Die Ukraine war lange Zeit von dem Streit um die beiden Ukrainen geplagt – den angeblichen Gegensatz zwischen Osten und Westen des Landes. Aus dieser These und Antithese ward die Synthese geboren, nämlich die einer dritten Ukraine. Deren Hauptstadt ist Charkiw, ein Schlüssel zum Verständnis der modernen Ukraine.
Als die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit gewann, stand der neue Abschnitt ihrer Geschichte unter erheblich größeren Belastungen als derjenige Polens seit 1989. Während die allermeisten Polen darin übereinstimmten, dass der Anschluss an den Westen zu suchen sei, waren die Ukrainer in den ersten Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR in dieser Frage gespalten, und ein gewisser Anteil war gar gegen die Unabhängigkeit des Landes an sich. Die innerukrainischen Streitigkeiten wurden zusätzlich dadurch angefacht, dass die Ukraine wie kein anderes Land Ostmitteleuropas aus historisch, sprachlich und der Mentalität nach heterogenen Regionen besteht. Die Ukrainer standen vor der ungeheuren Herausforderung, aus den Bewohnern so verschiedener Regionen wie dem Donbas, Galiziens, dem Gebiet von Odesa, Wolhynien und der Krim eine geschlossene Gesellschaft zu schaffen.
Der Schriftsteller und Journalist Mykola Rjabtschuk konzeptualisierte diese Spaltung 2003 in seinem ausgezeichneten Essay „Die zwei Ukrainen“. Er stellt hier zwei Idealtypen vor, nämlich, vereinfacht gesprochen, den ukrainischsprachigen Westen, der zu Europa neigt, und den russischsprachigen Osten, den es zu Russland hinzieht. In den Jahren nach 1991 war mal der Osten, mal der Westen stärker. Diese beiden Ukrainen rivalisierten unablässig miteinander, was im Jahr nach dem Erscheinen von Rjabtschuks Essay offenkundig wurde, während der Orangen Revolution und dem Konflikt zwischen Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowytsch.
Bei den dritten Majdan-Protesten an der Jahreswende 2013/14 setze eine verstärkte Diskussion über die „dritte Ukraine“ ein: eine zweisprachige, die sich auf eine nicht ethnische, sondern politische Nation stützt und das historische Gedächtnis an die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) [den rechtsnationalistischen ukrainischen bewaffneten Untergrund, der während des Zweiten Weltkriegs sowohl gegen Polen, Sowjets als auch zeitweise Deutsche kämpfte; A.d.Ü.] wie auch die Rote Armee pflegt, bereit, um eine unabhängige Ukraine zu verteidigen und gegen die Diktatur zu kämpfen, ohne Rücksicht auf die Herkunftsregion. Nach 2014 wurde die gemeinsame Anstrengung von Menschen aus dem ganzen Land im Krieg gegen Russland zum Sinnbild der dritten Ukraine, nach 2019 personifiziert von Wolodymyr Selenskyj, der aus der Industriestadt Krywyj Rih stammt, jüdische Wurzeln hat, als Schauspieler ein Star in vielen Ländern der vormaligen UdSSR war und dessen Erstsprache Russisch war, während er sich das Ukrainische erst aneignen musste.
Diese dritte Ukraine der Imagination entnahm des Beste aus den „zwei Ukrainen“.
Die zwei Ukrainen wurden gleichgesetzt mit dem postösterreichischen Lemberg und dem postsowjetischen Donezk. Das Antlitz der dritten Ukraine dagegen ist eine andere Stadt: Charkiw. Dieses Phänomen wurde von der „Herito“-Redaktion in der unlängst erschienenen Nummer der Zeitschrift mit dem Hefttitel „Charków“ [polnische Namensform von Charkiw; A.d.Ü.] zum Thema gemacht.
„Herito“ und der Herausgeber der Zeitschrift, das Internationale Kulturzentrum (MCK) in Krakau, laufen nicht der aktuellen Mode für alles Ukrainische nach, sondern interessieren sich schon lange für das Land, wenn auch mit dem Schwerpunkt auf Galizien. An seiner Krakauer Adresse Rynek 25 waren allein in den letzten zehn Jahren solch ausgezeichnete Ausstellungen wie „Ukraine. Warten auf den Helden“ mit Arbeiten von Wolodymyr Kostyrko und Jewhen Rawskyj zu sehen, „Mythos Galizien“ und „Ukraine. Wechselseitige Blicke“. Das MCK war Herausgeber wichtiger Bücher wie zum Beispiel Larry Wolffs „Die Idee Galiziens“1 oder auch seine „Erfindung Osteuropas“2, welche die Thematik in einen weiteren Kontext stellt. Das MCK ist Veranstaltungsort wichtiger Podiumsdiskussionen wie derjenigen im Herbst letzten Jahres mit Oksana Sabuschko, die von Rechtsextremen gestört wurde, oder unlängst derjenigen mit Serhij Schadan, der als Künstler der wichtigste Botschafter Charkiws und sicher der ganzen Ukraine ist.
Die Kunsthistorikerin Oksana Barschynowa stellt in „Herito“ heraus, in Charkiw habe sich nie so klar wie in Lemberg oder im Donbas eine regionale Identität entwickelt: „Es lässt sich jedoch annehmen, dass die Art und Weise, in der in Charkiw und der Sloboda-Ukraine [historische Region im Nordosten der Ukraine; A.d.Ü.] die Welt wahrgenommen wird, von der Steppe, dem Mythos der ,ersten Hauptstadt‘, der Geschichte der Kosaken, der erschossenen Wiedergeburt, Hryhorij Skorowoda [ukrainischer Philosoph, 1722–1794; A.d.Ü.] und der Universität definiert werden.“ Die Autorinnen und Autoren von „Herito“ räumen insbesondere den Jahren 1917 bis 1934 breiten Raum ein, als Charkiw Hauptstadt der Sowjetukraine war; dieser Zeitabschnitt war sehr bestimmend für den Verlauf des 20. Jahrhunderts und die Hochzeit der Charkiwer Kultur.
Es waren Jahre der rasanten Stadtentwicklung. Von 173.000 Einwohnern im Jahr 1913 wuchs Charkiw bis 1939 auf 832.000. Mychajlo Hruschewskyj, der erste Präsident der Ukraine, schrieb 1924 an einen amerikanischen Freund: „Kiew ist trübe Provinz, und wenn du etwas zuwege bringen willst, dann musst du nach Charkiw schauen.“ Charkiw wurde zur Metropole und zum Vorzeigeobjekt der ukrainischen Avantgarde. Die Hauptstadtzeit von Charkiw fiel in die Jahre der sowjetischen korenizacija („Einwurzelung“), also eine Zeit der Autonomie in Kultur, Bildung und Sprache für die sowjetischen Nationen während der 1920er Jahre unter dem Motto „national in der Form, sowjetisch im Inhalt“. Die ukrainische Kultur hatte hier eine Blütezeit, und dabei war es noch unlängst im zarischen Russland verboten gewesen, auf Ukrainisch zu publizieren oder selbst den Namen „Ukraine“ zu verwenden. Die Hauptstadt Charkiw entstand jedoch nicht in aus dem intellektuellen Nichts: Hier gab es seit 1805 die nach Lemberg zweite Universität im Gebiet der heutigen Ukraine, die erste Universität des Teils der Ukraine, der damals zum Russländischen Reich gehörte. Das hat bis heute Folgen: Bis zum 24. Februar 2022 studierten in der Geschichte der Universität insgesamt etwa 400.000 Studierende in Charkiw. Das Thema Charkiw in der damaligen Zeit ist umso interessanter, als in der polnischsprachigen Literatur über das sowjetische Charkiw der Zwischenkriegszeit nicht viel zu finden ist.
Ein großer Teil der genannten Ausgabe von „Herito“ ist der Architektur von Charkiw gewidmet; die Essays von Jewgenija Gubkina „Das neue Charkiw. Das ukrainische Erbe linker Urbanistik“ und Owen Hatherleys „Charkiwer Mammuts“ zum Thema sind ganz ausgezeichnet. Die Mammuts beziehen sich auf ein Zitat von Wladimir Majakowskij, der so den Derschprom charakterisierte, einen kolossalen Bürokomplex, der den Freiheitsplatz umringt, den drittgrößten Platz in Europa. Hatherley schreibt: „Jeder würde wohl zustimmen, dass der Derschprom in Sachen Größe, Komplexität und solider Bauweise die imponierendste Errungenschaft der modernen Architektur nicht allein in der Ukraine, sondern überhaupt ist.“ Entworfen 1925 und vollendet 1928, ist der Baukomplex eines der Stadtzeichen von Charkiw und hat glücklicherweise bislang noch nicht an den Kriegsfolgen gelitten. Dagegen wurde ein Wunder des Konstruktivismus nahezu vollständig zerstört, der Kulturpalast der Eisenbahner. Der russisch-ukrainische Krieg hat viele Fronten, eine davon die architektonisch-urbanistische. So schreibt Gubkina: „Eine vernünftige, logische und gerechte Antwort dieser Institutionen auf die zahlreichen Akte des internationalen Terrorismus und den völkermörderischen Charakter des russischen Kriegs gegen die Ukraine wäre es, den Derschprom in die UNESCO-Weltkulturerbeliste einzutragen, besser noch in die Liste bedrohter Denkmäler.“
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Ukraine eine der weltweit interessantesten Arenen, auf denen die Ideen der avantgardistischen Moderne umgesetzt wurden. Diese Richtung entwickelte sich hier von der Mitte der 1920er bis zur Mitte der 1930er Jahre, als die Avantgarde dem Sozrealismus weichen musste. Der Bauboom zog viele interessante Persönlichkeiten in die Stadt, Charkiw wurde zum Experimentierfeld für Ideen, die im Westen oft eher in den Bereich des rein spekulativen Entwurfs verwiesen wurden.
1934 wurde die ukrainische Hauptstadt von Charkiw nach Kiew verlegt. Charkiw veränderte sich und wurde mit der Zeit wieder zu einer von vielen russischsprachigen Industriestädten. In den Jahren 1933/34 war Charkiw Epizentrum des Großen Hungers, der viele Millionen Opfer forderte; damals setzte sich Gareth Jones [britischer Journalist, 1905–1935; A.d.Ü.] in Moskau in den Zug, um nach Charkiw zu fahren und herauszufinden, ob etwas an den Gerüchten dran war, in der ukrainischen Provinz grassiere der Hunger. In den ausgehenden dreißiger Jahren wurden sehr viele Charkiwer Intellektuelle Repressionen ausgesetzt, viele kamen um; später wurde diese Generation und ihre Epoche als „Erschossene Wiedergeburt“ bezeichnet. Serhij Schadan sagt in „Herito“ über die Jahre, nachdem Charkiw den Hauptstadtstatus verloren hatte: „Ukrainizität und Ukrainischsprachigkeit, die so ungeniert aus dem sowjetischen Rahmen herausfielen, verlegten sich in eine Nische, in den Untergrund, nichtmals aufgrund offizieller Verbote, so wie zuvor es die zarischen Ukase zum Verbot des Gebrauchs der ukrainischen Sprache bewirkt hatten, sondern einfach deshalb, weil sie lebensgefährlich wurden, weil man dafür mit dem Leben bezahlen konnte.“ Katarzyna Kotyńska wiederum nennt das Charkiw der darauffolgenden Jahrzehnte einen „Tiegel zur Umschmelzung der Menschen in eine sowjetische Nation“. Solche Tiegel waren auch Kaliningrad, Transnistrien, der Donbas und der Krywbas, die Region, aus der Selenskyj stammt.
Charkiw liegt vierzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das ist nicht weit, und daher gingen viele so wie ich davon aus, die Stadt würde schnell von den Russen eingenommen werden. Es kam anders, und bis heute ist Charkiw frei, und die russische Armee, die bis unlängst als zweitstärkste Armee der Welt galt, erwies sich gerade so eben als zweitstärkste Armee in der Ukraine. Charkiw blieb eine ukrainische Stadt, und der zivilisatorische Sprung erfolgt immer noch in einigen Dutzend Kilometern Entfernung.
Wie aber Natalija Iwanowa bemerkt, Direktorin des städtischen Wasyl-Jermilow-Zentrums für Moderne Kunst: Für die Einwohner der Ostukraine einschließlich Charkiws begann der Krieg 2014. Charkiw hat sich im Laufe dieses Jahrzehnts stark verändert. Im Jahr 2014 sah es die Zusammenstöße zwischen Majdan und dem pro-Janukowytsch-Antimajdan, bei denen Serhij Schadan verletzt wurde, und der Sicherheitsdienst der Ukraine bezichtigte den Bürgermeister von Charkiw und den Gouverneur der Oblast, separatistische Stimmungen zu schüren. Die Stadt war in sich zerrissen.
Doch es entstand keine Charkiwer Volksrepublik, und die Aufmerksamkeit der Welt richtete sich nach der Annexion der Krim auf den Donbas. Auf der mentalen Landkarte der Europäer wurde Charkiw erst im vergangenen Jahr sichtbar. Viele tausend Flüchtlinge trafen damals mit den Beinen ihre Wahl – sie flohen nicht, wie es die russische Propaganda wollte, in das nahegelegene Russland, von dem aus die Geschosse niedergingen, sondern entschieden sich für die mehr als eintausend Kilometer lange Reise in die Europäische Union. Wie sich erwies, hatte nicht Jurij Andruchowytsch mit seinen Diagnosen recht, der Schriftsteller aus Rjabtschuks „erster“ Ukraine im Westen, sondern der aus der „zweiten“ Ukraine stammende Serhij Schadan. Der Autor von „Woroschylowgrad“ und „Das Internat“ meinte nämlich, es dürfe nicht geschehen, dass der Donbas bei Russland verbleibe; es sei klar, dass Putin sich nicht mit einem kleinen Stück der Ukraine zufriedengeben werde, sondern sie ganz zu besetzen versuchen würde. Im Dilemma der ukrainischen Intelligenz der Jahre zwischen der Annexion der Krim und dem Beginn des offenen Kriegs – europäische Integration oder territoriale Integrität um jeden Preis? – wählte der Charkiwer Schadan das letztere. Und die Geschichte gab ihm recht.
Und Schadans Charkiw wurde nach vielen Jahren wieder zur Hauptstadt der Ukraine, nämlich der dritten Ukraine.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
1 Ideja Galicji. Historia i fantazja w kulturze politycznej Habsburgów [Die Idee Galiziens. Geschichte und Fantasie in der politischen Kultur der Habsburger], Kraków: Międzynarodowe Centrum Kultury, 2020; Originalausgabe: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2010.
2 Wynalezienie Europy Wschodniej. Mapa cywilizacji w dobie Oświecenia [Die Erfindung Osteuropas. Eine Landkarte der Zivilisation im Zeitalter der Aufklärung], Kraków: Międzynarodowe Centrum Kultury, 2020; Originalausgabe: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, Cal.: Stanford University Press, 1994.
Möglicherweise sind diese ganzen Konflikte viel älter, als wir es uns vorstellen können. Diese Krim taucht beispielsweise in den Überlieferungen der Antike sehr oft auf – und dort gab es bereits demnach ebenfalls ständig Konflikte unter den Menschen. In den Überlieferungen der Antike heißt die Krim Tauris – gemeint ist das Land der Tauren -> https://www.mythologie-antike.com/t1274-thoas-mythologie-konig-im-land-der-tauren
PS: Es ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass es bereits ohne Ende Konflikte gegeben haben muss – und diese wurden möglicherweise bis heute immer weitervererbt.