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Der März 1968 als polnisches Problem

Die Ausstellung „Der Fremde im Haus“ im Museum der Geschichte der Polnischen Juden Polin in Warschau ist eine der wichtigsten Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Studentenunruhen vom März 1968. Ihre Bedeutung geht über das bloße Jahrestagsgedenken weit hinaus. Sie hat nämlich eine Diskussion über zentrale Fragen des polnischen historischen Gedächtnisses und der polnischen Identität ausgelöst.

 

Ein besonderer Monat

„Der Fremde im Haus“ [der Originaltitel „Obcy w domu“ ist im Polnischen bewusst doppeldeutig gewählt und kann auch bedeuten „Fremd im eigenen Haus“; A.d.Ü.] ist eine sorgfältige, sehr gut kuratierte Ausstellung mit didaktischem Ziel. Die erinnert an die Geschehnisse des März 1968, die Studentendemonstrationen, die unter anderem in Warschau, Danzig, Krakau, Radom, Lodz und Posen stattfanden, ausgelöst im Januar 1968 von einem Protest gegen das Verbot der Aufführung des Stückes „Dziady“ (Die Ahnen) von Adam Mickiewicz unter der Regie von Kazimierz Dejmek, sowie die brutale Reaktion der Machthaber auf diese Vorgänge.

 

„50 Jahre sind seit dem dramatischen Frühjahr 1968 vergangen, seit den Ereignissen, die als ‘März’ in die polnische Geschichte eingegangen sind“, schreibt Museumsdirektor Dariusz Stola im Begleitband zur Ausstellung. „Unter den mit großem Anfangsbuchstaben geschriebenen ‘polnischen Monaten’ – Oktober, Dezember, August – haftet der März wohl am wenigsten im Gedächtnis. Obwohl in den letzten Jahren viel zum Jahr 1968 in Polen veröffentlicht wurde, zu einzelnen seiner Aspekte und seinen Folgen, dürften jüngere Polen darüber doch immer noch wenig bis gar nichts wissen.“

 

Die Vorgänge in Polen lassen sich einer ganzen Reihe von Geschehnissen des Jahres 1968 zuordnen, dem Prager Frühling wie auch den Jugendprotesten im Westen. Mit den letzteren hatten sie das Aufbegehren der Jungen gegen die ältere Generation und das Establishment sowie gegen eingefahrerene gesellschaftliche Normen gemeinsam. Die Ausstellung im jüdischen Museum zeigt jedoch, was sich in Polen davon unterschied. Sie befasst sich nicht allein mit den wenigen entscheidenden Monaten von 1968, was auch der Untertitel „Rings um den März ’68“ anzeigt. Sie erzählt vom Studentenaufruhr, von der Repression durch die Machthaber einschließlich der von diesen ausgelösten antisemitischen Hetzkampagne, infolge derer 13.000 polnische Juden Polen verlassen mussten; sie stellt darüber hinaus umfassend die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft im Nachkriegspolen vor, von der Kultur bis zu den jüdischen Institutionen. Das ist eine heute weitgehend vergessene Geschichte.

 

„In der Nachkriegsgeschichte der polnischen Juden ist der März ’68 ein Wendepunkt“, schreibt Dariusz Stola. „Die damals in Gang gesetzte Kampagne aus Verleumdungen, Schikanen und Repressionen, die sich vor allem gegen Menschen jüdischer Herkunft richtete, grub sich tief in das Gedächtnis und löste eine Emigrationswelle aus, die etwa die Hälfte der jüdischen Gemeinschaft ins Ausland trieb.“ Diese Erfahrung ist der rote Faden der Ausstellung. Im Zentrum stehen Tonmitschnitte der Aussagen von achtzehn Frauen und Männern, die Zeugen der Geschehnisse waren. Sie stammen aus unterschiedlichen Teilen von Polen und gehören verschiedenen gesellschaftlichen Schichten an. Sie alle mussten sich jedoch der Frage stellen: Emigrieren oder bleiben?

 

Obwohl immer noch einige Menschen jüdischer Herkunft zurückblieben, sollte der März 1968 der tausendjährigen jüdischen Kultur in Polen ein Ende setzen. Er riss auch eine schmerzhafte Lücke in Kultur und Wissenschaft. Einige der hervorragendsten Intellektuellen Polens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verließen das Land, etwa Bronisław Baczko, Zygmunt Bauman, Leszek Kołakowski und Krzysztof Pomian. Auch Menschen, die Wesentliches zum polnischen Kino beigetragen hatten, gingen in die Emigration, wie der Regisseur Aleksander Ford, der Filmkritiker und langjährige Direktor der Lodzer Filmschule Jerzy Toeplitz und die große Schauspielerin Ida Kamińska. Die Entscheidung zur Emigration war ein dramatischer Einschnitt, denn nicht zuletzt mussten die Emigranten ihre polnische Staatsangehörigkeit aufgeben. Als Staatenlose erhielten sie nur sogenannte Reisedokumente, in denen sich der Eintrag „Polish refugees“ fand.

 

Der Fremde, ein Jude…

Emotional war die Emigration gleichbedeutend mit Entfremdung. In der Ausstellung findet sich ein Zitat aus Janina Baumans „Nigdzie na ziemi“ (Nirgends auf der Erde, erschienen 2000); auch sie verließ gemeinsam mit ihrem Mann, dem Soziologen Zygmunt Bauman, Polen nach dem März 1968: „Mucksmäuschenstill, auf den Zehenspitzen verließen wir die Wohnung […]. Die Straßen lagen in tiefem Schlaf. Niemand fuhr uns hinterher […]. In kurzer Zeit lag Warschau weit hinter uns.“ Die Emigranten waren keine homogene Gruppe. Darunter waren überzeugte Kommunisten, aber die weitaus meisten hatten dem Regime ganz ferngestanden. Menschen, die der jüdischen Kultur und Religion verbunden waren, und solche, die nichts damit verband, ja die sich bis 1968 ihrer jüdischen Wurzeln nicht einmal bewusst gewesen waren, was besonders auf die Jüngeren zutraf. Viele mussten sich selbst nach dem März neu finden: „Niemand von meinen Bekannten, die de facto aus Polen hinausgeworfen wurden, hatte vor dieser antisemitischen Kampagne das Gefühl gehabt, fremd und nicht zuhause zu sein“, sagt Adam Michnik in einem im Ausstellungsband abgedruckten Gespräch mit den Ausstellungsmacherinnen Natalia Romik und Justyna Koszarska-Szulc.

 

Einer des interessantesten Aspekte der Ausstellung ist die „Produktion von Fremdheit“, also die Absonderung, die Herausstellung von Andersartigkeit in einem solchen Maße, dass sie schließlich die jüdische Gemeinschaft außer Landes trieb. Ein Vorgang, bei dem aus dem „Eigenen“, dem „Uns“ plötzlich ein „Fremdes“ wird. Ein anderer wichtiger Aspekt ist der Rückgriff auf die antisemitische Rhetorik in ihren schlimmsten, aus dem 20. Jahrhundert bekannten Spielarten. Diese Sprache wurde übrigens zeitgleich von Michał Głowiński untersucht, der später darüber sein Buch „Marcowe gadanie“ (Märzgeschwätz, erschienen 1991) schrieb. Einen tiefen Einblick in die damalige Atmosphäre gibt auf der Ausstellung ein Eintrag aus dem Tagebuch Mieczysław Rakowskis [Politiker der PZPR und Chefredakteur der Zeitung „Polityka“, 1988/89 letzter volkspolnischer Ministerpräsident; A.d.Ü.] vom 21. März 1968: „In der Nacht brachte das Fernsehen einen Bericht von dieser Massenversammlung [in den Stahlwerken Warschaus]. Es gab Aufschriften mit der schon vertrauten Folklore: ‘Mosiek [d.h. Moische, A.d.Ü.] – Aggressor’. Mit einem Wort, alles kein Witz. Mein armes Vaterland wird einmal mehr zum Schauplatz tragischer Leidenschaften, die von einem Ende zum anderen über es hinwegfegen werden.“

 

Wieso gab es 1968 einen Rückgriff auf die antisemitische Rhetorik? Es heißt, dies sei aus Gründen parteiinterner Faktionskämpfe geschehen. Sie sei ein Instrument gewesen, um einen Generationswechsel zu erzwingen. Ein Mittel zu Zwecken der Tagespolitik, nämlich zur Diskreditierung der Köpfe der Studentenproteste. Es habe nach dem Sechstagekrieg einen Vertrauensmangel in einen Teil des Parteiapparates und der Militärführung gegeben, die proisraelischer Sympathien verdächtigt wurden. Schließlich lässt sich die Märzkampagne auch noch mit guten Gründen als Versuch der Staats‑ und Parteiführung sehen, sich bei der Gesellschaft neu zu legitimieren. Als eine Fortentwicklung der kommunistischen Diktatur, die ihre bisherigen internationalistischen Parolen durch nationalistische ersetzte und dabei die Sprache der politischen Rechten aus der Zwischenkriegszeit ihren eigenen Zwecken anpasste.

 

Am Schluss stellt sich noch die Frage nach dem März ’68 als polnischem Erinnerungsort. Obwohl im Verlauf der letzten Jahrzehnte viel dazu geschrieben wurde, drängt sich doch der Eindruck auf, dass diese Erinnerung unvollständig und bruchstückhaft ist und noch der Diskussion bedarf. Der März 1968 war auch nicht Gegenstand von Literatur und Kunst. Selbstverständlich erschien kurz nach den Ereignissen das ergreifende Gedicht „Czarny polonez“ (Die schwarze Polonaise) von Kazimierz Wierzyński. Es entstanden „Chleb rzucony umarłym“ (Brot für die Toten. Roman, 1974) von Bogdan Wojdowski, die Texte Henryk Grynberg und viele Memoiren. In der Ausstellung sind die höchst interessante „gezeichnete Reportage“ der Märzereignisse von Witold Masznicz und das Bild „Uderzenia“ (Schläge) von Erna Rosenstein zu sehen. Ebenso zu sehen ist eine neue Fassung von Krystyna Piotrowskas Videoinstallation „Wyjechałem, wyjechałam z Polski, bo…“ (Ich reiste, reiste aus Polen aus, weil…), und die bereits erwähnten Aufnahmen der Antworten von einigen Dutzend Märzemigranten über die Gründe, aus denen sie Polen verließen.

 

Bloße Vergangenheit?

„Das Engagement unserer Ausstellung rührt aus der auf dem jüdischen Museum ruhenden Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die ‘tragischen Leidenschaften’, von denen Rakowski schreibt, nicht wiederaufkommen,“ schreiben die Kuratorinnen. „Der Fremde im Haus“ ist nicht nur ein Bericht von vergangenen Dingen. Die Ausstellungsmacherinnen stellen sehr aktuelle Fragen: Liefern die ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Ereignisse Erklärungen für unsere heutige Zeit, lassen sie Gefahren deutlich werden, gestatten sie, neue Katastrophen zu vermeiden. Inwieweit definiert uns die Vergangenheit und sagt etwas über unsere Identität aus?

 

Der Fremde steht im Mittelpunkt der Ausstellung. Ein besonderer Fremder, denn er ist ein Flüchtling. Deshalb wird auch das erwähnte Reisedokument gezeigt, das die Emigranten nach dem März 1968 ausgestellt bekamen. Darin hieß es nämlich ausdrücklich, der „Inhaber des vorliegenden Dokuments“ sei „kein polnischer Staatsangehöriger“. Das machte ihn faktisch zu einem staatenlosen Flüchtling.

 

Heute befinden sich die Flüchtlinge im Mittelpunkt der politischen Debatte. So wie in Ungarn, sind sie auch in Polen zum Schreckgespenst gemacht worden. Der Wandel der Einstellungen zu den Flüchtlingen ist gravierend. Noch im Mai 2015 waren bei Meinungsumfragen drei Viertel der Polen der Auffassung, ihr Land müsse den in ihren Ländern aufgrund ihrer Überzeugungen und politischen Tätigkeit Verfolgten Schutz gewähren. Doch bereits im Dezember 2016 sprachen sich die Hälfte der Befragten dagegen aus, sie aufzunehmen (nach Meinungsumfragen des polnischen Zentrums für Demoskopie, CBOS). Und diese Abneigung hält sich bis heute, trotz Appellen etwa seitens der katholischen Kirche.

 

Was hat zu diesem merklichen Meinungswandel der Polen innerhalb von nur anderthalb Jahren geführt? Es gibt einen Zusammenhang mit den Pariser Anschlägen vom November 2015 und den späteren terroristischen Angriffen. Doch sollte ebenso wenig übersehen werden, dass die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sich im letzten Wahlkampf einer migrantenfeindlichen Rhetorik bediente, die jetzige Regierung immer noch darauf zurückgreift und die rechtsgerichteten Medien unentwegt mit islamophoben Äußerungen gegen die Flüchtlinge Stimmung machen.

 

Einen solchen Zusammenhang zwischen den heutigen Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern des Südens mit der Lebensgeschichte der Emigranten aus Polen vom März 1968 herzustellen, mag manchen frappieren. Denn er zwingt zu der Frage nach der Verantwortung der polnischen Gesellschaft heute wie vor fünfzig Jahren. Doch ist das Flüchtlingsproblem von größter gesellschaftlicher Relevanz. Die Ausstellung im jüdischen Museum und andere Veranstaltungen zum Jahrestag haben nämlich dazu geführt, dass sich die Grundsatzfrage zu 1968 erneut stellt – wie ordnen sich die Ereignisse von damals in die polnische Geschichte ein und welchen Stellenwert haben sie heute im historischen Gedächtnis der Polen?

 

„Ich verstehe die Rolle nicht, die der März ’68 im polnischen Gedächtnis und Bewusstsein spielt, jedenfalls bei der intellektuellen Elite,“ sagt Aleksander Smolar, ein weiterer Märzemigrant, in einem Gespräch mit Michał Okoński, das die katholische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“ abgedruckt hat. Es habe schließlich „viele andere wichtige Ereignisse gegeben, an die man sich nicht erinnert oder die nach heutiger Einschätzung keines Gedenkens für wert befunden werden, zum Beispiel das Jahr 1956, das eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Sowjetsystems darstellte und in der Gesellschaft große Veränderungshoffnungen aufkommen ließ,“ sagt Smolar.

 

Doch kehren die Polen zu den Ereignissen von 1968 zurück. Warum? Zum Jahr 1968 gibt es kein simples Narrativ. Die vielen Aspekte des März ’68, seine Verworrenheit ermöglichen es vielen Gruppen und Milieus, sich diese Geschichte anzueignen. Doch immer stellt sich die Frage, wer damals dafür verantwortlich war, die antisemitische Kampagne loszutreten. „Heute hören wir oft, der März ’68 sollte uns Anlass geben, uns zu schämen. Ich denke, dass der März ’68 für Polen, für die Polen, die um die Freiheit kämpften, ein Anlass sein sollte, stolz zu sein, nicht sich zu schämen,“ sagte Mateusz Morawiecki während der Debatte „März ’68. Eine gesamtgesellschaftliche Bewegung gegen den Kommunismus“, veranstaltet an der Universität Warschau anlässlich des 50. Jahrestages. Des Weiteren betonte der Ministerpräsident, das damalige Polen sei kein unabhängiger Staat gewesen. Daher trage das Polen von heute keine Verantwortung für den März ’68.

 

Das ist nicht die einzige Aussage, die einen scharfen Trennstrich zwischen den Menschen in der Opposition wie der Gesellschaft überhaupt und den damaligen Machthabern zieht. „Der Märzaufruhr war Bestandteil des Kampfes der polnischen Nation gegen die Herrschaft der Kommunisten,“ schreibt in einem offenen Brief an den Direktor des jüdischen Museums Bronisław Świderski, ebenfalls ein Märzemigrant, den die Philosophie‑ und Kulturzeitschrift „Kronos“ veröffentlicht hat. „Als wir im März auf die Straße gingen, waren wir keinesfalls ‘Fremde’. Im Gegenteil, wir empfanden ein lebendiges Gefühl der Zugehörigkeit im gemeinsamen polnischen Haus.“

 

Die dichotomische Unterscheidung zwischen kommunistischen Machthabern und Gesellschaft ist sehr attraktiv. So sehr, dass sie die Bandbreite antisemitischer Vorfälle nicht erklären kann, noch ihre Heftigkeit und die weite Beteiligung der Gesellschaft, so dass die Partei zum Schluss sogar dagegen einschreiten musste. Schließlich war die Kampagne keine von den Machthabern lancierte Inszenierung, der die Öffentlichkeit nur passiv beiwohnte. Wieso also, um die Frage zu wiederholen, ist der März so wichtig? In dem zitierten Gespräch bemerkt Aleksander Smolar: „Meine ziemlich unangenehme Vermutung ist die, das war der einzige Augenblick, von dem sich sagen lässt: ‘das waren nicht wir, das waren die da’. Nicht wir haben die Juden aus dem Land geworfen, das waren die Kommunisten.“

 

In einem solchen Narrativ wird der März ’68 gleichsam zum Unschuldsbeweis. Denn dieses fügt sich hervorragend in ein Bild von der Geschichte des 20. Jahrhunderts ein, in dem die Polen als nationale Gemeinschaft niemals Täter waren (was nicht heißt, dass Einzelne keine Verbrecher sein konnten, etwa die den Polen oktroyierten kommunistischen Machthaber). Vor diesem Hintergrund muss es Widerspruch auslösen, den Juden als Fremden in Polen zu zeigen.

 

Doch in letzter Zeit war es weder der Flüchtling noch der Fremde, was die heftigste Debatte rings um die Ausstellung anheizte. Ein Ausstellungsteil ist der Sprache des März ’68 und ihren Ähnlichkeiten mit dem antisemitischen Diskurs der Zwischenkriegszeit gewidmet, bringt aber auch Äußerungen von heute. Die Ausstellung zeigt die Kontinuität bestimmter Parolen, Etikettierungen und Stereotypen. Auf einem Foto von einer Versammlung in Kielce von 1968 ist ein Transparent zu sehen, darauf ein Arbeiter mit einem Besen, der die Juden auskehrt. Daneben die Aufschrift: „Wir verlangen die Säuberung der Partei vom zionistischen Kehricht“. Ein ähnliches Motiv gibt es auf einem Wahlplakat des Lagers der Nationalen Einigung von 1938. Doch am wichtigsten ist die Gegenwartsdimension dieses Teils der Ausstellung.

 

„Der März dauert fort und entwickelt sich prächtig,“ schreibt Piotr Paziński im Begleitband. „Er hat überdauert in der Sprache, im Alltagspolnisch und im Journalismus, in seriösen Analysen wie an der Oberfläche harmloser Schlagwörter. Aus dem März (und auch aus der schriftlichen Hinterlassenschaft der polnischen Nationaldemokratie […]) leiten sich die ‘Feinde von allem, was uns nahesteht’, die ‘Rädelsführer, Aufrührer und Brandstifter’, die ‘schlimmste Sorte’, die ‘Feinde der Katholiken’ ab. Der März bereicherte das Polnische um die ‘Zionisten’ als modernes Äquivalent der althergebrachten ‘Christusmörder’.“

 

Die Ausstellung bringt Zitate aus dem polnischen Fernsehen und den rechtsgerichteten Medien, Einträge bei Facebook, YouTube und Twitter. Die Namen der Autoren sind unkenntlich gemacht. Trotzdem reagierten zwei von ihnen mit der Forderung, ihre Äußerungen zu entfernen: der rechte Publizist Rafał Ziemkiewicz nannte Juden eine „Räude“, ein Wort, das einst zum antisemitischen Standardrepertoire gehörte, und Magdalena Ogórek, eine regierungsnahe Publizistin, verlangte, ganz so wie die Propagandisten des März ’68, die Enthüllung des „wahren Namens“ eines bestimmten Oppositionspolitikers. Diese beiden Fälle und viele andere sind Belege dafür, dass eine an den Rand gedrängte Rhetorik inzwischen in den Mainstream des öffentlichen Diskurses zurückgekehrt ist und darüber hinaus als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen wird.

 

Das Antlitz des heutigen Antisemitismus zu zeigen, die Aufmerksamkeit auf das Flüchtlingsproblem zu lenken, dies und anderes hat bei einem Teil der Medien und bei Politikern der Partei Recht und Gerechtigkeit ausgesprochen scharfe Reaktionen ausgelöst. Die Heftigkeit der Attacken auf das Museum, seinen Leiter und die Ausstellungsmacher ist überraschend, aber auch beunruhigend. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Versuche der letzten Jahre, sich in die Tätigkeit von Kulturinstitutionen einzumischen und ihre Unabhängigkeit bei der Programmgestaltung auszuhöhlen. Sinnigerweise haben aber alle diese Angriffe die Ausstellung nur noch bekannter gemacht, die seit ihrer Eröffnung bereits von mehr als 45.000 Besuchern gesehen wurde, vor allem aber haben sie die Probleme, von denen sie handelt, ins Bewusstsein gehoben. Sie sind zu einem wichtigen Thema in der öffentlichen Debatte geworden. Sie zwingen dazu, sich mit dem März ’68 auch als einem Kapitel in der Geschichte der polnischen Juden auseinanderzusetzen und eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die aus dieser Perspektive erzählten Ereignisse des März 1968 auch in das historische Gedächtnis der Polen eingehen können.

 

In der Ausstellung gibt es eine mehrere Meter große Leinwand. Darauf ist ein Ausschnitt aus dem Film „Salto“ von Regisseur Tadeusz Konwicki aus dem Jahr 1965 zu sehen (mit der Musik von Wojciech Kilar); die Szene zeigt einen sehr verstörenden Tanz. Diese Szene lässt an einen anderen berühmten Tanz denken, nämlich aus „Wesele“ (Die Hochzeit) von Stanisław Wyspiański, einem Drama, dass seit mehr als einhundert Jahren ein treuer Wegbegleiter der polnischen Intelligenz ist und sie an ihre schlimmsten Dilemmata erinnert: An das politische Engagement und seine Grenzen, an die Verantwortung für Gesellschaft und Staat (und die Frage, ob das nicht ein anmaßender Anspruch ist), an ihr Verhältnis zum Volk, aber auch zum Anderen, an die Unfähigkeit zu handeln, sich zu widersetzen, sich an der Realität zu messen (Symbol dieser Ohnmacht ist in „Wesele“ das verlorengegangene goldene Horn). Hat nicht etwa, ganz wie Wyspiańskis Helden, die polnische Gesellschaft den März ’68 verschlafen, fragen die Ausstellungsmacherinnen? Und jetzt ist es endlich an der Zeit, sich mit den Ereignissen von vor fünfzig Jahren auseinanderzusetzen.

 

Obcy w domu. Wokół Marca ’68 [Der Fremde im Haus. Rings um den März ’68], Muzeum Historii Żydów Polskich Polin, Warschau, Ausstellung noch geöffnet bis zum 24.9.2018, Kuratorinnen: Justyna Koszarska-Szulc, Natalia Romik

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Piotr Kosiewski

Piotr Kosiewski

Piotr Kosiewski ist Historiker, Kunstkritiker und Publizist. Er schreibt regelmäßig für die polnische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny” und das Magazin „Szum".

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