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Taiwan, die Ukraine und falsche Rückschlüsse

Die russische Invasion der Ukraine und ihr Einfluss auf die chinesische Taiwan-Politik

Die USA schlagen seit längerer Zeit Alarm, China plane einen Angriff auf Taiwan. 2021 warnte der damalige Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Indo-Pazifik vor einer möglichen chinesischen Invasion vor 2027. Der Chef der US-Navy, Mike Gilday, merkte im Oktober letzten Jahres an, für Peking biete sich bereits 2022 oder vielleicht 2023 eine Gelegenheit dazu. Diese Einschätzungen wurden unlängst von CIA-Chef William Burns mit der Behauptung bekräftigt, Xi Jinping habe die chinesische Volksbefreiungsarmee angewiesen, vor 2027 zur Einnahme Taiwans bereit zu sein.

Die US-amerikanischen Warnungen haben zwei Gründe. Erstens ist die chinesische Führung in den vergangenen Monaten mehr oder weniger offiziell von der lange gepflegten Politik des „friedlichen Anschlusses von Taiwan“ abgegangen, um stattdessen davon zu sprechen, die Annexion der Insel sei eine Notwendigkeit, ohne gewaltsame Methoden auszuschließen. Das beunruhigt Washington, zumal Routineberichte auf systemische Schwächen und Rüstungslücken in der US-Navy hinweisen. Gleichwohl setzen die Amerikaner ihre in den 1970er Jahren begonnene Politik der „strategischen Ambivalenz“ fort, die offenlässt, welche konkreten Maßnahmen sie im Falle einer chinesischen Invasion von Taiwan ergreifen.

Zweitens gehören diese Warnungen zu der Strategie, die Absichten der Gegner der USA öffentlich zu machen, damit andere Staaten dazu auf kritische Distanz gehen. Ähnliches taten sie, als sie über Monate hinweg vor einer russischen Invasion der Ukraine warnten, wobei sie immer wieder neue Daten angaben, ohne dass der russische Angriff erfolgte.

Deshalb sind gegenwärtig viele Kommentatoren und Beobachter sicher, die beispiellose Hilfe der USA für die Ukraine sei auch ein Signal an die Adresse von Peking. Sie solle zeigen, Washington sei hinsichtlich Taiwans ebenso entschlossen wie in Bezug auf die Ukraine. Diese Annahme scheint ohne weiteres plausibel, doch verlangt sie einige Worte der Erläuterung.

Unterschiede zwischen Taiwan und der Ukraine

Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass die Vereinigten Staaten formal nicht verpflichtet sind, die Ukraine oder Taiwan zu verteidigen. Die US-Waffenlieferungen für die Ukraine und Taiwan rühren nicht aus vertraglichen Vereinbarungen, sondern einfach darauf, dass Washington meint, sie lägen im amerikanischen Interesse und würden seine wichtigsten Gegner schwächen. Weder Ukraine noch Taiwan sind Gegenstand der durch Artikel 5 des NATO-Vertrags gegebenen Garantien, was belegt, dass sich die USA klar über das hohe Kriegsrisiko für diese Staaten sind; daher sind sie nicht bereit, sich gegebenenfalls auf bestimmte Maßnahmen festzulegen. Das ist zur Zeit klar an der Ukraine zu erkennen, bei der die USA ihre Strategie in Abhängigkeit von der Entwicklung anpassen können, ohne durch schriftliche Vereinbarungen gebunden zu sein.

Zweitens gilt es zumeist als selbstverständlich, dass bei einer chinesischen Invasion Taiwans die Amerikaner in den Krieg eintreten und eigene Soldaten schicken werden. Diese Annahme stützt sich auf das amerikanische Engagement bei der Unterstützung der Ukraine; wenn sie sich dort schon engagieren, so würden sie sich umso eher für die Verteidigung Taiwans einsetzen. Doch sollten wir nicht übersehen, dass die US-Hilfe für die Ukraine zwar ohne Beispiel, aber doch nicht unbegrenzt ist, und dass nichts darauf hinweist, dass sie bis zur Entsendung eigener Truppen zur Unterstützung von Kiew gehen wird.

In diesem Sinne sagt die Unterstützung der Ukraine nichts darüber, welche Kosten die US-Amerikaner im Falle eines Angriffs auf Taiwan zu tragen bereit sind, auch wenn dieses aus amerikanischer Sicht eine wichtigere geostrategische Position hat als die Ukraine. Es handelt sich um zwei sehr verschiedene Fälle, so dass es arg in die Irre führt, hier irgendwelche weitreichenden Schlüsse zu ziehen. Schließlich wissen wir nicht, ob überhaupt eine Invasion erfolgen wird, und wenn doch, zu welchem Zeitpunkt. Wir wissen nicht, wer dann US-Präsident sein wird, wie die innenpolitischen Auseinandersetzungen der USA Umfang und Tempo der Hilfe für Taiwan beeinflussen werden und ob ein volles militärisches Engagement die beste Art wäre, Taiwan zu unterstützen.

Drittens ist in der öffentlichen Debatte zu vernehmen, der Umfang der US-Hilfe für die Ukraine werde die Chinesen zur Vorsicht veranlassen, so dass Peking es sich zweimal überlegen wird, Taiwan anzugreifen. Doch liefern die Amerikaner schon sehr lange Waffentypen nach Taiwan, von denen die Ukraine nur träumen kann; so hat Washington unlängst beschlossen, Taiwan Munition für F-16 Kampfflugzeuge zu verkaufen. Diese Hilfe genießt überparteiliche Unterstützung seitens der Republikaner wie Demokraten. China sieht diese Waffenlieferungen mindestens als unfreundlichen Akt und wird auf dieser Grundlage entscheiden, nicht aufgrund des Eindrucks, den die US-Hilfe für Kiew macht.

Eine mögliche Alternative

Sollte China eine Lehre aus dem Ukrainekrieg ziehen, dann geht es dabei nicht so sehr um die US-Hilfe für Kiew als vielmehr um den Verlauf der Invasion. Die Russen wollten nach allen Vorhersagen die Ostukraine binnen einer Woche einnehmen, in Kiew einmarschieren, Wolodymyr Selenskyj aus dem Amt entfernen und eine kremltreue Regierung installieren. Allein, dieser Plan schlug nicht nur fehl, sondern die russischen Truppen stecken jetzt bereits über ein Jahr in der Ukraine fest, ihre Geländegewinne halten sich im Vergleich mit den ursprünglichen Annahmen in Maßen, und Russland musste seine Wirtschaft unter der Last der westlichen Sanktionen anpassen. Daher hat Moskau jetzt auch keine Mitsprache bei der künftigen Gestaltung der europäischen Ordnung, und es ist nicht anzunehmen, dass es diese in absehbarer Zeit zurückgewinnen wird. Kurz gesagt hat Russland seine Kriegsziele auf politischem Felde nicht erreicht.

Deshalb wäre es für China eine sinnvolle Lehre, dass die internationalen Beziehungen am sichersten auf evolutionärem Wege und nicht durch militärisches Vorgehen zu verändern sind. Es gibt in der Geschichte eindeutige Beispiele dafür, dass es nicht in der Natur von Mächten liegt, sich eine solche Selbstbeschränkung aufzuerlegen, und gewiss ist diese nicht sehr verbreitet. Doch ließen sich so sicher viele Konflikte und Ressentiments vermeiden, die in der internationalen Politik die Antriebskraft für viele aggressive, nicht ganz durchdachte Aktionen sind.

Der britische Theoretiker des politischen Realismus Edward Hallett Carr hatte Recht, als er am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schrieb: „[…] die utopische Annahme, es bestehe ein weltweites Interesse an der Erhaltung des Friedens, das identisch mit dem Interesse einer jeden einzelnen Nation sei, gestattete es Politikern und politischen Denkern aus der ganzen Welt zu vermeiden, sich mit der leidigen Tatsache auseinanderzusetzen, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Interesse von Ländern besteht, die den Status quo erhalten wollen, und solchen, die Veränderung wünschen.“

China ist ein Land, das die Rolle eines unangefochtenen Regionalhegemons anstrebt und die Präsenz von US-Truppen und Washingtons Engagement in der Region als Hindernis auf dem Weg dahin wahrnimmt. China stellt die nach 1945 von den USA aufgebaute Ordnung in Frage, weil es meint, da es schon einmal zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt geworden sei, sollte sich das auch politisch niederschlagen. Den Anschluss Taiwans betrachtet China, ob gerechtfertigt oder nicht, aus Sicht der eigenen Interessen als fundamental. Es ist allgemein bekannt, dass Staaten, die um ihre essentiellen Interessen zu kämpfen meinen, dazu neigen, sehr hohe Kosten in Kauf zu nehmen und große Anstrengungen zu machen, um ihr Ziel zu erreichen. Im Übrigen ist dafür Russland ein gutes Beispiel, weil es meint, in der Ukraine um seine Zukunft zu kämpfen, so dass weder westliche Sanktionen noch Waffenlieferungen an die Ukraine etwas daran ändern, wie der Kreml die Sache sieht.

Dass die USA die Ukraine unterstützen, bedeutet mithin nicht, China werde vor einem Angriff auf Taiwan zurückschrecken. Es bedeutet ebenso wenig, es werde den Weg der Selbstbeschränkung einschlagen, der ihm ermöglichen würde, bessere Beziehungen mit benachbarten und anderen Ländern aufzubauen, welche letztere die wachsende Macht Pekings fürchten.

China wird eine Invasion Taiwans beginnen, wenn es der Auffassung ist, dass die Vorteile die Kosten überwiegen. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass das US-Engagement in der Ukraine irgendeinen sonderlichen Einfluss auf das chinesische Kalkül haben wird.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

Ein Gedanke zu „Taiwan, die Ukraine und falsche Rückschlüsse“

  1. Ein brauchbarer Versuch, die gegenwärtige und ggf. zukünftige Politik der Großmächte zu analysieren.
    Beeindruckend ist die objektive Herangehensweise des Autors, die man ansonsten relativ oft vermisst.
    Für mich ergibt sich die Frage: Bedarf es denn immer Provokationen und kriegerischer Handlungen, um Machtbestrebungen Nachdruck zu verleihen? Aus meiner Sicht trifft das sowohl auf die USA als auch auf Russland zu, hier: im Zusammenhang mit der Ukraine. Im Falle China und Taiwan bleibt die Entwicklung abzuwarten, aber auch da das Mitwirken seitens der USA.
    Dabei gibt es viele andere Probleme zu bewältigen, wie den Klimaschutz, den schonenden Umgang mit Ressourcen, die Eindämmung der Fluchtbewegungen u. a.

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