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„Revolutionär und Staatsgründer“ – Gespräch mit Wolfgang Templin

Tom Szczepański: Herr Templin, jüngst ist Ihr Buch „Revolutionär und Staatsgründer“ im Ch. Link Verlag erschienen. Wie kam es zur Idee, eine Biografie Józef Piłsudskis für den deutschen Buchmarkt zu verfassen?

Wolfgang Templin: Das war ein langer Prozess. Alles begann eigentlich in den 1970er Jahren, als ich ein einjähriges Zusatzstudium, so hieß es damals in der DDR, in Polen machen konnte. Das, was ich vorher von Polen wusste, über die Literatur und Medien, hatte mein Interesse geweckt, aber ich war weder mit der Sprache, noch mit dem Land selbst vertraut. Dieses Auslandsjahr hat das radikal geändert. Das war die Entstehungsphase von KOR (Komitet Obrony Robotników), der Vorläuferorganisation der Solidarność, die ich in Polen damals zu der Zeit miterleben durfte. Für mich persönlich war es eine Zeit, in der ich mich von jeglichen Laufbahnen, die in der DDR zur Verfügung standen, gelöst habe. Ich hatte mein Philosophiestudium abgeschlossen, aber ich spürte, dass ich noch andere Wege einschlagen wollte. Und Polen gab mir hierfür reichlich Inspiration, insbesondere die Kontakte zu den Oppositionsführern. Ich merkte schnell, dass die Solidarność-Akteure sich sehr intensiv mit Geschichte auseinandersetzten, vor allem mit der Zweiten Polnischen Republik, denn dies war ja die einzige Phase der polnischen Unabhängigkeit seit den Teilungen Polens. Ich musste erst einmal lernen, wie sehr die polnische Geschichte mit den östlichen Nachbarn verwoben war. Das hat mein Interesse immer stärker werden lassen, weshalb ich später dann lange Reisen in die Ukraine unternahm, um Polens Geschichte jenseits meiner deutschen Perspektive auch im osteuropäischen Kontext kennenzulernen. Schließlich spielte meine Tätigkeit von 2010 bis 2014 als Leiter in der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau eine Rolle. Ich habe an vielen historischen Projekten teilgenommen, die über den rein deutsch-polnischen Bezug hinausgingen und mit der osteuropäischen Thematik zusammenhingen.

2018 hatte ich mein erstes Buch zur polnischen Unabhängigkeitsgeschichte „Der Kampf um Polen“ geschrieben, und damals keimte bereits die Idee auf, sich stärker mit Józef Piłsudski auseinanderzusetzen, denn in Deutschland ist dies eher eine in Fachkreisen bekannte Person, die in Polen jedoch bis heute eine zentrale Rolle im kollektiven Gedächtnis einnimmt. Zunächst galt es aber, den Berg an Literatur auszuwerten. Dazu konnte ich meine Sprachkenntnisse, aber auch meine polnischen Kontakte nutzen. Hinzu kam noch die Corona-Pandemie, also eine Phase der Isolation und der notwenigen Abschottung. Dies war dann die richtige Gelegenheit, um sich des Themas anzunehmen. Und mit dem Ausgang bin ich zufrieden.

Ihre Piłsudski-Biografie liest sich wie ein großer Abenteuerroman, Piłsudskis Leben und seine Zeit bieten hierfür auch reichhaltigen Erzählstoff. Wie schwierig war es für Sie, die Gestalt des Marschalls zu fassen? Worauf haben Sie den Fokus gelegt, gerade im Hinblick auf den deutschen Rezipienten?

Es ist die erste größere Biografie, die ich geschrieben habe. Mein Ziel war es, mich in die Gestalt Piłsudskis hineinzuversetzen und dabei die notwendige Distanz zu bewahren. Mit Piłsudski hatte ich einen „Helden“ vor mir, dessen Leben so viel Außergewöhnliches enthält, so viele Höhen und Tiefen, die ihn letzten Endes zum Gestalter der polnischen Geschichte machten. Dieser Weg musste skizziert, alle wichtigen Etappen seines Lebens mussten beleuchtet werden, allen voran die schwierige Kindheit, welche er in Litauen unter russischer Herrschaft verbrachte. Die Region in der Piłsudski aufwuchs, prägte ihn für sein ganzes Leben. Auch seine eigene Auseinandersetzung mit der polnischen Geschichte musste ich berücksichtigen. Um mich mit seiner Welt vertraut zu machen, verbrachte ich einige Zeit in Polen, Litauen und der Ukraine. Diese Reisen hatten großen Einfluss auf meinen Schreibstil, und wenn nun Rezipienten mein Buch beurteilen und meinen, dass es sich wie ein Abenteuerroman liest, dann darf ich getrost sagen: Mein Vorhaben ist mir geglückt.

Sie beschreiben Piłsudski als politischen Realisten. Wie äußerte sich sein politischer Realismus?

Piłsudski unterschied sich grundsätzlich von anderen Unabhängigkeitskämpfern und denjenigen, die die Linie der Aufständischen verfolgten. Er identifizierte sich zwar mit den Aufständischen, aber zugleich betrachtete er sie auch kritisch. Er betonte immer wieder, es sei völlig falsch, den Opfermythos einseitig hochzuheben, vielmehr müsse man lernen, die Qualität und die Misserfolge der Vergangenheit neu zu betrachten, um künftige Aufstände zum Erfolg zu führen. Es galt, den ewigen Mythos des Verlierers, des Märtyrers zu überwinden, um das Unmögliche möglich zu machen. Ziel war es, einen polnischen souveränen Staat zu etablieren und Polen wieder in die Weltgeschichte einzugliedern.

David Ben-Gurion sagte einmal: „Nur wer das Unmögliche wagt und will, ist wirklich ein Realist.“ Dies wirkt zunächst wie ein Paradox, doch die Pointe ist, dass man bis an die Grenze des Machbaren herantritt, mit dem Wissen, dass das Vorhaben genauso gut scheitern kann. In Piłsudskis Lebensstationen gab es einige Tiefen, allem voran die Situation im Jahr 1918. Es hing am seidenen Faden, ob die Novembertage 1918 einen polnischen Staat wiederauferstehen lassen würden. Man musste einen Misserfolg mitberücksichtigen, denn die Situation war sehr angespannt und die großen Kriegsmächte waren eher an einem möglichst kleinen polnischen Pufferstaat interessiert. Piłsudski war sich dessen bewusst, daher war sein oberstes Ziel einen möglichst stabilen, souveränen und großen Staat zwischen diesen Großmächten zu etablieren, um Polens Existenz langfristig abzusichern.

Diese politische Line verfolgte er lange vor 1918. Die Freiheit Polens hatte den Zerfall der Teilungsmächte zur Bedingung, insbesondere des Zarenreiches. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eröffnete die Chancen dafür. Piłsudski wusste diese Gelegenheit sehr gut zu nutzen.

Welche Vision von Polen schwebte Piłsudski vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit vor?

Piłsudski war kein isolierter Akteur. Dementsprechend schreibe ich auch keine Ein-Personen Geschichte. In der Biografie gehe ich auch auf seine Familie, Freunde und wichtige Etappen seiner Jugend ein. Ich habe versucht, sein Leben in einen Gruppenkontext einzubetten, um die Gestalt des Marschalls möglichst breit zu skizzieren.

Eine entscheidende Lebensstation, die Piłsudskis Vorstellung von Polen enorm geprägt hat, war die Zeit nach seiner Rückkehr aus der sibirischen Verbannung (1887–1892). Oberstes Ziel war selbstverständlich die polnische Unabhängigkeit. Was aber oftmals vergessen wird, ist der westlich geprägte Sozialismus, denn zu der Zeit war die soziale Ungerechtigkeit ein Kernthema der verschiedenen revolutionären Strömungen in Europa – vor allem im Osten. Sollte ein souveräner polnischer Staat entstehen, so sollte neben Demokratie und Liberalität auch die soziale Emanzipation umgesetzt werden. Und wenn wir auf den neu gegründeten polnischen Staat nach 1918 blicken, so war Polen sehr progressiv, was sich z.B. am Frauenwahlrecht zeigte. Piłsudski ließ sich von dem Gedanken leiten, die staatliche Souveränität und den Gerechtigkeitsgedanken miteinander zu verbinden. Dies ist eine Linie, die er und seine Anhänger teilten.

Doch die polnische Geschichte kennt auch Gegenpositionen. Ich sah es als meine Aufgabe an, auch die Kontrahenten Piłsudskis in meinem Buch objektiv zu beleuchten. Auch die damalige polnische Rechte hat essentielle Gedanken in den polnischen politischen Diskurs eingebracht, die selbst heute noch einflussreich sind.

Alle Ideen, die in intellektuellen Kreisen damals vorherrschend waren – der Sozialismus, der Konservatismus oder auch der Liberalismus – müssen immer wieder erwähnt werden, um am Ende ein Gesamtbild zu erhalten. Ich konnte selbstverständlich nicht auf alle Details eingehen, daher schien es mir plausibel, diese Geschichten anhand verschiedener Persönlichkeiten zu entwickeln. Das Gleiche gilt auch für die Teilungsmächte, für jüdische und ukrainische Sozialisten, die zu der Geschichte einen großen Beitrag geleistet haben.

Mit dem Friedensvertrag von Riga 1921  wurde der polnisch-sowjetische Krieg beendet, Polen konnte seine Ostgrenze definieren. In Polen wird bis heute die These vertreten, dass Polen mit dem Sieg über Sowjetrussland Europa vor dem Kommunismus gerettet habe. Kritiker, etwa Prof. Stephan Lehnstaedt in seinem Buch „Der vergessene Sieg“ halten dagegen, Sowjetrussland sei damals ohnehin zu schwach gewesen, um weiter gen Westen zu marschieren. Wie schätzen Sie das ein?

In meinem Buch führe ich die Gegenthese auf. Die Bolschewiki waren eine expansive Macht, was bereits aus Lenins Schriften hervorgeht. Lenin war aber nicht nur ein politischer Theoretiker, sondern auch ein politischer Akteur. Seine Gestalt als Revolutionär ist bekannt, entscheidender ist aber, was er nach der Februarrevolution unternommen hat, denn dann erst kommt seine ganze Vorstellung vom Sozialismus zum Vorschein. Lenin wollte das revolutionäre Potential ausweiten, zunächst auf die Nachbarländer und im späteren Verlauf sogar noch weiter.  Ich bin in der DDR mit der spätleninistischen Variante aufgewachsen, welche besagte, dass die sozialistische Revolution am Ende die ganze Welt erfassen soll.

Das Neue an diesen imperialen Weltvorstellungen war, dass die Idee als oberstes Ziel gesetzt wurde. Somit musste nicht unbedingt Moskau das Zentrum der sozialistischen Gesinnung sein, Lenin selbst hätte auch keine Einwände gegen Berlin gehabt. Um diesen weltrevolutionären Ansprüchen gerecht zu werden, wollte man alle Gleichgesinnten erreichen. Die Entstehung der Weimarer Republik bot den idealen Schauplatz, denn die revolutionäre Stimmung kochte von Hamburg bis München.

Piłsudski, der die Vorentwicklung Russlands sehr intensiv studierte, hat schnell erkannt, welches gefährliche Potential im Osten entstanden war – zum einen die kommunistische Gesinnung mit zahlreichen Anhängern weltweit, zum anderen eine Millionenarmee, die schon 1919 existierte und ihre Ziele mit Gewalt forcierte.

Die bolschewistische Armee war militärisch in der Lage, große Teile der Ukraine, Belarus und Litauens einzunehmen. Die Bolschewiki sagten: Nicht „wir“ sind einmarschiert, das waren die eigenen revolutionären Kräfte. Das oberste Ziel war immer, „die Welt zu befreien“.

Was die Polen betraf, war es sekundär, ob es ein Vasallenstaat würde oder ob es zu einem direkten Anschluss an den Sowjetstaat käme. Und was mich an dieser Stelle von Professor Lehnsteadt trennt ist, dass es sich beim polnisch-sowjetischen Krieg um einen sehr riskanten Abwehrkampf handelte, welchen die Polen führten und durchhielten. Es ist verblüffend, dass solch eine Abwehrhaltung überhaupt durchgesetzt werden konnte. Es ist eine beachtliche Leistung, dass die Polen sich gegen die Sowjets behaupten konnten, denn sie waren militärisch unterlegen. Hinzu kamen noch interne Auseinandersetzungen. Piłsudski hatte für sein Vorgehen viel Kritik geerntet, war aber gleichzeitig auf die Unterstützung seiner politischen Gegner angewiesen. Unter solch chaotischen Umständen einen vermeintlich aussichtslosen Kampf zu gewinnen, ist eine Leistung, die man aus historischer Perspektive immer wieder neu erschließen muss.

Sprechen wir also vom „Wunder an der Weichsel“ oder müssen wir eher von strategischer Kunst sprechen? 

Nein, es war definitiv strategische Kunst. Der Begriff „Wunder an der Weichsel“ kommt ursprünglich von seinen Gegnern, die das ganze Vorhaben für verrückt hielten. Es wurde proklamiert, dass solch ein Widerstand gegen die sowjetische Übermacht gar nicht möglich sei. Die Gegenseite wollte sich zurückziehen, als sich die Rote Armee der Wechsel näherte und nahm bewusst in Kauf, Warschau aufzugeben. Piłsudski war ein militärischer Autodidakt. Er studierte viele große Männer, unter anderem die Strategien Napoleons. Er war überzeugt, man müsse die Truppen richtig konzentrieren, die Schwächen des Gegners kennen und dann im richtigen Moment die Chance ergreifen, um den stärkeren Feind zu überrumpeln. Das alles hat zwar Züge eines Wunders, wenn wir an die Schlacht bei Warschau von 1920 denken, aber man würde dem Sieg nicht gerecht, würde man es als bloßes Glück oder eben Wunder darstellen. Ich glaube, dass der Sieg in Warschau zu den bedeutendsten Siegen im 20. Jahrhundert gehört, und dieser Sieg hat nicht nur Polen, sondern vor allem Westeuropa vor ganz schweren Folgen geschützt, die unweigerlich entstanden wären, wenn die Gegenseite gewonnen hätte.

In den Folgejahren nach Kriegsende versuchte die Zweite Polnische Republik eine neutrale Haltung gegenüber seinem westlichen und östlichen Nachbarn einzunehmen, aber spätestens seit 1933 und Hitlers Machtübernahme in Deutschland war für Piłsudski klar, dass diese Linie nicht von Dauer sein würde. Bevor der Nichtangriffspakt mit Deutschland (1934) erfolgte, soll Piłsudski Frankreich einen Präventivschlag gegen Deutschland vorgeschlagen haben. Wie realistisch wäre solch ein Präventivschlag gewesen?

Die 1930er Jahre gehören zu Piłsudskis späten Jahren. Einige behaupten, dass er zu der Zeit durch Krankheit und Verbitterung handlungsgeschwächt war und somit nur noch begrenzt agieren konnte.

Dies trifft meines Erachtens auf viele Politikfelder zu, die er bediente, aber nicht auf die Außenpolitik. Er hat mit allen Kräften die ihm zu Verfügung standen, die richtige Position vertreten. Spätestens von 1918 an wusste er, dass eine existentielle Gefahr für den polnischen Staat entsteht, wenn es sich zwischen zwei Großreichen wiederfände. Östlich von Polen hatte man das aufstrebende rote Imperium und westlich von Polen das nationalsozialistische Deutschland. Schon in den 1920er Jahren suchte Piłsudski Unterstützung im Westen, unter anderem bei den Franzosen und den Briten. Doch diese kooperierten nur selten mit Polen, und wenn dies der Fall war, dann nur im Eigeninteresse. Und 1933 übersahen diese westlichen Staaten die reale Gefahr, die von deutscher Seite aus kam, die Bedrohung für den europäischen Frieden seitens der Sowjetunion wurde gar nicht erst ernst genommen. Piłsudski schätzte die Gefahren weitaus realistischer ein. Solange Polen keine Verbündete hatte, musste eine Ausgleichspolitik betrieben werden, was Polen auch gegenüber Deutschland und der Sowjetunion umzusetzen versuchte. Dieses Wissen gab er auch an Józef Beck, den polnischen Außenminister und „Testamentsvollstrecker“ Piłsudskis weiter. Beck ist bis heute eine zentrale Figur bei russischen Geschichtsschreibern und Kristallisationspunkt der russischen Propaganda über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die russische Seite behauptet, Beck habe Polen selbst in die Arme Hitlers getrieben und Polen Mitschuld am Ausbruch des Krieges trage. Beck hat eine Menge Fehler begangen, doch war er sicherlich nicht schuld daran, dass Deutschland Polen überfallen hat. Polen hat sich nach Hitlers Machtergreifung darum bemüht, dem Westen die Augen für die latente Kriegsgefahr zu öffnen. Piłsudski hat schon vor 1933 geahnt, was vonseiten Deutschlands drohte, denn er kannte Hitlers Schriften und nahm dessen Visionen eines künftigen Deutschlands ernst. Es gab genügend Möglichkeiten, Hitler zu stoppen, insofern der Westen mit den Polen zusammen kooperiert hätte. Piłsudski sah nicht nur seinen Lebensweg gefährdet, sondern er wusste, dass das ganze Fundament, welches er für Polen erbaut hatte, auf wackligen Füßen stand, dass Hitler gestoppt werden müsse. Leider ist die Geschichte anders verlaufen.

Während in Deutschland Personenkulte heute der Vergangenheit angehören, lebt der Kult um den Marschall in Polen fort. Welche Anziehungskraft hat die historische Gestalt Piłsudskis heute?

Seine Größe und Leistung führten dazu, dass er selbst in volkspolnischen Zeiten wider Willen der kommunistischen Machthaber als historische Gestalt geduldet wurde. In den 1970er Jahren sind volkspolnische Pioniere auf die Wawelsburg in Krakau gepilgert, wo sie Blumen an seinem Grab niederlegten. Es hat sich sozusagen ein versteckter Nimbus um ihn herum gebildet. Bei den Oppositionellen in der Solidarność befasste man sich sehr viel mit der Zweiten Polnischen Republik, und da spielte Piłsudski selbstverständlich eine große Rolle. Adam Michnik wandte sich in einem seiner ersten wichtigen Aufsätze „Schatten vergessener Ahnen“ Piłsudski und der Staatsgründung von 1918 zu. Auch die PSP (Polnische Sozialistische Partei) ist nach dem Tod des Marschalls nicht einfach von der Bildfläche verschwunden.

Piłsudski blieb nach seinem Tod stets omnipräsent. Und ich denke, dass die Auseinandersetzung mit seiner Biografie und der Zeit, in der er gelebt und gewirkt hat, an Aktualität nicht verloren hat.

Apropos Aktualität: Ihr Buch erscheint zu einer Zeit, in der Mitteleuropa wieder im Zentrum der Debatte steht. Der Krieg in der Ukraine zieht die ganze Weltaufmerksamkeit auf sich. Wie bewerten Sie die Rolle Polens in Bezug auf den Ukraine-Krieg? Es scheint, als gäbe es einige Parallelen zum polnisch-sowjetischen Krieg von 1919-1921. Anders ausgedrückt, ist die Freiheit der Ukraine notwendig für die Freiheit Polens? Oder ist dies angesichts dessen, dass die Polen nun einen starken Verbündeten wie die NATO auf ihrer Seite haben, doch anders zu bewerten?

Die Forderung nach einer unabhängigen Ukraine, die Piłsudski nach dem Ersten Weltkrieg formulierte, ist für die geostrategische Sicherheit Polens heute genauso aktuell. Wenn es Putin gelänge, seine strategische Konzeption durchzusetzen und die Ukraine ein Vasallenstaat oder ein komplett gelähmter Staat werden würde, dann bedeutet dies nicht, dass der Krieg zu Ende sei, auch wenn es immer wieder Stimmen gibt, die eben das behaupten. Ich gehe davon aus, dass wenn die Ukraine fällt, die Russen dann als nächstes gewaltigen Druck auf die baltischen Staaten und dann schlussendlich auf Polen ausüben werden. Es muss kein militärischer Überfall sein, wie im Falle der Ukraine, aber dennoch ist ein Szenario der Destabilisierung des Baltikums und des polnischen Staates vorstellbar. Putin wäre im Stande, den polnischen Staat in Abhängigkeit zu bringen und somit den nächsten Vasallenstaat in seine Einflusssphäre zu ziehen. Damit würde Putin einen wichtigen Teil Europas für sich in Anspruch nehmen und zur weiteren Schwächung des Westens führen.

Die Hoffnung, welche ich für den Westen sehe, ist, dass Polen und Deutschland politisch zusammenwachsen. Ebenfalls hoffe ich, dass das nötige Feingefühl für Osteuropa, das vom Westen bislang nur wenig wahrgenommen wurde, sich stärker ausbildet. Putin hat mit seinem Krieg im Westen womöglich etwas entzündet, was er nun nicht mehr kontrollieren kann.

Ich meine, dass eine historisch einzigartige Gelegenheit entstanden sein könnte, dass sämtliche Staaten enger zusammenrücken, dass Rechtsstaatlichkeit und Souveränität nicht mehr als leere Floskeln abgetan werden.

Angenommen Putin verliert seinen Angriffskrieg und die Ukraine kann sich als souveräner Staat behaupten. Was würde dies für die Polen, welche doch ein starkes Engagement an den Tag legen, bedeuten? Und was würde eine Niederlage für Russland bedeuten?

Auch in diesem Fall wird die Kooperation untereinander enger werden, vor allem die Beziehungen zu allen angrenzenden Staaten, denn die gemeinsame Bedrohung ist sichtbar.

Doch es gibt noch einen weiteren Aspekt, der aus einer Niederlage der Russen folgen könnte, nämlich dass Russland sich seiner imperialen Bürde entledigt.

Hierzu bedarf es nicht nur einer gewöhnlichen Niederlage von russischer Seite, sondern einen Schock der Niederlage für die gesamte Nation. Alle vergangen Versuche, den russischen Staat zu liberalisieren, sind kläglich gescheitert, sowohl die Reformexperimente Gorbatschows als auch die Ära Jelzin, die an ihrer eigenen Korruption zerfallen ist.

Sofern Russland eine wahrhafte Niederlage erfährt, besteht die Möglichkeit, dass Russland ein liberalisierter demokratischer Staat wird. Dies mag angesichts dessen, dass der Krieg seine schlimmsten Ausmaße annimmt, etwas utopisch klingen, doch dann möchte ich betonen: Wer hätte einst gedacht, dass Deutschland solch einen Wandel vollführt? Wer hätte gedacht, dass Deutschland ein friedlicher Staat wird und mit all seinen Nachbarn guten Kontakt sucht? Niederlagen können Staaten zur Besinnung führen, und im Falle Russlands besteht solch eine historische Gelegenheit.

Welche Rolle spielt Deutschland in diesem Krieg? Viele Kritiker auf polnischer Seite haben in den letzten Jahren immer wieder betont, dass die Interessen beider Länder (also Polens und Deutschlands) verschiedener nicht sein könnten. Deutschland verfolgte einen realpolitischen Kurs und wollte eine Eskalation mit Russland um jeden Preis vermeiden, Polen hingegen betrieb lautstark eine antirussische Politik …

Ich vertrete ganz eindeutig die polnische Position, denn diese liegt meinem Verständnis von Europa näher.

Die größte Aufgabe Deutschlands wird in der inneren Auseinandersetzung bestehen. Ich zähle mich selbst zu jenen Akteuren, die von Anfang an eine skeptische Haltung gegenüber dem, was sich in Russland abzeichnete, eingetreten sind. Man konnte das, wohin Putin sein Land nun führt, schon im Jahre 2000 festmachen. Dazu bedurfte es keiner größeren intellektuellen Anstrengung. Ein politischer Realismus wäre angebracht gewesen, doch dafür hätte man die Warnsignale und die Geschichte ernst nehmen müssen.

Putins Kariere im KGB und seine Tätigkeit war allgemein bekannt. Die romantische Verrenkung der Deutschen in der Beziehung zu den Russen war vor allem ökonomischer Natur, man setzte auf „Wandel durch Handel“ und dies über Jahre hindurch. Was daraus entstand, ist die klare Abhängigkeit, die der deutschen Politik jetzt zum Verhängnis wird.

Ein weiterer Faktor, auf welchen jetzt die deutsche Politik seinen Fokus stärker legt, ist die Sicherheitspolitik. Jahrelang wurde in diesem Bereich nur wenig unternommen, denn man interessierte sich eher für seinen eignen Wohlstand. Um es ein wenig zugespitzt zu formulieren, musste man sich in Sicherheitsfragen keine Sorgen machen, denn die Amerikaner waren unser Sicherheitsgarant. Das war eine sehr gemütliche Haltung der deutschen Politik, denn man bezog billiges Öl und Gas von den Russen, ohne sich je um seine eigene Sicherheit sorgen zu müssen. Zumindest redete man sich die Situation schön, und das betrifft nicht nur die deutsche Sozialdemokratie, es ist eher ein parteiübergreifendes Phänomen. Jetzt ist der große Schock erfolgt. Ich hoffe sehr, dass die Deutschen die richtigen Lehren aus ihrer Russlandverklärung ziehen, und das bedeutet: die Ukraine mit allem was wir können zu unterstützen der imperialen Politik Russlands keinerlei passive Unterstützung zu geben..

Bleiben wir optimistisch und hoffen wir, dass Putin seine Ziele nicht umsetzen wird.  Herr Templin, ich bedanke mich für das Gespräch.

Buch. Hardcover 2022 448 S. 40 Abbildungen. Christoph Links Verlag. ISBN 978-3-96289-152-7 Format (B x L): 14.5 x 21.5 cm Gewicht: 674 g

 


Wolfgang Templin, Philosoph und Publizist, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler.

 

 

 

 


Tom Szczepański, studiert Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin

 

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Gespräch

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