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Zur Freundschaft zwischen Edith Stein und Roman Ingarden

„Bei ›Fräulein Stein‹ muss ich mir überlegen, was das für ein Ding ist.“

 

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, handelt von einer nur Wenigen bekannten Freundschaft zwischen einer deutschen Jüdin, die in den Katholizismus konvertierte, und einem Polen, der von Religion nicht allzu viel wissen wollte. Zwischen dem 5. Januar 1917 und dem 6. Mai 1938 führen Edith Stein und Roman Ingarden einen anfangs äußerst intensiven, dann sich abkühlenden und distanziert werdenden Briefwechsel, der zwischen zwei Kommilitonen beginnt und zwischen zwei Menschen, die sich weit voneinander entfernt haben, endet, er inzwischen Professor für Philosophie in Lemberg, sie Nonne im Karmelitenorden im Karmel zu Köln-Lindenthal. Ihre Briefe handeln von der Phänomenologie, von deren Begründer Edmund Husserl, den seine treuen und seine abtrünnigen Schüler nur den „Meister“ nennen, vom Philosophieren, von der politischen Situation im und nach dem I. Weltkrieg, von den Hoffnungen und den Enttäuschungen – und von einer großen Liebe, die es hätte niemals werden können, weil  der kurze Anschein ihrer Wirklichkeit auf einem Missverständnis beruht.  Sie liebt ihn, er schätzt sie. Was sie einen Tag lang für eine Erwiderung ihrer Gefühle hält, resultiert aus seiner depressiven Stimmung, seinen Selbstzweifeln. Zwei, drei Briefe lang kämpft sie sich mühevoll und mit eiserner Disziplin zurück – auf die Ebene der Freundschaft.

In Edith Steins letzten Brief an Roman Ingarden schwebt wie ein feiner dunkler Schleier durchsichtiger Seide eine große Traurigkeit. Zehn Tage zuvor ist der „liebe Meister“ gestorben, Edmund Husserl, den beide verehren, auch wenn sie seine philosophischen Standpunkte längst nicht mehr teilen. Sie lieben ihn, wie man seine erste philosophische Liebe, seine Erweckung nicht aus dem Herzen zu verbannen vermag. Gleich in den ersten Zeilen umreißt sie dem Freund gegenüber die ausweglose Situation: „Ich antworte Ihnen sofort, weil ich wohl weiß, was Husserls Tod für Sie bedeutet. Er hatte sich in den letzten Wochen ganz von Irdischem gelöst, auch von seiner Arbeit, und war nur noch von Sehnsucht nach der ewigen Heimat erfüllt. So war es ein seliges Sterben, das keine Trauer der Zurückbleibenden will. Damit ist aber die Dankesschuld seinem Lebenswerk gegenüber nicht aufgehoben. Gerade in dieser Zeit wäre es sehr angebracht, sie in einer Gedenkschrift zum Ausdruck zu bringen. Aber wer wird sie herausgeben? In welchem Lande soll sie erscheinen? Wir sind ja so weit in der Welt zerstreut und durch so viele Schwierigkeiten gebunden.“

Klaus-Rüdiger Mai: Edith Stein – Geschichte einer Ankunft. Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen.

Im Bericht über Husserls letzte Wochen schwingt auch ihre Loslösung vom Irdischen mit und spielt auf den Großkonflikt ihrer Freundschaft an. Dass Edith Stein Katholikin wird, dass sie nicht nur in den Katholizismus konvertiert, sondern auch den Schleier nimmt, vermag er weder zu billigen, noch zu akzeptieren.  Fast auf dem Tag genau hat sie ihm vier Jahre zuvor in einem Text, in dem sie launig mit sich als Objekt spielt, was ihre Unsicherheit dem Freund gegenüber nur dürftig überspielt, mitgeteilt: „Es ist also nun schon 3 Wochen her, daß für Edith Stein das Sterbeglöckchen geläutet hat. Stattdessen gibt es jetzt die Schwester Teresia Benedicta a Cruce. Das ist etwas lang für den täglichen Gebrauch, und so wird sie gewöhnlich Schwester Benedicta genannt. Sie trägt einen braunen Habit und einen weißen Novizenschleier, bei feierlichem Chordienst einen weißen Mantel. Sie schickt Ihnen ein Bildchen, aus dem Sie sehen können, wie sie als Braut ausgesehen hat.“ Sie weiß ja, dass der Freund aus Studientagen ihren Entschluss missbilligt, wie er bereits ihre Konversion kritisiert hat. Er hat sogar versucht, sie umzustimmen, doch Edith Stein lässt sich von niemandem eine einmal getroffene Entscheidung ausreden. Durch das scherzhafte Reden über sich in der dritten Person wird das Ringen um ihre neue Mitte deutlich. Noch ist sie nicht die Schwester Benedicta, noch ist Benedicta ein recht fremdes Ding, das sie bewegt, eine Schöpfung von ihr, eine Kunstfigur, die nur durch Spiritualität zum Leben erwacht. Dahinter steht der große mystische Gedanke, ganz leer zu werden, um Platz für Gott in sich zu schaffen.

Wir wissen nicht genau, was er schrieb, denn nur ihre Briefe sind erhalten, nicht seine. So dass wir den Inhalt seiner Briefe nur aus ihren Antworten spiegeln können, bedenkend, dass wir mit Hohlspiegeln arbeiten. Was wir wissen, ist aber, dass er sie weiterhin „Fräulein Stein“ nennt und sich beharrlich weigert, ihren Ordensnamen zu benutzen. Kenntnis darüber besitzen wir, weil sie ihm im Sommer 1937, im vorletzten Brief, der erhalten geblieben ist, gereizt auffordert: „Könnten Sie sich wohl entschließen, mich „Schwester Benedicta“ zu nennen, wie ich es jetzt gewöhnt bin? Bei „Fräulein Stein“ muss ich mir überlegen, was das für ein Ding ist.“

Doch zurück an den Anfang. Es gibt nur wenige Beispiele in der Geschichte der Philosophie, dass eine Gruppe junger Philosophen sich so innig miteinander verbunden fühlt, so sehr zusammenhält und einander so sehr zu unterstützen trachtet, wie es die frühen Phänomenologen, Husserls frühe Schülerschar hält. Die Begeisterung, die all diese jungen Leute beherrscht, beschreibt Hedwig Conrad-Martius so: „Wir besaßen keine Fachsprache, kein gemeinsames System, das am allerwenigsten. Es war nur der geöffnete Blick für die geistige Erreichbarkeit des Seins … Es war das Ethos der sachlichen Reinheit und Reinlichkeit…Das musste natürlich auf Gesinnung, Charakter und Lebensweise abfärben.“

Doch dann bricht 1914 der I. Weltkrieg aus. Die Zahl der Studenten hat sich spürbar verringert, viele kämpfen an einer der Fronten. Von den alten Freunden tragen nun Fritz Kaufmann, Adolf Reinach und Hans Lipps feldgrau. Nur der Pole Roman Ingarden hält sich in Göttingen auf, der infolge eines Herzfehlers aus der Polnischen Legion ausgemustert worden ist. Vor dem Krieg ist er mehr unter seinen Landsleuten geblieben, nun entsteht zwischen ihm und Edith Stein zaghaft eine Freundschaft. Husserl wechselt nach Freiburg und Edith Stein, die nach einem Einsatz in einem Seuchenlazarett, ihm folgt, trifft in Freiburg Roman Ingarden wieder, den sie nun näher kennenlernt. In diesen Tagen wird der Grundstein für eine tiefe Freundschaft, aus der auch Liebe hätte werden können, gelegt. Sie hilft Ingarden in der Überarbeitung seiner Dissertation.

Mit Edith Stein trägt auch Roman Ingarden an dem Missgeschick, dass die Würdigung seiner philosophischen Leistung bis auf den heutigen Tag weit unterschätzt wird. Er ist nicht nur einer der wichtigsten polnischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, sondern gehört auch zur deutschen Philosophie. Sein 1931 bei Niemeyer in Halle erschienenes Werk „Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft“ behauptet nach wir vor seinen grundlegenden Platz in der Ästhetik als Impulsgeber und Anreger für die spätere Rezeptionsästhetik.

Ingarden kehrt nach seiner Promotion endgültig nach Polen zurück. In ihren Briefen spürt man ihrer beider Verunsicherung, ihr Ringen um die Philosophie und um die Karriere. Gegenseitig lesen sie ihre Texte, geben Kritik, tauschen als deutscher und als polnischer Patriot ihre Anschauungen aus – und man spürt, wie sehr in den letzten Tagen des Krieges die Mitteleuropa-Idee Friedrich Naumanns sie begeistert, so sehr, dass sie sogar nach dem Krieg der DDP beitritt und sich für kurze Zeit „kopfüber in die Politik gestürzt“ hat, bis sie einsehen muss, dass das politische Geschäft nicht das ihre ist. Ingarden vertraut sie an: „Die Politik habe ich satt bis zum Ekel. Es fehlt mir das übliche Handwerkszeug dazu völlig: ein robustes Gewissen und ein dickes Fell. Immerhin werde ich bis zu den Wahlen aushalten müssen, weil es zu viel notwendige Arbeit gibt. Aber ich fühle mich gänzlich entwurzelt und heimatlos unter den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Wenn ich mich von all dem Wust freimachen kann, dann will ich versuchen, eine Habilitationsschrift zu machen. In dem „neuen Deutschland“ – „falls es ist“ – wird ja die Habilitation keine prinzipielle Schwierigkeit mehr machen.“ Auch in dem neuen Deutschland wird sie sich nicht habilitieren können, weil sie eine Frau und weil sie Jüdin ist.

Im Kloster schließlich verfasst sie in den dreißiger Jahren ihr großes philosophisches Werk „Endliches und ewiges Sein. Ein Aufstieg zum Sinn des Seins“ und ihr großes mystisches Werk „Kreuzeswissenschaft“. Ingarden wird die philosophische Entwicklung Edith Steins immer fremder werden. Schließlich bricht der Briefwechsel ab. Ob Edith Stein und Roman Ingarden ihn wieder aufgenommen hätten, bleibt der Spekulation vorbehalten, denn am 9. August 1942 wird die Philosophin und Karmelitin zusammen mit ihrer Schwerster Rosa in Auschwitz ermordet.

Über 25 Jahre vergehen, bis eine bemerkenswerte Episode den Auftakt dafür bildet, dass Edith Stein am 1. Mai 1987 selig und am 11. Oktober 1998 heiliggesprochen wird. Kardinal Karol Wojtyła, der spätere Papst Johannes Paul II., bat den Philosophen Roman Ingarden 1968, Auskunft über Edith Stein zu geben. Bei näherem Hinsehen werden die Anknüpfungspunkte zwischen dem Kardinal und der deutschen Philosophin deutlich. Edith Stein als Schülerin von Edmund Husserl gehört zu den versierten Phänomenologen, neigt aber doch auch Husserls Gegenpol, dem Philosophen Max Scheler zu. Im Zentrum des Denkens von Max Scheler steht die Person, und ihren Urgrund erblickt er in der Liebe. Die Begegnung mit Schelers Personalismus übt auf Edith Stein einen nicht zu überschätzenden Einfluss aus. Karol Wojtyła beschäftigt sich nun nicht minder mit Schelers Personalismus und habilitiert sich 1953 mit der Arbeit „Beurteilung der Rekonstruktionsmöglichkeiten einer christlichen Ethik auf der Basis der Voraussetzungen des ethischen Systems von Max Scheler“. In Scheler treffen sich also Steins und Wojtyłas Interessen.

Promoviert wird der junge Geistliche 1948 in Rom über die Glaubensdoktrin beim heiligen Johannes vom Kreuz, Edith Steins letzte große Arbeit unter dem Titel „Kreuzeswissenschaft“ stellt eine fulminante Auseinandersetzung mit Johannes vom Kreuz dar. Aber damit nicht genug. Der polnische Priester, der später Papst wird, pflegt von Kindesbeinen an ein enges Verhältnis zu Juden und zur jüdischen Kultur, die vom hohen Respekt geprägt ist. Als Papst spricht er mit hoher Achtung von den „älteren Brüdern im Glauben“. Karol Wojtyła mag in Edith Stein, die in einer jüdischen Familie in Breslau geboren wird, die zum Katholizismus konvertiert, den Schleier nimmt und die schließlich die Nationalsozialisten am 9. August 1942 in Auschwitz aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermorden, eine Brückenbauerin zwischen Judentum und Christentum sehen, eine Märtyrerin und Heilige ist sie für ihn ohnehin.

Am 6. April 1968 hält Roman Ingarden also auf Einladung des Kardinals in Krakau vor geladenen Gästen einen Vortrag über Edith Stein. Der Vortrag selbst, der in sich äußerst kompliziert ist, liest sich trotz aller äußerlichen Kühle und Distanz wie ein Nachwort auf ihren Briefwechsel, eine Art Epilog, höchst einseitig zwar, dennoch erhellend. Ingarden beginnt den Vortrag mit der Bemerkung: „Wir gehörten beide derselben philosophischen Gemeinschaft, der Göttinger Gruppe der Phänomenologen an, und viele Jahre hindurch waren wir durch enge wissenschaftliche Beziehungen miteinander verbunden (1916-1939). 1916 und 1917 haben wir uns täglich gesehen, und fast bis zum Ausbruch des Krieges (1939) haben wir korrespondiert.“

In dem Vortrag, in dem er sich kritisch mit der philosophischen und religiösen Entwicklung Edith Steins auseinandersetzt, spürt man das Ringen, auch das Hadern mit ihr, vor allem – was für ein Freundschaftsdienst – versucht er, ihr philosophisches Werk von den religiösen Überwucherungen zu befreien, insbesondere ihr Frühwerk als Phänomenologin: „Auch die Veröffentlichungen über Edith Stein, die ihrer Biographie und der Tatsache ihrer Konversion zum Katholizismus gewidmet sind, lassen ihren früheren wissenschaftlichen Ertrag ganz und gar beiseite, so als ob er nicht existierte. Meines Erachtens wurde Edith Stein dadurch ein Unrecht angetan. Sie war Philosophin, Wissenschaftlerin, und ist es auch im Kloster geblieben. Auch unter schwierigen Bedingungen hat sie ihre wissenschaftliche Arbeit weitergeführt.“

Dem philosophischen Werk Edith Steins ist inzwischen durch ein reges wissenschaftliches Engagement Gerechtigkeit widerfahren – auch dank des Vortrages von Roman Ingarden und des Interesses Johannes Pauls II.

 

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Klaus-Rüdiger Mai

Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil, geboren 1963, Schriftsteller und Publizist, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, veröffentlichte Biographien, historische Sachbücher, Essays, Rezensionen, politische Feuilletons und Romane.

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