bekannt ist.“ Aber woher soll es die Gesellschaft auch erfahren, wenn Publikationen die antipolnischen Säuberungen überwiegend verzerrt darstellen?

 

Unter den Neuerscheinungen seit 2003 kann ich buchstäblich an den Fingern einer Hand diejenigen Darstellungen abzählen, die zwar aus ukrainischer Perspektive, aber dennoch mit Empathie für die polnischen Opfer die damaligen Ereignisse behandeln.

 

Ich denke dabei an die Bücher von Ihor Iljuschyn, Oleksandr Sajzew oder auch das vor kurzem erschienene Buch von Iwan Olchowskyj, eine investigative Reportage zum Thema Taras Bulba-Borowez [Taras Borowez (1908‒1981), ukrainischer Partisanenführer, Gegner Stepan Banderas; A.d.Ü.]. Alle übrigen Publikationen zu Wolhynien sind defensiv und versuchen, die „antipolnische Aktion“ zu beschönigen oder zu relativieren. Daraus entsteht ein Eindruck von den Ereignissen, als habe es im Zweiten Weltkrieg eine spiegelbildliche Entsprechung zwischen dem gegeben, was den Polen und was den Ukrainern zustieß. Bisher wurde in der Ukraine keine einzige Arbeit verfasst, die sich mit den Studien von Jan Tomasz Gross vergleichen ließe, dagegen gibt es eine Menge Bücher, die denen von Marek Jan Chodakiewicz entsprechen. Wenn Sie mir nicht glauben, schauen Sie sich doch bitte einmal genauer Äußerungen ukrainischer Politiker über die Verbrechen in Wolhynien an. Die Wortwahl ist stets so, als sei nicht ganz genau bekannt, was in Wolhynien wirklich passiert ist.

 

Und doch ist es passiert…

 

Die Forschung zeigt eindeutig, dass die Hauptverantwortung für Wolhynien 1943 bei der Organisation der Ukrainischen Nationalisten und der Ukrainischen Aufstandsarmee liegt. Dagegen stellen die ukrainischen Medien meist das Wolhynienmassaker als gegenseitige ethnische Säuberungen hin; diese Behauptung bringt beispielsweise das ansonsten sehr gute ukrainische Geschichtsportal „Ukrainska Prawda“.

 

Sie haben die Arbeiten von Ihor Iljuschyn genannt, der ziemlich empathisch über die polnischen Opfer schreibt, doch beschränkt sich seine Darstellung eigentlich auf die bloßen Ereignisse. Anders als Sie in Ihren Büchern geht er nicht einen Schritt weiter, indem er klar und deutlich sagt, dass die Ereignisse des Juli 1943 in Wolhynien ein Völkermord waren. Wird es zur Aussöhnung reichen, bei der Benennung der Dinge auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen?

 

Ich würde mir sehr wünschen, dass die polnisch-ukrainische Auseinandersetzung um die Ereignisse in Wolhynien so aussähe wie meine Diskussion mit Iljuschyn, ob dies ein Völkermord war oder nicht. Leider ist es damit schlechter bestellt. Die ukrainische Seite verneint zumeist die gezielte Steuerung des Verbrechens. Demnach sei dies nicht nur kein Völkermord gewesen, vielmehr könne man auch nicht OUN und UPA insgesamt für die Ausschreitungen verantwortlich machen, sondern höchstens einzelne ihrer Mitglieder. So wie sich die Ukrainer Versöhnung vorstellen, ist die Sprachregelung, es habe in Wolhynien Kämpfe zwischen UPA und AK gegeben, bei denen beide Seiten ähnliche Kriegsverbrechen begingen. Diese Tatsache sei also als gemeinsame Tragödie anzuerkennen, die wir einander zu verzeihen hätten und die uns verbinden und nicht trennen solle. Deshalb benutzen die Ukrainer anstelle des Ausdrucks „wolhynisches Verbrechen“ die Bezeichnung „wolhynische Tragödie“. Meinem Eindruck nach handelt es sich um eine getreue Kopie des russischen Narrativs vom Großen Hunger. Bekanntlich vertreten ukrainische Historiker die These, dass zwar in den dreißiger Jahren in der gesamten UdSSR Hungersnot herrschte, diese jedoch in der Ukraine mit drei Millionen Toten die meisten Opfer forderte und den Charakter eines Völkermords an der ukrainischen Nation einnahm. Dagegen sprechen russische Historiker in diesem Kontext von der Trägödie aller Nationen der UdSSR, an die zu erinnern die Menschen in den postsowjetischen Staaten sich verbinden und nicht trennen solle.

 

Manchmal heißt es auch zur Belegung dieser Art von Symmetrie, es seien schließlich auf beiden Seiten Frauen und Kinder umgekommen. Wenn wir dieses Narrativ übernehmen, erkennen wir damit nicht allein die UPA als eine der AK gleichwertige Formation an, sondern setzen auch ein Gleichheitszeichen zwischen den von UPA und AK begangenen Verbrechen. Folglich stimmen wir einer historisch völlig verkehrten Symmetrie des Verschuldens zu, die dem Polnischen Untergrundstaat die Verantwortung für einen angeblichen Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung anlastet. Wir erklären uns also damit einverstanden, in den öffentlichen Medien die AK nicht als eine der französischen oder norwegischen Widerstandsbewegung gegen die Deutschen ähnliche Formation zu bezeichnen, sondern als etwas in der Art von Draža Mihailović’ Četniks, die mit den Deutschen kollaborierten und ethnische Säuberungen gegen die Bosnier durchführten. Wenn sich die polnische öffentliche Meinung so sehr über die deutsche Fernsehserie „Unsere Mütter, unsere Väter“ aufregte, in der AK-Leute nicht nur Deutsche, sondern auch Juden töten, dann stellen wir uns einmal vor, wie sie wohl auf einen Film reagieren würde, in dem der polnisch-ukrainische Konflikt als gegenseitige, symmetrische Auslöschung von Dörfern dargestellt würde. Und genauso werden die polnisch-ukrainischen Auseinandersetzungen bereits in im Westen erscheinenden Büchern dargestellt.

 

Aus Sicht der Ukrainer wäre es besser, die UPA als militärische Einheit anzuerkennen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfte; das ist beispielsweise das Narrativ in Oksana Sabuschkos „Museum der verlorenen Geheimnisse“, das als modernes Nationalepos gilt.

 

Die übrigens nicht nur von Oksana Sabuschko vertretene Auffassung, die Ukrainer würden die Verbrechen der UPA dann aufarbeiten, wenn diese als um die Unabhängigkeit kämpfende Armee anerkannt würde, ist leider eine weitere Ausrede, um die schwierige historische Diskussion auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Schließlich hat die ukrainische Seite vor einem Jahr zwar durch die Hinterpforte, aber auf spektakuläre Art und so, dass es vielleicht Bronisław Komorowski das Präsidentenamt gekostet hat, faktisch OUN und UPA als Unabhängigkeitskämpfer anerkannt, genau an dem Tag, da Komorowski vor der Obersten Rada der Ukraine sprach. Seither haben wir aufgegeben zu erwarten, dass die Massenverbrechen in Wolhynien 1943 klar und zweifelsfrei verurteilen würden, stattdessen kann jemand für Kritik an der UPA aufgrund der damals erlassenen Bestimmungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Obwohl hinzugefügt werden sollte, dass Präsident Petro Poroschenkos Kranzniederlegung auf dem Wolhynischen Platz in Warschau am 8. Juli 2016 die Hoffnung weckt, die Dinge könnten sich weiterentwickeln.

© Zygmunt Januszewski

Die Frage nach einer Verständigung scheint vor diesem Hintergrund überflüssig. Dennoch will ich sie riskieren: Was ist zu tun, damit sich Polen und die Ukraine versöhnen?

 

Seit über zehn Jahren beobachte ich den stets gleichen Ablauf: In der Zeit zwischen den Jahrestagen führt jede Andeutung, dass die Wolhynien-Frage gelöst werden muss, auf polnisch-ukrainischen Konferenzen zu Irritationen und löste eine Welle ritueller Vergewisserungen aus, die schwierige Vergangenheit müsse bewältigt werden, anschließend kommt der Jahrestag, allen wird das Problem klar und man fängt an, sich über die Geschichte zu streiten. Kurz nach dem 11. Juli schließt sich der Kreis wieder. Wenn wir tatsächlich aus diesem Schwitzkasten herauskommen wollen, sollten wir ehrlich, vielleicht sogar mit brutaler Offenheit miteinander reden und unsere Standpunkte und Erwartungen klarmachen.

 

Meines Erachtens ist die Frage der Bewertung der UPA von der Frage der von ihr begangenen Verbrechen zu trennen.

Die Ukrainer werden selbst so oder so entscheiden müssen, ob die UPA-Kommandeure Helden oder Verbrecher oder beides zugleich waren. Aber wir können uns auf keinen Fall damit abfinden, die Verantwortung der UPA für die Verbrechen in Wolhynien und Galizien zu negieren. Es muss ein eindeutiges Bekenntnis geben, dass OUN und UPA organisierte Mordtaten an Polen begingen, und diese müssen von offizieller Seite verurteilt werden. Derartiges war von ukrainischer Regierungsseite bisher nicht zu hören. Zu einer Verständigung in historischen Streitfragen zu kommen, erfordert natürlich viel Zeit und Geduld. Ein Ort, an dem eine ehrliche Diskussion geführt werden kann, ist das Historikerforum, das vom polnischen und vom ukrainischen Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) eingerichtet wurde.

 

Hat es damit sein Bewenden?

Insoweit es um Versuche des Dialogs geht, haben sich die griechisch-katholischen und die römisch-katholischen Bischöfe in einem Schreiben von 2013 am weitesten vorgewagt. Dieses Dokument sollte ein Beispiel geben ‒ auch wenn es nicht zufällig sowohl von polnischen als auch von ukrainischen Nationalisten ignoriert wurde ‒, weil es die Empfindlichkeiten beider Seiten respektierte, aber zugleich zu verstehen gab, es sei falsch, an einer Symmetrie der Schuld festzuhalten. Und auch wenn ein Schreiben nicht das Problem löst, bildet es einen hervorragenden Ausgangspunkt als Muster, an dem man sich in der weiteren Debatte orientieren kann.

Um eine gemeinsame Plattform zur Verständigung zu finden, könnte auch die Diskussion um den Metropoliten Andrej Scheptyzkyj helfen. Die Leute aus den historischen polnischen Ostgebieten, den kresy, widersetzen sich seiner Seligsprechung und werfen ihm Zusammenarbeit mit der UPA vor, aber das entspricht nicht der Wahrheit. Tatsache ist, dass sich Scheptyzkyj eindeutig gegen die Berufung von Feldgeistlichen für die UPA aussprach und die griechisch-katholischen Priester, die in diesen Einheiten dienten (insgesamt nicht mehr als ein gutes Dutzend), taten dies aus eigener Entscheidung und gegen den Willen des Metropoliten. Wenn man sich einmal die Morallehre Scheptyzkyjs oder auch etwa diejenige des Bischofs Hryhorij Chomyschyn genauer ansieht, kann das nur positiven Einfluss auf den polnisch-ukrainischen Dialog haben. Ich habe alle zugänglichen Äußerungen des Metropoliten Scheptyzkyj aus der Zeit des Krieges gelesen. Der Erzbischof unternahm an der Jahreswende 1941/42, wenn man so sagen darf, einen Kreuzzug zum Schutz des Lebens und gemahnte die Gläubigen an die Einhaltung des fünften Gebots. Sein bekanntester Hirtenbrief „Töte nicht!“ fasst ein ganzes Jahr an Vorträgen und Konferenzen zusammen. Darin wird eine unglaublich tiefe Ethik deutlich, die im Grunde vorwegnimmt, was Johannes Paul II. später in „Evangelium Vitae“ machte, seiner Enzyklika über die Heiligkeit des Lebens. 1944 gab Erzbischof Scheptyzkyj auch gemeinsam mit anderen griechisch-katholischen Bischöfen den Hirtenbrief „Friede im Herrn (über das Töten von Geistlichen)“ heraus, der ein offenkundiger Protest gegen die „antipolnische Aktion“ war, die damals gerade in Ostgalizien begann. Dort heißt es: „Wer durch sein Verhalten die Einheit der beiden katholischen Konfessionen spaltet, die sich lediglich durch ihren Ritus unterscheiden, sich dieser Einheit widersetzt und auf diese Weise bei den Gläubigen des einen Ritus Groll, Abneigung und Hass gegen die Gläubigen des anderen Ritus hervorruft, der versetzt der Kirche einen Schlag in ihrem Wesenskern einer alles umfassenden brüderlichen Liebe.“ Diese Worte zielten unmittelbar gegen die Politik der Bandera-Anhänger von 1944, und so wurden sie auch von diesen aufgenommen.

 

Wieso mögen die Grenzlandmilieus Scheptyzkyj dann trotzdem nicht?

Sie folgen dabei der stereotypen Vorstellung, die griechisch-katholische Geistlichkeit habe die „antipolnische Aktion“ geschlossen unterstützt. Das ist nicht wahr, aber das Stereotyp ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Viele glauben, es seien damals massenhaft Messer vor den Überfällen auf die Polen gesegnet worden, dabei haben sich solche Vorgänge bisher nicht dokumentarisch belegen lassen. Sollte es das doch irgendwo gegeben haben, lässt es sich nicht verifizieren.

 

Wenn wir weiter zurückblicken, können wir die Abneigung gegen die griechisch-katholische Kirche noch bis auf den Nationalitätenstreit im Ostgalizien des 19. Jahrhunderts zurückführen. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit der Formierung und überhaupt erst des „Erfindens“ der Nationen. Die griechisch-katholische Kirche stellte sich in Ostgalizien auf die Seite der ukrainischen nationalen Sache. So trug sie dazu bei, dass viele Einwohner der Region eine ukrainische Identität annahmen. Dieser Streit darum, was die Ostgalizier nun eigentlich seien, Polen oder Ukrainer, hat sich auf die Wahrnehmung der griechisch-katholischen Kirche ausgewirkt. Im polnischen Umfeld wurde sie als Konkurrent bei der Gewinnung der Seelen der Nation gesehen, wie es so schön heißt. Die griechisch-katholische Kirche steht weiterhin fest zu ihrer ukrainischen Partei, das heißt aber noch lange nicht, dass sie damit guthieß, was die Bandera-Partisanen im Krieg taten.

 

Da wir schon einmal von Persönlichkeiten reden, die eng mit dem Wolhynienmassaker assoziiert werden, sprechen wir doch von Stepan Bandera, der mit diesen Ereignissen wie kein anderer identifiziert wird. Manchmal drängt sich sogar der Eindruck auf, er habe tatsächlich diese Säuberung angeführt, obwohl er persönlich gar nicht vor Ort war. Wieso gilt er besonders in der Westukraine als Nationalheld? Es lässt sich nachvollziehen, dass die Ukrainer als junge Nation ein Heldenpantheon brauchen, um ihre Identität klar zu bestimmen, aber Bandera löst selbst bei den größten Ukrainophilen Widerspruch aus.

 

In der Tat war es so, dass sich Bandera beim Beginn der antipolnischen Säuberungen in dem deutschen Konzentrationslager Sachsenhausen befand. Doch für die Bewegung, welche die Säuberungen durchführte, war Bandera die Ikone und das Banner, auf ihn berief man sich während des Unternehmens, er hat sich auch niemals von den Ereignissen distanziert. Was auch sehr wesentlich ist, die Idee für antipolnische Säuberungen wurde bereits in den dreißiger Jahren von Mychajlo Kolodzinskyj in einer Ausarbeitung entwickelt (ich schreibe davon ausführlich in meinem in Kürze erscheinenden Buch), um so das Nationalitätenproblem in Ostgalizien zu lösen, sie kam in einem ganz engen Zirkel junger Nationalisten auf, dem Stepan Bandera angehörte. Er wusste fraglos von den Plänen und wenn ihm die Deutschen 1941 erlaubt hätten, sich an die Spitze eines ukrainischen Staates zu stellen, hätte er sie gewiss in dieser oder jener Form umgesetzt.

 

Die polnisch-ukrainische Geschichte ist überreich an kontroversen Fragen, doch über eine falsche Symmetrie lässt sich nicht nur in dem Fall sprechen, wie an Wolhynien erinnert wird; dasselbe Problem gilt für Ereignisse vor und nach dem Krieg, die zwecks politischer Instrumentalisierung als Vergeltung betrachtet werden.

 

Es ist offen einzugestehen: Ohne Frage diskriminierte die Nationalitätenpolitik der Zweiten Republik Polen die Ukrainer. Sie wurden als Bürger zweiter Klasse behandelt und die Zerstörung von mehr als einhundert orthodoxen Kirchen im Gebiet von Lublin 1938 war eine schändliche Tat. Das rechtfertigt jedoch in keiner Weise die „antipolnische Aktion“ der UPA! Die Nationalisten ignorierten die Aufrufe des Metropoliten Scheptyzkyj, nicht mit verbrecherischen Methoden um die Unabhängigkeit zu kämpfen. Übrigens rechtfertigt das, was in Wolhynien passiertte, genauso wenig das Unternehmen „Weichsel“ nach dem Krieg und das dabei angewandte Prinzip der kollektiven Verantwortung. Die Zwangsaussiedlung polnischer Staatsbürger ukrainischer Nationalität oder solcher Personen, die sich als Lemken identifizierten, aus den südöstlichen Gebieten Polens in den Norden und Westen und ihre verstreute Ansiedlung zum Zweck, sie zu polonisieren, war meines Erachtens ein kommunistisches Verbrechen nach der Gesetzesauslegung des Instituts des Nationalen Gedenkens. Nebenbei bemerkt, das Unternehmen „Weichsel“ ist in einem innerpolnischen Kontext wichtiger als im polnisch-ukrainischen. Wenn das Thema für das polnisch-ukrainische Verhältnis eine Rolle spielt, werden darin meist auch die Aussiedlungen in die Sowjetukraine 1944‒1946 einbegriffen. Interessanterweise geht es beim Streit um die Aussiedlungen von 1947 immer weniger um Geschichte. Denn offenkundig halfen die Aussiedlungen der Zivilbevölkerung bei der Zerschlagung des ukrainischen Untergrunds, waren aber dazu keine unbedingte Voraussetzung; die UPA hätte in der Region auch mit anderen Methoden zerschlagen werden können, ohne pauschal solche brutalen Mittel gegen alle Einwohner anzuwenden, die mehrheitlich nichts mit den Nationalisten zu tun hatten oder sie sogar ablehnten. Und das ist ziemlich offenkundig, selbst wenn dem etliche aus emotionalen Gründen widersprechen.

 

Wenn wir uns heute über die Aktion „Weichsel“ auseinandersetzten, dreht sich die Diskussion in Wahrheit oft darum, wie der polnische Staat heute aussehen soll.

 

Ob die Republik Polen ein Staat sein soll, dessen Verfassungsvorschrift wir ernstnehmen, alle Staatsangehörigen ohne Ansehen ihrer Nationalität, ethnischen Herkunft, ihres Glaubensbekenntnisses gleich zu behandeln, oder ob wir wollen, dass es sich um einen polnischen Staat mit einer eindeutig polonozentrischen Sicht auf die Vergangenheit handelt, in dem es keinen Platz für irgendwelche Abweichungen gibt und der den Minderheiten abverlangt, eine einzige Sichtweise widerspruchslos zu akzeptieren? Die Anhänger einer homogenen, nationalen Sicht auf die Geschichte erwarten meist von den polnischen Bürgern ukrainischer Nationalität ‒ und hier mache ich keinen Hehl daraus, dass mich solche Meinungen außerordentlich empören ‒, das Unternehmen „Weichsel“ als gut und gerecht anzuerkennen. Vom Menschen zu erwarten, dass das Unrecht, das sie selbst oder ihre Eltern und Großeltern betroffen hat, also die widerrechtliche Exmittierung aus dem Haus, die Versuche, sie zwangsweise zu polonisieren und ihnen die nationale, kulturelle und religiöse Identität zu nehmen, schließlich die langen Jahre der kommunistischen Bespitzelung und Boshaftigkeiten als normal und gerechtfertigt anzusehen, ist meiner Überzeugung nach nicht mit den Prinzipien der Verfassung und einer Auffassung Polens zu vereinbaren, die sich daraus ableiten sollte. Außerdem ist das einfach nur niederträchtig…

 

Beim Nachdenken über diejenigen Ereignisse, die uns am stärksten trennen, kommen wir jedoch nicht daran vorbei, nach der „Welt vor dem Ende der Welt“ zu fragen ‒ Galizien galt als multinationaler Organismus, als eine Art von Schmelztigel. Beispielsweise überrascht in dem gerade erscheinenden Buch von Witold Szabłowski „Gerechte Verräter. Die Nachbarn aus Wolhynien“ nicht nur die ukrainische, sondern auch zum Beispiel die tschechische Erinnerung an die Polen, die in der Vorkriegszeit in Wolhynien lebten und die ohne Umschweife erzählen, wie abscheulich sich die Polen in der Region verhielten. Kann wiederum das größere Interesse an dem Wolhynienmassaker, wie es im Szabłowskis Buch oder in Wojciech Smarzowskis Film zum Ausdruck kommt, radikalen nationalistischen Kreisen einen Freischein dafür geben, für eine weitere Polarisierung im polnisch-ukrainischen Verhältnis zu sorgen?

 

Dass die Wolhynien-Thematik immer größeres Interesse findet, möchte ich eher als Chance begreifen, sie endlich klug durchzudiskutieren, vielleicht sogar laut herauszubrüllen. Nur eine offene Diskussion ermöglicht, die Emotionen zurückzufahren, welche die Thematik begleiten. Ich bitte zu beachten, dass die größte Stärke von Szabłowskis Reportage die Tatsache ist, dass er die Ereignisse in Wolhynien in den Kontext der heutigen Debatte von Journalisten, Wissenschaftlern und Publizisten zum Genozid stellt. Die vom Autor beschriebenen Ereignisse könnten sich genausogut in Ruanda oder Kambodscha abspielen. Dies sollte eine Warnung an diejenigen sein, die im polnisch-ukrainischen Verhältnis nach bequemen Abkürzungen suchen und das Thema Wolhynien mit Euphemismen zutünchen möchten.

 

Große Verbrechen erschüttern die Menschen und lösen starke Gefühle aus, sie rufen dabei neue Generationen von Antigones ins Leben, die stets versuchen werden, ihre Nächsten symbolisch zu bestatten und das Gedenken an die Opfer zu bewahren. Solange wir dieses Problem nicht wirklich lösen, indem wir die Opfer würdigen und die Verbrechen verurteilen, wird uns das Thema stets weiter begleiten.

 

Grzegorz Motyka ‒ Professor am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Herausgeber von „Wolhynien ’43. Die genozidale Säuberung: Fakten, Analogien, Geschichtspolitik“ (poln.).

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Das Gespräch erschien in der Monatszeitschrift ZNAK, September 2016, Nr. 736

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