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Polarisierung oder: Wie weiter mit Europa?

Europa ist faszinierend, wenn auch unberechenbar, bedrohlich oder gefährlich – je nachdem wie man es sehen mag. Vor noch nicht so langer Zeit wollte es scheinen, dass der Kontinent mit der übernationalen Europäischen Union identifiziert werden würde, mit der mit Leben erfüllten Formel der „immer engeren Union“, die geschickt den Zielpunkt mit einschließt: die vollständige Föderation. Heute ist absehbar, dass daraus nichts wird. Wir haben keine gemeinsame europäische Identität entwickelt, die auf den erhabenen Prinzipien von Gleichheit und Solidarität beruht. Ganz im Gegenteil sind allüberall neue Risse und Divergenzen zu sehen – in Ost und West im Hinblick auf die Migranten und im reichen Norden und ärmeren Süden wegen der Einkommensunterschiede (nicht nur im Umgang mit den Maastricht-Kriterien).

 

Es knirscht auch überaus vernehmlich in den transatlantischen Beziehungen. Noch schlimmer, es gibt innerhalb der EU-Staaten Konflikte, bei denen Euroskeptiker mit den immer selteneren Föderalisten im Streit liegen, Liberale von illiberalen Bewegungen umzingelt sind, die sich nicht sonderlich von Autoritarismus unterscheiden, und Befürworter der offenen Gesellschaft in Meinungsumfragen von radikalen Nationalisten an den Rand gedrängt werden. Anstelle der erhofften Einheit haben wir es mit Polarisierung und neuen Differenzen zu tun, die an die Stelle der bisher gültigen Aufteilung in Rechts und Links treten.

 

Die „Unseren“ sind im Anmarsch…

Die bisherigen liberalen Eliten sind umzingelt und auf dem Rückzug; sie sprechen von einer Welle des Populismus, sogar einer Konterrevolution, während die Fahnenträger der neuen Ordnung nicht allein das gemeine Volk hätscheln, sondern die Gelegenheit nutzen, um zum Widerstand gegen die Privilegierten und Starken aufzurufen, ob diese nun in Brüssel oder Berlin sitzen. Noch beflissener rufen sie zum Kreuzzug gegen die, die nicht in die Landschaft passen – seien das nun Flüchtlinge oder Migranten, sei es das mit transnationalen Unternehmen verbundene fremde Kapital oder auch mit der „volksfernen“ Brüsseler Bürokratie, die dem allgemeinen Empfinden nach an einer chronischen Krankheit namens „Demokratiedefizit“ leidet. Den aufmüpfigen Massen gefallen weder die bisherigen Privilegien noch erst recht die damit bedachten Eliten, die mal Liberale, mal Technokraten heißen und wohl überall als abgehoben und fern der Sorgen und Nöte der einfachen Menschen gelten.

 

Es riecht also allenthalben nach Revolution und so nimmt es nicht Wunder, dass wie stets an historischen Wegscheiden Führergestalten auftauchen, die sich an die Spitze der Malkontenten und Aufmüpfigen stellen. Manchmal sind das Politneulinge, wie etwa in Italien, manchmal aber auch altgediente Politiker, die sich mittels populistischem Programm eine Verjüngungskur verpasst haben, wie der einstige Liberale Viktor Orbán oder auch Jarosław Kaczyński, und die sich auf das Motto berufen: vox populi vox Dei.

 

Mit anderen Worten: Einmal mehr gilt das Motto „allein Gott ist zu fürchten“. Das trifft auch für die unverhohlenen Versuche zu, die Leute konservativ umzuerziehen und eine christliche Demokratie aufzubauen, traditionelle Familienwerte zu retablieren und der Kirche nicht nur in der Religion, sondern generell in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert zuzugestehen. All dies in Abwehr von Multikulturalismus, offenen Grenzen, einer radikal marktorientierten Wirtschaft und Freiheit in Öffentlichkeit und Moralanschauungen, wie es sehr anschaulich Viktor Orbán im vergangenen Juli beim Jahrestreffen mit der Szekler-Jugend formulierte (die Szekler sind eine ungarische Volksgruppe, die in den rumänischen Karpaten beheimatet ist). Orbán proklamierte das Ende der „Generation der 68er“, die er mit haltlosen Hippies und Blumenkindern identifizierte. Mit der geradewegs entgegengesetzten Agenda werde jetzt „unsere Generation“ Einzug in die europäischen Salons halten. Ende der Lässigkeit, Zeit für Disziplin, und das gilt auch für Moral und Sitten!

 

Der ungarische Staatschef steht nicht alleine da. Als er 2010 unerwartet an die Macht kam und seine antiliberalen Positionen zu verkünden begann, sah es noch so aus, als sei er völlig isoliert. Das gilt heute nicht mehr, denn 2015 schlug Warschau eine ähnliche Richtung ein und in jüngster Zeit sind weitere Hauptstädte gefolgt: Wien, Ljubljana, sogar Rom. Es zeichnet sich also eine ganze Bewegung ab, ein Phänomen, das kein ungarischer Sonderfall mehr ist. Zumal die nationalen Kräfte, was auch immer wir darunter verstehen wollen, zusätzlichen Wind in die Segel bekommen haben durch das britische Volksbegehren für den Brexit; auch machen sie die in der Gesellschaft verbreiteten Ängste für ihre Zwecke dienlich. Der Angst vor einem übermächtigen Markt und weiterem gesellschaftlichen Zerfall gesellte sich nach 2015 die Angst vor dem „Fremden“ hinzu, sei dieser nun Migrant, Flüchtling, Moslem oder Terrorist. Orbán, die Leitfigur der Bewegung, sah in Mauern und Stacheldrahtverhauen an der Grenze die Lösung, was die Liberalen fassungslos machte, dagegen in der Gesellschaft viel Applaus bekam.

 

Zu den existentiellen Ängsten trat noch eine andere Angst: die um die eigene Sicherheit. Die alte Parole aus dem Clinton-Wahlkampf „It’s the Economy, Stupid“ wurde verdrängt von „Sicherheit, Dummkopf“, aus der die dem eigenen Anspruch nach neuen Eliten, die Antiliberalen, mit beiden Händen Munition schöpfen.

 

Die EU steht vor zwei schwierigen Prüfungen: dem endgültigen Austritt des Vereinigten Königreiches Ende März 2019 und den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019. Letztere werden die „Unseren“ – wie Orbán optimistisch prophezeit – und damit nach Buchstaben und Geist antiliberal. Der eigens angereiste Steve Bannon leistet Wahlkampfhilfe durch die Ausrufung einer „nationalen Internationale“. All das während Matteo Salvini zum „neuen Kreuzzug“ aufruft gegen die, die zu Fuß oder doch eher auf dem Seeweg zu uns kommen und unsere liebe Ruhe stören.

 

Die zwölf Sterne auf der Flagge der Europäischen Union stehen symbolisch für die Einheit, Solidarität und Harmonie zwischen den Völkern Europas. Wie viel Gemeinsamkeit besteht noch? Foto: © istock/ClaudioVentrella

Föderation, Konföderation oder Sackgasse?

Die ganze von den Gründervätern, beginnend mit Jean Monnet und Robert Schuman, erdachte Logik der Integration zielte in eine einzige Richtung: Föderation als Krönung des europäischen Projekts. Wie sollte sie jedoch heute noch durchgesetzt werden, bei den allgemein feststellbaren Stimmungen in den Mitgliedsländern? Das ist geradewegs Stoff für das Drehbuch einer Katastrophe.

 

Allein, indem wir die lose Zusammenarbeit von Nationalstaaten propagieren, also eine Konföderation gemäß den Ideen von Charles de Gaulle (oder genauer gesagt von Christian Fouchet), wäre das, in Anbetracht des bereits erreichten Grades an Integration, Zusammenarbeit und offenen Grenzen nach dem Schengener Abkommen, nicht nur eine rückwärtsgewandte oder zumindest anachronistische Konzeption, es wäre im Grunde genommen auch kontraproduktiv. Damit würde nämlich die Rückkehr zu den Nationalstaaten drohen und diese würden sich früher oder später im Kampf um Souveränität und „patriotisch“ untermauerte Partikularinteressen in die Haare geraten.

 

Da lauert eine Falle, vielleicht eine Sackgasse, in die wir hineinrennen: Offenkundig hat niemand ein Patentrezept für alle Probleme, die Europa derzeit plagen. Wir haben lediglich eine Prophylaktikum, das zu großzügig ausgegeben wird und vielleicht schon wirkungslos ist – ob sich dahinter die allzu große Marktgläubigkeit („Marktfundamentalismus“) oder auch die Rosskur per Gürtel-enger-schnallen verbirgt, wie sie den Griechen verordnet wurde; auf der anderen Seite haben wir die Quacksalber, Magier und Wunderheiler mit ihren einfachen und eingängigen Lösungen im Schnellverfahren, die der Gesellschaft Disziplin und eine von Kasernenhofmentalität nicht mehr unterscheidbare Ordnung überstülpen wollen. Soll ein Übermaß an Liberalität ersetzt werden durch epidemischen Nationalismus und Wagenburgmentalität?

 

Es kommt auf Deutschland an

Wie auch immer das klingen mag, ohne Willen und Wollen Deutschlands wird niemand diesen gordischen Knoten durchschlagen können. Nachdem London aus dem Spiel ist, gewinnt die Keimzelle des europäischen Projekts, die Achse Berlin-Paris wieder an Bedeutung. Doch Emmanuel Macrons beharrlich wiederholter Vorschlag, „konzentrische Kreise“ zu schaffen, klingt vielleicht in Paris und Westeuropa gut, aber im Osten kann dieser nicht gefallen, wo die Länder Gefahr laufen, automatisch zu Staaten zweiter oder dritter Kategorie herabgestuft zu werden.

 

Bleibt also die alte, noch aus Willy Brandts Zeiten stammende deutsche Konzeption eines „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, für die sich auch Angela Merkel wiederholt ausgesprochen hat. Wird sie dieser Auffassung treu bleiben oder wird sie unter dem Druck aus Bayern und seitens der illiberalen Strömung Macron nachgeben und sich auf seine Formel des „harten Kerns“ einlassen? Oder hat zufällig doch Jan Zielonka recht, der in seinem neusten Buch mit dem bezeichnenden Titel „Konterrevolution“ vorhersagt: „Ich denke nicht, dass Bundeskanzlerin Merkel oder Präsident Macron auf sich allein gestellt den Kontinent aus seiner jetzigen Krise führen können.“

 

Eins ist jedoch nahezu sicher: Deutschland spielt nolens-volens die Rolle des Hegemon und die innereuropäischen Vorgänge der letzten Zeit haben, wie Studien und Umfragen zeigen, die Rolle der Hauptstädte der Mitgliedsländer wieder gestärkt – auf Kosten der geschwächten, dem Prinzip nach übernationalen EU-Institutionen. Bereits vor einigen Jahren sah der aus Ungarn gebürtige George Soros im Gespräch mit Gregor P. Schimitz die Sache auf Messers Schneide: Entweder werde Deutschland zu einem „großzügigen Anteilseigner“ und nehme die Verantwortung für Europas Geschicke auf sich oder es trete als zu starker Organismus aus der Eurozone aus, um die anderen nicht völlig aus der Fassung zu bringen und sie nicht zu dominieren. Dass letztere Option nicht zu weit hergeholt ist, belegen nicht allein der nationalistische mediale Mainstream in Warschau und Budapest, sondern auch die Bewertung der Griechenlandkrise durch den natürlich emotional besonders involvierten Yanis Varoufakis wie auch durch die US-Ökonomen Joseph Stiglitz und James Galbraith.

 

Der Brexit und das Phänomen Trump verleihen der von Soros gestellten Frage jetzt noch ganz andere Bedeutungen: Ohne deutsches Engagement lässt sich die EU nicht retten; wenn aber aus Berlin zu viel Druck kommt oder gar zu große Zugeständnisse an die wenn auch territorial begrenzten, von Paris forcierten Föderalisierungsvorschläge gemacht werden, wie es einem unlängst im „Handelsblatt“ abdruckten Text von Bundesaußenminister Heiko Maas zu entnehmen scheint, kann das zu weiteren Differenzen und Rissen in Europa führen. Das dürfte wahrscheinlich den Kreml freuen, dagegen nicht so sehr Peking, das einen Partner sucht, um sich besser gegen die USA in Stellung zu bringen).

 

Es liegt auf der Hand, dass an die Stelle der alten Ideale, Normen und  fein abgestimmten Diplomatie reine Machtpolitik getreten ist. Der seinem eigenen Anspruch nach von Transaktions‑ und unternehmerischer Mentalität geprägte Donald Trump stachelt diese Entwicklung noch weiter an, aber auch für die Zeit nach ihm lässt sich keine einfache Rückkehr zum Status quo ante erwarten. Anstelle des berühmt-berüchtigten „Endes der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama verkündete, und des Triumphes westlicher Liberalität haben wir eine Rückkehr der Geschichte mit all ihren Dämonen, einem Rückzug des Westens und einer starken illiberalen oder einfach, gemessen an Botschaft und Agenda, autoritären Strömung. Nach der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges (1945–1991) und einem „unipolaren Augenblick“ (so der Begriff von Charles Krauthammer; 1992–2008) tritt wieder eine multipolare Welt in Erscheinung, wobei nur noch nicht klar ist, wie viele Pole es gibt und geben wird. Und von Deutschland hängt es jetzt ab, ob es selbst einen dieser Pole bilden wird oder doch eine umgestaltete und von Grund auf neu aufgebaute EU.

 

Anstelle der „immer engeren“, immer homogeneren und kohärenteren Union geistert einstweilen das Gespenst einer immer loseren Union umher, einer schlaffen, von Streitigkeiten und inneren Widersprüchen zerrissenen Union, wie es sich auf dem Kontinent insgesamt zeigt, aber auch in den von Zwistigkeiten und inneren Konflikten gebeutelten Mitgliedsstaaten. Wer kann das wieder zusammenfügen? Wer wird das europäische Projekt und seinen größten, einzigartigen Erfolg retten – nämlich mehr als siebzig Jahre Frieden auf dem Kontinent?

 

Die Vorschläge, die aus Budapest, Warschau, Rom oder München kommen, sind zwar in ihren Motiven irgendwie nachvollziehbar, doch wecken sie nicht die allerbesten Assoziationen. Sie beschwören anscheinend schon lange begrabene Dämonen herauf: einen Kontinent unzufriedener, zerstrittener, von Nationalismen aufgehetzter und den eigenen Regierungen misstrauenden Bevölkerungen, an deren Spitze sich – auf natürlichste Art –  neue Führer stellen, die sich bei den frustrierten Massen anbiedern.

 

Werden Berlin, Brüssel und Paris (denn London und Rom kommen nicht mehr in Frage) in der Lage sein, diese der Form nach neue, doch aus der Geschichte gut bekannte und in schlechter Erinnerung befindliche Bewegung eindämmen können? Eins ist gewiss: Wer Europa und die EU retten will, muss auf die Interessen des frustrierten Volks Rücksicht nehmen, um den Populisten nicht das Feld zu überlassen. Das lässt sich aber nicht ohne strukturelle Veränderungen anstellen, ohne neue Verfahrensweisen, neue Weltanschauungen, Konzeptionen und Ideen. So wie sie zu ihrer Zeit Monnet und Schuman hatten. Wer bringt sie mit in Zeiten von Trumps Isolationismus? Wer erklärt uns, was für ein System die EU heute ist und in Zukunft sein wird? Und was hat Deutschland dazu zu sagen?

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

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