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Waffenstillstand der Titanen

Es bestehen wohl kaum noch Zweifel daran, dass die beiden wichtigsten Mächte unserer Zeit die Vereinigten Staaten von Amerika und die Volksrepublik China sind. So ist es nur konsequent, wenn insbesondere die chinesischen Medien das Verhältnis zwischen diesen beiden als die „wichtigsten internationalen bilateralen Beziehungen“ einstufen.

Die USA sind zwar nach wie vor mit 24 bis 25 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts der wichtigste Akteur im nominellen Sinne, doch China steht mit etwa achtzehn Prozent an zweiter Stelle und überholt damit gerade die Europäische Union in ihrer Gesamtheit. Legen wir dagegen die Kaufkraft (purchasing power parity, PPP) sowie die Summe der Handelsumsätze zugrunde, befindet sich China in der Führungsposition.

Es unterliegt hingegen keiner Debatte, dass die USA immer noch auf den Gebieten Militär, Technologie und Wissenschaft führend in der Welt sind, aber diese Position, die sie in spektakulärer Weise nach dem Zerfall der UdSSR gewonnen haben, wird ihnen neuerdings immer öfter strittig gemacht. Unübersehbar gehört dieser Moment der Unipolarität der Vergangenheit an, und der größte und damit auch gefährlichste Gegner für die US-amerikanischen Führungsrolle ist eben China.

Denn die übrigen größten Akteure, nämlich Deutschland, Japan und Indien (in dieser Reihenfolge) sind wirtschaftlich viermal schwächer als China und fünfmal schwächer als die USA. Überdies geht die Schere zwischen den beiden Führungsmächten und den Nachzüglern immer weiter auseinander. Auf vielen Gebieten, so bei der Künstlichen Intelligenz (KI), der Hightech, den seltenen Erden und der Eroberung des Weltraums gibt die US-amerikanisch-chinesische Rivalität zukünftige Entwicklungen vor.

 

Eskalation

Selbstverständlich wissen wir nicht, wie sich diese bilateralen Beziehungen zukünftig gestalten werden, aber es bestätigt sich bereits der aus der Geschichte bekannte Grundsatz, dass der gewesene Hegemon das Feld nicht kampflos räumt. Spätestens seit Donald Trumps Administration (2017–2021) haben wir es mit einer strategischen Rivalität zu tun, die an die Stelle des vorherigen wechselseitigen Engagements getreten ist. Der im März 2018 von Trump angezettelte Handels‑ und Zollkrieg dauert immer noch an. Während der Pandemie und besonders nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, als China und der Westen für unterschiedliche Kriegsparteien Stellung bezogen, ist zusätzlich noch ein Medienkrieg hinzugekommen, ein echter Krieg um Halbleiter, ein Wettlauf im Kosmos, und sogar ein deutlicher Rüstungswettlauf. Was viele Beobachter zu dem Schluss führt, dass vielleicht noch nicht weltweit, aber bei den chinesisch-US-amerikanischen Beziehungen bereits ein Kalter Krieg 2.0 angefangen habe.

Steht uns die berühmte Falle des Thukydides bevor, also ein Übergang in einen heißen Krieg zwischen dem bisherigen Hegemon und dem Thronprätendenten, so definiert von Forschern der Universität Harvard unter Leitung von Graham Allison? In jüngster Zeit schien vieles darauf hinzudeuten, denn es gab eine merkliche Eskalation der Spannungen, der Missverständnisse, der Auseinandersetzungen und der Scharmützel aller Art. Wie die Meinungsumfragen des renommierten Pew Research Centers in Washington belegen, hat Chinas Image im Westen gewaltigen Schaden erlitten, während in den USA gar Konfuzius-Institute geschlossen wurden (von mehr als einhundert sind noch dreißig geblieben), und die Chinesen fingen an, ihre Pandas wieder aus US-amerikanischen Zoos abzuziehen, die sie in ihrer Diplomatie als Botschafter von Freundschaft und guten Beziehungen einsetzen.

Die beiderseitigen Streitereien eskalierten während der Pandemie, als Menschen im gesamten Westen am eigenen Leibe erfuhren, wie sehr sie bereits von chinesischen Waren abhängen, nicht etwa nur medizinischen Ausrüstungen, sondern von Lieferketten, die in China ihren Ausgang nehmen. Die Lage spitzte sich Anfang August 2022 zu, als die damalige Mehrheitsführerin im Abgeordnetenhaus Nancy Pelosi, die Nr. 3 in der politischen Hierarchie der USA, Taiwan besuchte. Für Peking mit seiner beharrlichen Ein-China-Politik war das eine Ohrfeige, und selbstverständlich regierte Peking, nämlich mit einer kurzen Blockade der Insel, Truppenbewegungen und dem Abbruch der Kontakte mit der US-Militärführung.

Im November 2022 brachte das Spitzengespräch zwischen den Präsidenten Joe Biden und Xi Jinping auf Bali eine vorübergehende Entspannung; den Rahmen dazu bildete der APEC-Gipfel (Asia-Pacific Economic Cooperation – informeller Verbund zur wirtschaftlichen Kooperation im asiatisch-pazifischen Raum). Als jedoch Anfang Februar US-Außenminister Antony Blinken nach China reisen sollte, machte ausgerechnet am Tag zuvor der chinesische Ballon über Nordamerika Schlagzeilen, der nach US-amerikanischer Auslegung ein Spionageballon war, während die Chinesen behaupteten, er diene meteorologischen Zwecken.

Daher verzögerte sich Blinkens Reise nach Peking bis Ende Juni. Doch im Anschluss daran besuchten noch eine Reihe weiterer hochrangiger Mitglieder der US-Administration die Volksrepublik, und zwar der Reihe nach Notenbankchefin Janet Yellen, der Sondergesandte für Klimafragen und frühere Außenminister John Kerry, Handelsministerin Gina Raimondo, selbst der hundertjährige frühere Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger. Ende Oktober absolvierte der chinesische Außenminister Wang Yi seinen Gegenbesuch in Washington, und damals wurde ein weiteres Spitzengespräch zwischen den Präsidenten Biden und Xi beim nächsten APEC-Gipfel vereinbart, der Mitte November in San Francisco stattfand.

 

Der Gipfel

Tatsächlich fand die Spitzenbegegnung am 14. bis 16. November statt. Die Atmosphäre war wieder entspannt, weil sich die Staatschefs bereits seit beinahe zwanzig Jahren kennen, denn zuvor waren sie Vizepräsidenten und führten in dieser Position Gespräche miteinander. Jemand hat zusammengerechnet, dass sie etwa einhundert Stunden miteinander verbrachten, denen sie bei dieser Gelegenheit vier weitere hinzufügten. Zusätzlich traf sich der Vorsitzende Xi Jinping, nota bene unabhängig von den offiziellen Begegnungen, mit einem „Kreis von Freunden Chinas“ zu einem Frühstück, unter denen sich die CEOs wichtiger Firmen und Geschäftsleute wie Elon Musk (Tesla, X), Tim Cook (Apple) und Mark Benioff (Salesforce) befanden. Praktisch die gesamte Crème de la crème der US-Geschäftswelt versammelte sich für den happigen Eintritt von zweitausend Dollar zu diesem Frühstück. Die Stimmung war ausgezeichnet, und der chinesische Gast wurde mit rauschendem Applaus begrüßt und verabschiedet.

Von der Veranstaltung ging ein klares Signal aus: Das amerikanische Big Business will trotz der Spannungen im bilateralen Verhältnis weiter enge Geschäftsbeziehungen mit China pflegen. Einen ähnlichen Eindruck vermittelten im Übrigen die Gespräche zwischen den Staatsoberhäuptern, ob diese nun unter vier Augen oder im Plenum geführt wurden. Nach dem Ende der Gespräche schrieb Joe Biden auf dem Portal X, diese seien „konstruktiv und fruchtbar“ verlaufen. Außenminister Wang Yi bemerkte auf einer Pressekonferenz, man habe in zwanzig Fragen Verständigung erzielt. Das ist allerdings viel. Was wurde vereinbart?

Insbesondere wurde vereinbart, die nach Pelosis Besuch in Taiwan eingefrorenen Kontakte und Absprachen der Militärführungen wieder aufzunehmen und die roten Telefone für den Direktkontakt zwischen den Staatschefs beizubehalten. Das ist wichtig in Zeiten, in denen im Südchinesischen Meer und der Meerenge von Taiwan beide Seiten große Mengen von Schiffen konzentriert haben. So könnte es leicht allein schon durch menschliches Versagen oder einen Unfall zu einem unvorhersehbaren Zwischenfall kommen. Diese Gefahr ist mithin gebannt. Darüber hinaus wurde vereinbart, analoge Absprachen und Konsultationen auch im Hinblick auf Fragen der Schifffahrt zu unternehmen.

Weitere wichtige Vereinbarungen gab es bei der künstlichen Intelligenz. Experten sind der Meinung, wir stünden bereits an der Schwelle, an der die KI unserer Kontrolle entgleiten könnte. Daher ist es umso zwingender, dass die USA und China dazu ins Gespräch kommen. Für die Amerikaner ist zudem wichtig, dass die Chinesen ihren Fentanyl-Export einschränken wollen, der aus China über Mexiko in die USA gelangt und dort für unzählige Todesfälle verantwortlich ist; es ist die Rede von 30.000 Toten allein in diesem Jahr.

Von genereller Bedeutung ist die Vereinbarung, weitere bilaterale Gespräche zum Kampf gegen den Klimawandel zu führen, denn schließlich sind ohne die beiden größten Emittenten von Treibhausgasen alle weiteren Gespräche zu diesem Thema gegenstandslos. Die Chinesen laden 50.000 junge Amerikaner zum Studium nach China ein, während aktuell, nach den Covid-Lockdowns, kaum einige Hundert zum Studium in dem Land sind. Auch wurde angekündigt, die Pandas nicht aus den USA abzuziehen, sondern weitere zu entsenden.

Die Gespräche gingen selbstverständlich ebenso über viele internationale Belange, mehr davon übrigens betreffend den Nahen Osten (den Iran ebenso wie den Gazastreifen) als die Ukraine und Russland. Zu diesem Themenbereich gehört das Thema Taiwan, für die chinesische Delegation sicher das heikelste Thema, das darüber hinaus als innere Angelegenheit betrachtet wird. Hier war der chinesische Standpunkt unverändert unnachgiebig, und Xi sagte Biden glatt ins Gesicht: „China strebt die Wiedervereinigung an, und das ist nicht aufzuhalten.“ Er präzisierte nicht, ob China es bei friedlichen Mitteln belassen werde. Die US-Amerikaner setzen dagegen weiterhin ihre bisherige „strategische Ambivalenz“ fort, das heißt sie bekennen sich weiter formal und rhetorisch zu ihrer Ein-China-Politik, verstärken andererseits aber auch ihre Beziehungen zu Taipeh, darunter ihre militärische Unterstützung für Taiwan.

In jedem Fall handelt es sich dabei um die heikelste Frage der bilateralen Beziehungen, abgesehen von der zunehmenden Rivalität bei Hightech und im Weltraum. Gewissermaßen der Lackmustest, um nicht zu sagen Testballon, könnten die am 13. Januar 2024 anstehenden Wahlen in Taiwan sein. Die taiwanesische Opposition ist bereit zu Gesprächen mit Peking, hatte sich zunächst geschlossen gezeigt, dann aber wieder auseinanderdividiert. Im Anschluss sind alle auf den Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA gespannt, weil immer noch Donald Trump einer der aussichtsreichsten Kandidaten ist. Dies ist vielleicht, oder eher ganz sicher ein zweiter Lackmustest für die „wichtigsten bilateralen Beziehungen weltweit“, und nicht allein deshalb, weil deren Zustand selbstverständlich Auswirkungen für uns alle hat.

Strukturelle Konfrontation

Wieso haben die Spitzengespräche überhaupt stattgefunden? Beide Seiten haben offenkundig ihr je eigenes Kalkül und eigenen Interessen. Die Biden-Administration wollte natürlich bei vielen Themen mit China in ruhigeres Fahrwasser gelangen, zumal der Präsidentschaftswahlkampf schon begonnen hat. Wenn die Chinesen beispielsweise unvermittelt den Handel mit den USA einstellen würden (die beiderseitigen Handelsumsätze betrugen 2022 758 Milliarden Dollar, davon entfielen auf den Import aus China 569 Milliarden Dollar), hätte die Biden-Administration keine Chance, die Wahlen zu gewinnen. Die Chinesen haben noch weitere Druckmittel, und dafür war das ostentative Frühstück mit den amerikanischen CEOs der Beweis.

Andererseits sind die Chinesen ebenso auf die USA angewiesen, denn sie haben im Innern bereits ausreichend viele Probleme. Dazu zählen das rückläufige Wirtschaftswachstum, die Überalterung der Gesellschaft und das Ende der demographischen Dividende, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, Turbulenzen in der aufgeblasenen und nicht völlig kontrollierten Immobilienindustrie, um nur die wichtigsten zu nennen. Bei wechselseitigem Wohlwollen wurde auch beschlossen, diejenigen Themenbereiche wie Handel, Finanzen, Klimawandel, Rüstungskontrolle und Ernährungspolitik auszuwählen, in denen man miteinander sprechen kann und soll.

Wir sollten uns jedoch keinen Illusionen hingeben. Die Konfrontation der beiden Supermächte ist struktureller und damit langfristiger und in Wellen wieder auftretender Art. Der Gipfel in San Francisco markierte einen wünschenswerten Waffenstillstand. Natürlich ist es besser, wenn die zerstrittenen Parteien miteinander sprechen und nicht kämpfen. Zudem betonte Xi, die Erde sei groß genug, um für beide Seiten Platz zu haben. Wir sollten aber Konfuzius’ bekannte Warnung nicht außer Acht lassen: „Es gibt keine zwei Kaiser auf der Erde, so wie es keine zwei Sonnen am Himmel gibt.“ Es gibt einen Waffenstillstand und eine Deeskalation, aber das bedeutet trotz des großen Optimismus von chinesischer Seite aufgrund dieser Begegnung noch nicht, dass die Ära des wechselseitigen Engagements und der fruchtbaren Kooperation wiederkehren wird. Das wäre zu gut, um wahr zu sein.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

Ein Gedanke zu „Waffenstillstand der Titanen“

  1. Ein ausgereifter Beitrag, wie man ihn nicht überall in dieser Offenheit findet. Deswegen ausgereift, weil das aktuelle Verhältnis von USA und China realistisch dargestellt. Wobei die Tendenzen von der Sache her optimistisch stimmen, aber trotzdem Vorsicht geboten ist.

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