Zum Inhalt springen

Der gute Geist der „Kultura“

Mit Kamila Łabno-Hajduk, Autorin der Biografie von Zofia Hertz, sprach Piotr Leszczyński.

 

Piotr Leszczyński: Zofia Hertz war eine außergewöhnliche Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts. Nichts in ihrer Lebensgeschichte war selbstverständlich oder vorbestimmt. Sie wurde in Warschau geboren, 1910 … oder vielleicht 1911?

Kamila Łabno-Hajduk: Gewiss, ihr Lebenslauf ist ungewöhnlich und voll von bemerkenswerten Zufällen.

Zofia Hertz war zum Teil Warschauerin, sie wurde in Warschau geboren, ein Großteil ihres Lebens vor 1939 verbrachte sie aber in Łódź (Lodz), demnach war sie irgendwie auch Lodzerin. Schwer zu sagen, mit welcher Stadt sie sich mehr identifizierte. Wenn ich raten sollte, würde ich auf Lodz tippen. Das Leben in Warschau, ihre Kindheit, war nicht die glücklichste Zeit. Zuerst trennten sich ihre Eltern, und danach wurde es nicht besser; ihre Mutter wurde krank und starb. Als Zofia Hertz nach Jahren nach Warschau zurückkehrte, um Jura an der Universität Warschau zu studieren, hatte sie mit großen finanziellen Problemen zu kämpfen. Diese führten schließlich zum Abbruch ihres Studiums, obwohl das nicht unbedingt der einzige Grund war. Ihre Kindheit und Jugend waren also nicht gerade unbeschwert. In der Lodzer Zeit hingegen wurde Zofia Hertz selbstständig und finanziell unabhängig, nachdem sie einige Jahre bei Verwandten und in Pensionen wohnen musste. Sie fand Arbeit in der Notarkanzlei im Zentrum der Stadt, am Platz Wolności 2 (heute gibt es dort eine Gedenktafel), machte die Prüfung zur Notarin und dann lernte sie Zygmunt Hertz kennen, mit dem Sie eine glückliche Ehe führte.

Mit dem Geburtsjahr von Zofia Hertz ist eine interessante Geschichte verbunden, die auf die Kriegszeit zurückgeht. Sie verbrachte mehrere Monate in der Siedlung Tsynglok in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Mari, wo sie über zehn Stunden täglich als Holzfällerin arbeitete, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Freigelassen wurde sie infolge der Amnestie für polnische Gefangene im Rahmen des Sikorski-Maiski-Abkommens (das Abkommen zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und der UdSSR, die am 17. September 1939 abgebrochen wurden). Sie kam nach Buzuluk, wo sich die polnische Armee in der UdSSR unter General Władysław Anders formierte. Keiner der Rekrutierer wollte glauben, dass Zofia Hertz volljährig war (!). Seitdem gab sie 1911 als ihr Geburtsjahr an. Es ist schwierig dahinterzukommen, warum sie sich um das eine Jahr jünger machte. Als sie zur Armee ging, zum Freiwilligendienst der Frauen, war sie 31, oder wie es sich aus den militärischen Rekrutierungsunterlagen ergab, 30 Jahre alt.

Lass uns jetzt ihr Leben vor ihrer Zusammenarbeit mit der polnischen Exilzeitschrift „Kultura“ rekapitulieren. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wurde sie als erste Frau Notarin in Lodz. Im September 1939 befand sie sich zusammen mit ihrem Mann Zygmunt Herz in den von der sowjetischen Armee besetzten Gebieten, wo sie das Schicksal vieler Polen teilten: Sie wurden vom NKWD verhaftet und in den äußersten Norden der Sowjetunion deportiert, in die Straflager, wo sie bei der Waldrodung arbeiteten. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR traten sie bei der ersten Gelegenheit in die polnische Armee ein. Zygmunt wurde Soldat und Zofia eine Propaganda-Mitarbeiterin. Während ihres Dienstes lernte sie Józef Czapski und Jerzy Giedroyc kennen. So begann ihre Zusammenarbeit, die in der Gründung des Instytut Literacki (Literarisches Institut) und der legendären Pariser „Kultura“ mündete, einer Monatszeitschrift, die ununterbrochen von 1947 bis 2000 herausgegeben wurde. Würdest Du noch etwas hinzufügen?

Vor allem wurde sie nicht nur die erste Notarin in Lodz, sondern die erste in ganz Polen! Das war doch was! Die lokalen Zeitungen ließen sich, nicht ohne Sensationslust, weitschweifig darüber aus: „Eine Lodzerin wird zur ersten Notariatskandidatin in Polen!“ Ihr Vorgesetzter, Apolinary Karnawalski, war sehr stolz darauf, dass gerade ihm die Zusammenarbeit mit Zofia Herz zuteilwurde und dass ausgerechnet in seiner Kanzlei die Emanzipation der Frauen im Notariat stattfand. Wo er nur konnte, prahlte er damit, in seiner Kanzlei habe die „berühmte Lodzerin“ gearbeitet.

Für Zofia und Zygmunt Herz waren die vierzehn Monate in den Straflagern eine harte Prüfung. Meistens war Zofia der Fels in der Brandung, niemals mangelte ihr an innerer Stärke; nur in dieser schweren Zeit ließ ihr Lebenswille nach. Es war einer der wenigen Momente, in dem sie, zwar nur kurzzeitig, zu zerbrechen drohte. Zygmunt war derjenige, der bis zum Schluss daran glaubte, sie werden irgendwann dieses „unmenschliche Land“ (Sibirien) verlassen können und ihr Leben wird dann ganz anders sein. Und er hatte recht.

Zofia Hertz

Die Begegnung mit Józef Czapski und anschließend mit Jerzy Giedroyc, die sie auf ihrem Lebensweg getroffen hatte, änderte das Schicksal von Zofia Herz. Als ob sie nach Monaten in den Straflagern innerhalb kürzester Zeit begonnen hätte, den Sinn des Lebens und ihren Lebenswillen zurückzugewinnen. Die Arbeit für das Verlagswesen der Polnischen Armee im Osten (ab 1943 das 2. polnische Korps), ob bei der Wochenzeitung „Orzeł Biały“ oder bei der Zeitschrift „Parada“ ermöglichte ihr, die Redaktionsarbeit in- und auswendig kennenzulernen. Diese wollte sie nach dem Krieg nicht aufgeben. Und noch weniger wollte sie auf die Zusammenarbeit mit Giedroyc verzichten. Der spätere Chefredakteur der „Kultura“ glaubte zutiefst an die Botschaft des Wortes, an die Kraft der Literatur, und mit dieser Überzeugung steckte er Zofia Herz an. Die Arbeit um etwas Willen und zugunsten von etwas schien ihr um vieles befriedigender als das, was sie vor dem Krieg gemacht hatte.

Zudem war Zofia Hertz von Giedroyc als Mann fasziniert. Einen exzellenten Einblick in die Entwicklung dieser Beziehung und in ihre verschiedenen Phasen gewährt uns die Korrespondenz der beiden (über 410 Briefe; zurzeit arbeiten wir zusammen mit Prof. Sławomir M. Nowinowski an einer kritischen Edition). Interessanterweise mochten sie sich zu Anfang ihrer Bekanntschaft gar nicht, das heißt, der erste Eindruck war nicht unbedingt gut. Das hielt jedoch nicht lange an. Sie wurden Freunde und die Freundschaft dauerte die nächsten 60 Jahre.

Dein Buch „Zofia Hertz. Życie na miarę kultury“ (Zofia Hertz. Ein kulturgerechtes Leben) ist die erste Biografie, die 20 Jahre nach dem Tod des guten Geistes von Maisons-Laffitte, wie sie oft genannt wurde, erschien. Warum mussten wir so lange auf ihre vollständige Biografie warten? Immerhin ist die Protagonistin unseres Gesprächs weder eine Unbekannte, noch wurde sie vergessen …

Wir warten nach wie vor auf Biografien vieler Emigrantinnen, die eine wichtige Rolle im polnischen Exilmilieu nach 1945 gespielt haben. Wir verfügen über keine Biografien von Maria Czapska, Maria Danilewicz-Zielińska, Aniela Mieczysławska (geboren Lilpop), Maria Prądzyńska, Karolina Lanckorońska, und das ist nur der Anfang einer langen Schamliste. Diesen hervorragenden Akteurinnen des polnischen Exillebens wurde bis heute nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie zweifellos verdienen.

Obschon sie eine Schlüsselrolle in der Entwicklung und dem Fortbestehen der polnischen Insel im Maisons-Laffitte nahe Paris gespielt hatte, war Zofia Hertz nicht wirklich künstlerisch tätig. Sie hinterließ mehrere Schriften, doch waren es größtenteils Amtsschreiben sowie Schriftverkehr mit Abonnenten der Institutspublikationen oder Korrespondenz mit Freunden. Sie war für die Verwaltungsarbeit zuständig, ohne die das Institut nicht existiert hätte, und dennoch wurde sie nicht derart gewürdigt, wie große Herausgeber, Redakteure, Schriftsteller und Übersetzer. Man könnte sogar sagen, ihre Biografie drängte nicht darauf, geschrieben zu werden.

Zofia Hertz wirkte mit bei der Gestaltung eines einzigartigen intellektuellen Phänomens auf der europäischen Landkarte, das entscheidend für die Demokratisierung der Länder Mittel- und Osteuropas nach 1989 war. Ihren Beitrag leistete sie allerdings durch die höchst undankbare alltägliche Arbeit, die unabdingbar und trotzdem letztlich unsichtbar war. Dank des persönlichen Einsatzes von Jerzy Giedroyc, Redakteur der „Kultura“ und des intensiven Lektorats von Zofia Hertz, konnten viele heute berühmte Autoren wie Witold Gombrowicz, Józef Wittlin, Jerzy Stempowski oder Andrzej Bobkowski nach dem Krieg als Literaten in Erscheinung treten, was wir nicht vergessen sollten.

Giedroyc meinte, drei Personen machten die Pariser „Kultura“ aus: Zofia Hertz, Juliusz Mieroszewski und er. Diese Aussage beschreibt am besten ihre Rolle.

Seine Meinung änderte Giedroyc bis zum Schluss nicht. Juliusz Mieroszewski war ein führender Essayist und Publizist, Vertreter der politischen Linie der „Kultura“; er verfasste die ULB-Doktrin (Ukraine, Litauen, Belarus), das heißt, die Grundlage für das Denken des „Kultura“-Kreises über den Osten Europas, deren Widerhall noch heute zu vernehmen ist. Generationen von Autoren, die für die „Kultura“ schrieben, wechselten im Laufe der Jahrzehnte, dennoch waren keine anderen in einem solchen Ausmaß wie Mieroszewski und eben Zofia Hertz der Sache verschrieben. Hertz bewies mehrmals ihre Loyalität gegenüber Giedroyc, wobei sie ihre Ehe mit Zygmunt aufs Spiel setzte. Für die Sache und die Idee war sie bereit, alles zu opfern.

Zum „Kultura“-Kreis, der eng mit Jerzy Giedroyc zusammenarbeitete, gehörten Gustaw Herling-Grudziński (bis 1947 und von 1956), die Bewohner des Hauses in Maisons-Laffitte, also Zofia und Zygmunt Hertz, Józef Czapski (bis 1960, dann begann er, sich mehr der Malerei zuzuwenden) sowie der in Paris lebende, freie Mitarbeiter Henryk Giedroyc (ab 1952) und der erwähnte Mieroszewski (bis 1976).

Wie sah denn das Zusammenleben in der Redaktion aus? Es ging wohl nicht ohne Konflikte und Auseinandersetzungen …

An Streitigkeiten und Kontroversen mangelte es nicht, was nicht wundert, da das Anwesen in Maisons-Laffitte nicht nur der Sitz der Redaktion und des Verlags war, sowie ein Ort, wo die „Arbeit für polnische Rezipienten“ stattfand, sondern auch ein Wohnhaus für mehrere nicht miteinander verwandte Personen. Unter einem Dach mussten Menschen mit unterschiedlichen Eigenarten, Charakteren und Erwartungen zusammenleben: das Ehepaar Hertz, Jerzy Giedroyc, Józef Czapski, Maria Czapska und Henryk Giedroyc, der jeden Tag dort war. Dazu kamen regelmäßige, kürzere und längere Besuche von Freunden der „Kultura“ und Gästen aus Polen. So suchte Gustaw Herling-Grudziński ab 1956 das Haus in Maisons-Laffitte häufig für einige Wochen auf, und 1951 verweilte dort für längere Zeit Czesław Miłosz.

Die Intensität des Berufs- und Privatlebens führte unausweichlich zu Spannungen, unter anderem zwischen Czapski und Giedroyc, Zygmunt Hertz und Giedroyc oder Zofia Hertz und Maria Czapska. Die Verhältnisse im Haus der „Kultura“ waren zuweilen sonderbar (Józef Czapski und Maria Czapska führten einen eigenen Haushalt, sie hatten eine eigene Küche im ersten Stock), und so konnten sogar temporäre Gäste die Eigenart der Czapskis erkennen.

Ungeachtet der aufkommenden Konflikte oder der mit der Zeit immer schwächer werdenden Bindungen trauerte Giedroyc zutiefst um die engsten Freunde: Zygmunt Hertz (1979), Józef Czapski (1993) und Juliusz Mieroszewski (1976). Dies waren wichtige Einschnitte sowohl in der Geschichte des Instytut Literacki als auch persönlich für Zofia Hertz und Jerzy Giedroyc.

Gab es etwas, was Dich besonders berührte, als Du für die Biografie von Zofia Herz recherchiert hattest?

Die Tatsache, wie intensiv sie gearbeitet hatten. Eigentlich bis zum Umfallen. Die „Kultura“ gaben sie monatlich heraus, dann „Zeszyty Historyczne“ (ab 1962; zuerst halbjährlich, später als Quartalzeitschrift), dazu kamen Bücher, von denen jährlich mehrere erschienen. Die Arbeit an den Texten erfolgte per Hand. Zofia Hertz tippte oft die Manuskripte ab und erst dann arbeitete sie am Text. Der Satz, die Korrektur, all das wurde in Handarbeit erledigt. Nicht zu vergessen die Verwaltungs- und Steuerangelegenheiten, das alltägliche Funktionieren sowie die umfangreiche Korrespondenz, die jedes Redaktionsmitglied führte. Sie hatten wirklich kein Privatleben, dafür war keine Zeit. Ihre Hingabe war grenzenlos.

Was ist heute von der Botschaft des Instytut Literacki geblieben?

Institutionen, Zeitschriften, Organisationen, die in Giedroyc` Sinne aktiv sind. Die einen tun es besser, die anderen schlechter, Hauptsache, seine Ideen sind immer noch lebendig. Gemeint sind die Errungenschaften und Leistungen dieses Kreises sowie die ständige Rückbesinnung polnischer Intellektueller auf das, was viele Jahrzehnte zuvor in der „Kultura“ erschien beziehungsweise vom Instytut Literacki herausgegeben wurde.

In letzter Zeit griff ich mehrmals nach alten Artikeln, die in der „Kultura“ veröffentlicht wurden und konnte es kaum fassen, wie aktuell ihre Analysen aus den späten 1940er und 1950er Jahren über russische Desinformationsaktivitäten und Versuche, die Medien zu destabilisieren, sind. Ebenfalls erinnere ich mich, wie Basil Kerski auf der Jubiläumskonferenz des Instytut Literacki in Paris darüber sprach, wie zeitgemäß das politische Denken der „Kultura“ in Bezug auf deutsch-polnische Erfahrungen im Jahr 2021 ist. Die Korrespondenz von Jerzy Giedroyc mit den am intellektuellen Exilleben (und nicht nur) Teilnehmenden wird bis heute veröffentlicht. Das bereichert unser Wissen, ab und zu wirft es sogar ein neues Licht auf ihre Verdienste in verschiedenen Bereichen.


Kamila Łabno-Hajduk, Historikerin, Politikwissenschaftlerin, arbeitet am Jan-Nowak-Jeziorański-Osteuropa-Kolleg. Autorin der Biografie “Zofia Hertz. Życie na miarę Kultury” (2023).

 

 

 

Piotr Leszczynski Autor DIALOG FORUMPiotr Leszczyński ist Historiker, Redaktionssekretär und Herausgeber der Danziger Vierteljahreszeitschrift „Przegląd Polityczny”, Redakteur des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG und des DIALOG FORUMS.

Schlagwörter:
Gespräch

Gespräch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.