Deutschland und Frankreich haben ein informelles Konzept für die Weiterentwicklung der Europäischen Union vorgestellt. Sollte die EU in der Zukunft eine schrittweise Reorganisation durchlaufen, wird das von diesen beiden Ländern vorgelegte Dokument zweifelsfrei zu einem wichtigen Bezugspunkt.
Mitte September veröffentlichten deutsche und französische Experten ein Dokument, das ihre Vorstellungen von Reformen der Europäischen Union umreißt. Das Papier gilt nicht als offizielles deutsch-französisches Regierungsdokument. Gleichwohl belegt schon die Tatsache, dass beide Länder eine gemeinsame Anstrengung zur Vorlage eines solchen Dokuments unternommen haben, dass zumindest in grundsätzlichen Fragen zwischen Berlin und Paris ein Konsens über die weitere Entwicklung der Europäischen Union oder auch Gesamteuropas besteht.
Das Europa der vier Geschwindigkeiten
Ausgangsposition des Berichts ist, dass die Europäische Union schneller und effektiver auf die zahlreichen Herausforderungen wie etwa Klima‑, Migrations‑, Wirtschafts‑, epidemiologische und militärische Krisen reagieren können müsse. Daher sei eine tiefgreifende Reform der Funktionsweisen der EU und ihrer Entscheidungsprozesse notwendig. Bis 2030 solle die EU bereit für die nächste Runde von Neuaufnahmen sein, vorher müsse sie sich jedoch selbst reformieren. Worum geht es dabei im Einzelnen?
Erstens sollen die EU-Institutionen eine gründliche Reform durchlaufen. Selbst nach der Aufnahme weiterer Mitgliedsstaaten solle das Europäische Parlament seine Mandatszahl nicht vergrößern. Ferner müssten Veränderungen bei der Entscheidungsfindung vorgenommen werden, einschließlich der wichtigsten Fragen etwa in der Außen‑ und Sicherheitspolitik. Mit wenigen Ausnahmen solle in diesen Bereichen nicht mehr das Prinzip der Einstimmigkeit gelten, sondern die Mehrheitsentscheidung. Davon würde es nur bestimmte Ausnahmen geben, nämlich wenn Staaten Gefahr liefen, in für sie selbst zentralen Fragen überstimmt zu werden.
Zweitens solle die EU, oder doch zumindest ihre bereits am stärksten integrierten Mitgliedsstaaten, eine noch stärkere Föderalisierung anstreben. Das würde die Vergrößerung des EU-Budgets umfassen, die gemeinsame Kreditaufnahme sowie die Schaffung der Voraussetzungen für eine gemeinsame Steuerpolitik. Der Bericht gibt insbesondere zu verstehen, dass ähnlich wie bei den europäischen Grundwerten die Gemeinschaftswährung zukünftig als nicht verhandelbarer Bestandteil der europäischen Integration betrachtet werden solle.
Der Bericht räumt ein, dass nicht alle Mitgliedstaaten auf solche grundlegenden Veränderungen vorbereitet oder dazu willens seien. Die Berichterstatter äußern jedoch die Überzeugung, die Europäische Union müsse in der Welt eine sehr viel entscheidendere Rolle spielen, insbesondere in ihrer direkten Nachbarschaft. Daher schlagen sie ein Modell vor, das wir vorläufig einmal das „Europa der vier Geschwindigkeiten“ nennen wollen.
Im ersten Kreis sollen sich diejenigen Länder befinden, die bei der europäischen Integration am weitesten fortgeschritten sind. Dies sind die zum Schengenraum und zur Eurozone gehörenden Länder, die zudem an EU-Programmen wie PESCO [Permanent Structured Cooperation – Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, seit 2017 bestehende Vereinbarung auf dem Gebiet gemeinsamer Verteidigungsprojekte; A.d.Ü.] teilnehmen. Der zweite Kreis umfasst sämtliche übrigen Mitglieder der EU, die nicht zur Eurozone gehören oder die von einer der zahlreichen Klauseln zum Ausoptieren Gebrauch machen möchten. Im dritten Kreis befinden sich die mit der EU assoziierten Staaten. So wie gegenwärtig, würden sie weiter dem Gemeinsamen Markt angehören, müssten aber sich auch an die Grundlagen und Werte der Brüsseler Verträge halten. Im letzten Kreis würden sich die übrigen in der Nachbarschaft der EU liegenden Länder befinden, die heute gleichfalls der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) angehören. Der Bericht gelangt zu der Auffassung, eine engere Zusammenarbeit mit diesen Ländern liege in wirtschafts‑, energie‑ und klimapolitischer Hinsicht im geopolitischen Interesse der EU.
Sind die Vorannahmen für die Reformen realistisch?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das „Europa der vier Geschwindigkeiten“ kein Zukunftslied ist, sondern bereits eine Realität unserer Zeit. Bereits heute gehören die Länder der Eurozone zum ersten Kreis der EU-Integration: Es sind Deutschland und Frankreich, die mit dem Einverständnis kleinerer, aber wichtiger Länder bei zentralen Fragen der EU-Finanzen die Entscheidungen treffen, so über das EU-Budget oder auch, wie während der Pandemie, zu einer gemeinsamen Kreditaufnahme. Die übrigen Mitgliedsländer bilden den zweiten europäischen Kreis, was weitgehend ihre eigene Wahl ist. Beispielsweise hat Polen bewusst nicht die Gemeinschaftswährung übernommen, arbeitet bewusst bei der Verteidigungspolitik nicht in größerem Umfang mit der EU zusammen und geht bewusst zu wirtschaftspolitischen Reformprojekten auf Distanz, die in Brüssel geplant werden. Der dritte Kreis aus mit der EU assoziierten Ländern besteht schon lange. Der vierte Kreis, nämlich die Europäische Politische Gemeinschaft, wurde erst vor kurzem inauguriert [am 6. Oktober 2022 in Prag; A.d.Ü.] und ist das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen von Frankreich und Deutschland, die Europäische Union geopolitisch stärker in Stellung zu bringen.
Anscheinend ist gerade dieser geopolitische Aspekt für das hier vorzustellende Papier zentral. Dessen Autoren konzedieren zwar, dass die EU sich reformieren muss, um neue Mitglieder aufnehmen zu können, doch der zweite Teil ist definitiv wichtiger. Der schließliche Beitritt der Ukraine, Moldaus, Serbiens und Nordmazedoniens liegt noch in so weiter Ferne, dass er aktuell völlig unrealistisch erscheint. Niemand weiß, wie Europa 2030 und danach aussehen wird, daher sind die Vorschläge zur Erweiterung der EU verständlicherweise vorläufig noch ziemlich nebulös.
Dagegen ließe sich einwenden, dass der Beitritt Polens und anderer ostmitteleuropäischer Länder auf viele Jahre angelegt war und erfolgreich vollzogen wurde, daher ist vorstellbar, dass auch die Ukraine in gut zehn Jahren zur EU gehören wird. Doch sind die Umstände ganz andere; die Ukraine startet von ganz anderen Ausgangsbedingungen, zudem muss sie große äußere Beschränkungen in Rechnung stellen, die Polen, Tschechien und Ungarn nach 1989 nicht hatten.
Deutschland und Frankreich ist daher daran gelegen, dass die Europäische Union auf eine mögliche Erweiterung vorbereitet ist, doch hat dies keine Priorität. Im Mittelpunkt stehen Reformen, welche den Staaten die Möglichkeit gäben, sich um die Gemeinschaftswährung und eine gemeinsame Sicherheitspolitik herum stärker zu integrieren.
Die wichtigste von Deutschland und Frankreich geforderte Änderung ist der Modus der Entscheidungsfindung in der Außen‑ und der Haushaltspolitik. Dabei soll das Prinzip der Einstimmigkeit fast vollständig aufgegeben werden. Dieses würde nur noch dann gelten, wenn es um Änderungen der Europäischen Verträge, die Zulassung neuer EU-Mitglieder oder die Aufnahme gemeinsamer Kredite geht. Laufende Beschlüsse zur Außenpolitik und zum Haushalt der EU sollen per Mehrheitsbeschluss getroffen werden, wie dies aber auch gegenwärtig bereits bei fast achtzig Prozent aller EU-Entscheidungen geschieht.
Der Bericht schlägt vor, eine qualifizierte Mehrheit zur Beschlussfassung festzusetzen, die aus wenigstens sechzig Prozent der Staaten mit wenigstens sechzig Prozent der EU-Bevölkerung bestünde. Das wäre keine so große Veränderung gegenüber den geltenden Bestimmungen.
Ländern, die diese Bedingungen ablehnen, hätten unter anderem die Möglichkeit auszuoptieren, wodurch sie aus einem ganzen Problembereich ausgeschlossen würden, nicht nur von einzelnen Entscheidungen.
Das „alte Europa“ will keine Geisel des „neuen Europa“ sein
Das deutsch-französische Projekt zeigt ziemlich klar, dass Westeuropa noch nicht von der Aufteilung in ein „altes“ und ein „neues Europa“ Abstand genommen hat. Sollte ein Fortschritt im Kreise der 27 Mitgliedstaaten nicht möglich sein, so wäre es vielleicht für alle sinnvoller, unterschiedliche Integrationsniveaus oder eine Form der loseren Assoziierung für neue oder gegenwärtige Mitgliedstaaten auszuweisen, heißt es in dem Bericht.
Frankreich und Deutschland wollen Europa selbständig machen, doch gibt es zwischen ihnen eine Meinungsdifferenz bei der Einschätzung der Rolle der Vereinigten Staaten. Gleichwohl sind beide Länder von den Reformnotwendigkeiten überzeugt, die ihnen einen noch größeren Spielraum geben würden, in Europa wie auch international. Sie wollen Europa global zu einem weiteren Pol werden lassen, damit es im Verhältnis zu den USA, China und Indien nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zu einem gleichrangigen Partner wird.
Sollten die vorgeschlagenen Reformen umgesetzt werden, könnte Brüssel leichter Strafen für die Nichteinhaltung der Rechtsstaatlichkeit verhängen und die betreffenden Länder in einen niedrigeren Integrationskreis verbannen. Die Haushaltsverhandlungen würden beschleunigt, und die Möglichkeit, gemeinsame Kredite aufzunehmen, würde die Entwicklung wirtschaftlich stagnierender europäischer Länder voranbringen. Die Mehrheitsabstimmung in der Außenpolitik gäbe den Ländern des inneren Kreises der Integration das, was sie schon seit langem wollen – mehr Flexibilität und die Möglichkeit, im Umgang mit der Außenwelt schneller zu reagieren.
Nicht alle diese Forderungen werden in Mitteleuropa mit Begeisterung aufgenommen. Doch ist Unzufriedenheit keine Politik. Die Staaten der Region sollten eigene Vorschläge zur Reform der EU machen, die in seriösen und sachlichen Gesprächen zwischen Politik und Experten erarbeitet worden sind. Damit täte sich ein Freiraum auf, in dem die jeweiligen staatlichen Einzelinteressen diskutiert werden können, und viele der beteiligten Länder müssten letztlich eine Antwort auf die Frage finden, zu welchem Kreis der europäischen Integration sie gehören wollen und was sie dadurch gewinnen können.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Aus meiner Sicht ein hoch professioneller Beitrag zur weiteren Entwicklung der EU, und zwar im Welt-Maßstab.
Reformen und Flexibilität dürften dabei eine größere Rolle spielen.
Dem Vernehmen nach sind dahinter sehr viele Anstrengungen – gepaart mit Dialog-Bereitschaft – verbunden!
Eine über eine sukzessive Weiterentwicklung hinausgehende Reform der EU ist notwendig: Das liegt auf der Hand. Die konkreten Vorschläge ercheinen mir alle sehr sinnvoll; vor allem das Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse. Ein „Commitment“ aller auf eine Position ist nicht realistisch, aber nach außen hin ist eine klare Position notwendig. Daher ist so ein Mechanismus dazu geeignet.
Das, in meinen Augen, sollte man nicht als „mehrere Geschwindigkeiten“ definieren, sondern als Maßnahme, gemeinsame Positionen zu finden. Wer dann nicht dabei sein mag und zu oft überstimmt wird, wird besser ein Ausscheiden aus der EU definieren. Ich glaube, die EU verkauft sich unter Wert und knickt zu oft vor Einzelmeinungen ein. Der „Nutzen“ der EU für die meisten Mitglieder bleibt auch bei Kompromissen viel höher als die Kosten. Vor allem im internationalen Wettbewerb.